GOETHES
S/EMTUCHE WERKE
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GOETHES
NATUP^
WISSENSCHAFTLICHE
SCHRIFTEN
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LEIPZIG
IM INSEL-VERIAG
ZUKFARBENLEHRE
1
ANZEIGE UND ÜBERSICHT
DES GOETHISCHEN WERKES
ZUR FARBENLEHRE
[Tübingen, in der J. G. Cottaschen Buchhandlung. l8lo]
EINEM jeden Autor ist vergönnt, entweder in einer
Vorrede oder in einer Rekapitulation, von seiner Ar-
beit, besonders wenn sie einigermaßen weitläuftig ist,
Rechenschaft zu geben. Auch hat man es in der neuern
Zeit nicht ungemäß gefunden, wenn der Verleger dasjenige,
was der Aufnahme einer Schrift günstig sein könnte, gegen
das Publikum in Gestalt einer Ankündigung äußerte. Nach-
stehendes dürfte wohl in diesem doppelten Sinne gelten.
Dieses, Ihro Durchlaucht der regierenden Herzogin von
Weimar gewidmete Werk beginnt mit einer Einleitung, in
der zuvörderst die Absicht im allgemeinen dargelegt wird.
Sie geht kürzlich dahin, die chromatischen Erscheinungen
in Verbindung mit allen übrigen physischen Phänomenen
zu betrachten, sie besonders mit dem, was uns der Magnet,
der Turmalin gelehrt, was Elektrizität, Galvanismus, che-
mischer Prozeß uns offenbart, in eine Reihe zu stellen und
so durch Terminologie und Methode eine vollkommnere
Einheit des physischen Wissens vorzubereiten. Es soll ge-
zeigt werden, daß bei den Farben, wie bei den übrigen
genannten Naturerscheinungen, ein Hüben und Drüben,
eine Verteilung, eine Vereinigung, ein Gegensatz, eine In-
differenz, kurz eine Polarität statthabe, und zwar in einem
hohen, mannigfaltigen, entschiedenen, belehrenden und
fördernden Sinne. Um unmittelbar zur Sache zu gehen,
so werden Licht und Auge als bekannt und anerkannt an-
genommen.
Das Werk teilt sich in drei Teile, den didaktischen, pole-
mischen und historischen, deren Veranlassung und Zu-
sammenhang mit wenigem angezeigt wird.
Didaktischer Teil
Seit Wiederherstellung der Wissenschalten ergeht an ein-
zelne Forscher und ganze Sozietäten immer die Forderung:
man solle sich treu an die Phänomene halten und eine
Sammlung derselben naturgemäß aufstellen. Die theore-
lo ZUR FARBENLEHRE
tische und praktische Ungeduld des Menschen aber hin-
dert gar oft die Erreichung eines so löblichen Zwecks.
Andere Fächer der Naturwissenschaft sind glücklicher ge-
wesen als die Farbenlehre. Der einigemal wiederholte Ver-
such, die Phänomene zusammenzustellen, hat aus mehreren
Ursachen nicht recht glücken wollen. Was wir in unserm
Entwurf zu leisten gesucht, ist Folgendes.
Daß die Farben auf mancherlei Art und unter ganz ver-
schiedenen Bedingungen erscheinen, ist jedermann auf-
fallend und bekannt. Wir haben die Erfahrungsfälle zu
sichten uns bemüht, sie, insofern es möghch war, zu Ver-
suchen erhoben und unter drei Hauptrubriken geordnet.
Wir betrachten demnach die Farben, unter mehreren Ab-
teilungen, von dQxphysiologischen,physischen und chemischen
Seite.
Die erste Abteilung uTCÄdiQi d\t physiologischen, welche dem
Organ des Auges vorzüglich angehören und durch dessen
Wirkung und Gegenwirkung hervorgebracht werden. Man
kann sie daher auch die subjektiven nennen. Sie sind un-
aufhaltsam flüchtig, schnell verschwindend. Unsere Vor-
fahren schrieben sie dem Zufall, der Phantasie, ja einer
Krankheit des Auges zu und benannten sie darnach. Hier
kommt zuerst das Verhältnis des großen Gegensatzes von
Licht und Finsternis zum Auge in Betrachtung; sodann die
Wirkung heller und dunkler Bilder aufs Auge. Dabei zeigt
sich denn das erste, den Alten schon bekannte Grundgesetz:
durch das Finstere werde das Auge gesammlet, zusammen-
gezogen, durch das Helle hingegen entbunden, ausgedehnt.
Das farbige Abklingen blendender farbloser Bilder wird so-
dann mit seinem Gegensatze vorgetragen; hierauf die Wir-
kung farbiger Bilder, welche gleichfalls ihren Gegensatz
hervorrufen, gezeigt und dabei die Harmonie und Tota-
lität der Farbenerscheinung, als der Angel, auf dem die
ganze Lehre sich bewegt, ein- für allemal ausgesprochen.
Die farbigen Schatten, als merkwürdige Fälle einer solchen
wechselseitigen Forderung, schließen sich an; und durch
schwachwirkende gemäßigte Lichter wird der Übergang
zu den subjektiven Höfen gefunden. Ein Anhang sondert
die nah verwandten pathologischen Farben von den phy-
ANZEIGE UND ÜBERSICHT ii
siologischen; wobei der merkwürdige Fall besonders zur
Sprache kommt, daß einige Menschen gewisse Farben von-
einander nicht unterscheiden können.
Die zweite Abteilung TCiz.chi uns nunmehr mit dtn physischen
Farben bekannt. Wir nannten diejenigen so, zu deren Her-
vorbringung gewisse materielle aber farblose Mittel nötig
sind, die sowohl durchsichtig und durchscheinend als un-
durchsichtig sein können. Diese Farben zeigen sich nun
schon objektiv wie subjektiv, indem wir sie sowohl außer
uns hervorbringen und für Gegenstände ansprechen, als
auch dem Auge zugehörig und in demselben hervorgebracht
annehmen. Sie müssen als vorübergehend, nicht festzu-
haltend angesehen werden und heißen deswegen apparente,
flüchtige, falsche, wechselnde Farben. Sie schließen sich
unmittelbar an die physiologischen an und scheinen nur
um einen geringen Grad mehr Realität zu haben.
Hier werden nun die dioptrischen Farben, in zwei Klassen
geteilt, aufgeführt. Die erste enthält jene höchst wichtigen
Phänomene, wenn das Licht durch trübe Mittel fällt, oder
wenn das Auge durch solche hindurchsieht. Diese weisen
uns auf eine der großen Naturmaximen hin, auf ein Ur-
phänomen, woraus eine Menge von Farbenerscheinungen,
besonders die atmosphärischen, abzuleiten sind. In der
zweiten Klasse werden die Refraktionsfälle erst subjektiv,
dann objektiv durchgeführt und dabei unwidersprechlich
gezeigt: daß kein farbloses Licht, von welcher Art es auch
sei, durch Refraktion eine Farbenerscheinung hervorbringe,
wenn dasselbe nicht begrenzt, nicht in ein Bild verwan-
delt worden. So bringt die Sonne das prismatische Far-
benbild nur insofern hervor, als sie selbst ein begrenztes
leuchtendes und wirksames Bild ist. Jede weiße Scheibe
auf schwarzem Grund leistet subjektiv dieselbe Wirkung.
Hieraufwendet man sich zw. Atn paroptischenY^x\tQ.n. So
heißen diejenigen, welche entstehen, wenn das Licht an
einem undurchsichtigen farblosen Körper herstrahlt; sie
wurden bisher einer Beugung desselben zugeschrieben.
Auch in diesem Falle finden wir, wie bei den vorhergehen-
den, eine Randerscheinung, und sind nicht abgeneigt, hier
gleichfalls farbige Schatten und Doppelbilder zu erblicken.
12 ZUR FARBENLEHRE
Doch bleibt dieses Kapitel weiterer Unterst^chung aus-
gesetzt.
Die epoptischenYüxh^n dagegen sind ausführlicher und be-
friedigender behandelt. Es sind solche, die auf der Ober-
fläche eines farblosen Körpers durch verschiedenen Anlaß
erregt, ohne Mitteilung von außen, für sich selbst ent-
springen. Sie werden von ihrer leisesten Erscheinung bis
zu ihrer hartnäckigsten Dauer verfolgt, und so gelangen
wir zu
Der dritten Abteilung, welche die chemischen Farben ent-
hält. Der chemische Gegensatz wird unter der älteren
Formel von Acidum und Alkali ausgesprochen, und der
dadurch entspringende chromatische Gegensatz an Kör-
pern eingeleitet. Auf die Entstehung des Weißen und
Schwarzen wird hingedeutet; dann vonErregung der Farbe,
Steigerung und Kulmination derselben, dann von ihrem
Hin- und Wiederschwanken, nicht weniger von dem Durch -
wandern des ganzen Farbenkreises gesprochen; ihre Um-
kehrung und endliche Fixation, ihre Mischung und Mit-
teilung, sowohl die wirkliche als scheinbare, betrachtet,
und mit ihrer Entziehung geschlossen. Nach einem kurzen
Bedenken über Farbennomenklatur wird angedeutet, wie
aus diesen gegebenen Ansichten sowohl unorganische als
organi scheNaturkörper zu betrachten und nach ihre nFarbe -
äußerungen zu beurteilen sein möchten. Physische und
chemische Wirkung farbiger Beleuchtung, ingleichen die
chemische Wirkung bei der dioptrischen Achromasie, zwei
höchst wichtige Kapitel, machen den Beschluß. Die che-
mischen Farben können wir uns nun objektiv als den Gegen-
ständen angehörig denken. Sie heißen sonst Colores proprii,
materiales, veri, permanentes, und verdienen wohl diesen
Namen, denn sie sind bis zur spätesten Dauer festzu-
halten.
Nachdem wir dergestalt zum Behuf unsers didaktischen
Vortrages die Erscheinungen möglichst auseinander gehal-
ten, gelang es uns doch durch eine solche naturgemäße
Ordnung sie zugleich in einer stetigen Reihe darzustellen,
die flüchtigen mit den verweilenden und diese wieder mit
den dauernden zu verknüpfen und so die erst sorgfältig
ANZEIGE UND ÜBERSICHT 13
gezogenen Abteilungen für ein höheres Anschaun wieder
aufzuheben.
In einer vierten Abteilung haben wir, was bis dahin von den
Farben unter mannigfaltigen besondern Bedingungen be-
merkt worden, im allgemeinen ausgesprochen, und dadurch
eigentlich den Abriß einer künftigen Farbenlehre ent-
worfen.
In der fünften Abteilung werden die nachbarlichen Ver-
hältnisse dargestellt, in welchen unsere Farbenlehre mit
dem übrigen Wissen, Tun und Treiben zu stehen wünschte.
Den Philosophen, den Arzt, den Physiker, den Chemiker,
den Mathematiker, den Techniker laden wir ein, an un-
serer Arbeit teilzunehmen und unser Bemühen, die Far-
benlehre dem Kreis der übrigen Naturerscheinungen ein-
zuverleiben, von ihrer Seite zu begünstigen.
Die sechste Abteilung ist der sinnlich-sittlichen Wirkung
der Farbe gewidmet, woraus zuletzt die ästhetische her-
vorgeht. Hier treffen wir auf den Maler, dem zuliebe
eigenthch wir uns in diesesFeld gewagt, und so schließt sich
das Farbenreich in sich selbst ab, indem wir wieder auf
die physiologischen Farben und auf die naturgemäße Har-
monie der sich einander fordernden, der sich gegenseitig
entsprechenden Farben gewiesen werden.
Polemischer Teil
Die Naturforscher der altern und mittlem Zeit hatten, un-
geachtet ihrer beschränkten Erfahrung, doch einen freien
Blick über die mannigfaltigenFarbenphänomene und waren
auf dem Wege, eine vollständige und zulängliche Samm-
lung derselben aufzustellen. Die seit einem Jahrhundert
herrschende Newtonische Theorie hingegen gründete sich
auf einen beschränkten Fall und bevorteilte alle die übri-
gen Erscheinungen um ihre Rechte, in welche wir sie durch
unsern Entwurf wieder einzusetzen getrachtet. Dieses war
nötig, wenn wir die hypothetische Verzerrung so vieler
herrlichen und erfreulichen Naturphänomene wieder ins
gleiche bringen wollten. Wir konnten nunmehr mit desto
größerer Sicherheit an die Kontrovers gehn, welche wir,
ob sie gleich auf verschiedene Weise hätte eingeleitet
14 ZUR FARBENLEHRE
werden können, nach Maßgabe der Newtonischen Optik
führen, indem wir diese Schritt vor Schritt polemisch ver-
folgen und das Irrtumsgespinst, das sie enthält, zu ent-
wirren und aufzulösen suchen.
Wir halten es rätlich, mit wenigem anzugeben, wie sich
unsere Ansicht, besonders des beschränkten Refraktions-
falles, von derjenigen unterscheide, welche Newton ge-
faßt und die sich durch ihn über die gelehrte und unge-
lehrte Welt verbreitet hat.
Newton behauptet, in dem weißen farblosen Lichte über-
all, besonders aber in dem Sonnenlicht, seien mehrere
verschiedenfarbige Lichter wirklich enthalten, deren Zu-
sammensetzung das weiße Licht hervorbringe. Damit nun
diese bunten Lichter zum Vorschein kommen sollen, setzt
er dem weißen Licht gar mancherlei Bedingungen ent-
gegen: vorzüglich brechende Mittel, welche das Licht von
seiner Bahn ablenken; aber diese nicht in einfacher Vor-
richtung. Er gibt den brechenden Mitteln allerlei Formen,
den Raum, in dem er operiert, richtet er auf mannigfaltige
Weise ein; er beschränkt das Licht durch kleine Öffnungen,
durch winzige Spalten, und nachdem er es auf hunderterlei
Art in die Enge gebracht, behauptet er: alle diese Be-
dingungen hätten keinen andern Einfluß, als die Eigen-
schaften, die Fertigkeiten des Lichts rege zu machen, so
daß sein Inneres aufgeschlossen und sein Inhalt offenbart
werde.
Die Lehre dagegen, die wir mit Überzeugung aufstellen,
beginnt zwar auch mit dem farblosen Lichte, sie bedient
sich auch äußerer Bedingungen, um farbige Erscheinungen
hervorzubringen; sie gesteht aber diesen Bedingungen
Wert und Würde zu. Sie maßt sich nicht an, Farben aus
dem Licht zu entwickeln, sie sucht vielmehr durch un-
zählige Fälle darzutun, daß die Farbe zugleich von dem
Lichte und von dem, was sich ihm entgegenstellt, hervor-
gebracht werde.
Also, um bei dem Refraktionsfalle zu verweilen, auf wel-
chem sich die Newtonische Theorie doch eigentlich gründet,
so ist es keineswegs die Brechung allein, welchedie Farben-
erscheinung verursacht; vielmehr bleibt eine zweite Be-
ANZEIGE UND ÜBERSICHT 1 5
dingung unerläßlich, daß nämlich die Brechung auf ein
Bild wirke und ein solches von der Stelle wegrücke. Ein
Bild entsteht nur durch Grenzen; und diese Grenzen über-
sieht Newton ganz, ja er leugnet ihren Einfluß. Wir aber
schreiben dem Bilde sowohl als seiner Umgebung, der
Fläche sowohl als der Grenze, der Tätigkeit sowohl als
der Schranke, vollkommen gleichen Einfluß zu. Es ist
nichts anders als eine Randerscheinung, und keines Bildes
Mitte wird farbig, als insofern die farbigen Ränder sich be-
rühren oder übergreifen. Alle Versuche stimmen uns bei.
Je mehr wir sie vermannigfaltigen, desto mehr wird aus-
gesprochen, was wir behaupten, desto planer und klarer
wird die Sache, desto leichter wird es uns, mit diesem
Faden an der Hand, auch durch die polemischen Laby-
rinthe mit Heiterkeit und Bequemlichkeit hindurchzukom-
men. Ja wir wünschen nichts mehr, als daß der Menschen-
verstand, von den wahren Naturverhältnissen, auf die wir
immer dringend zurückkehren, geschwind überzeugt, un-
sern polemischen Teil, an welchem freilich noch manches
nachzuholen und schärfer zu bestimmen wäre, bald für
überflüssig erklären möge.
Historischer Teil
War es uns in dem didaktischen Entwürfe schwer ge-
worden, die Farbenlehre oder Chromatik, in der es übri-
gens wenig oder nichts zu messen gibt, von der Lehre
des natürlichen und künstlichen Sehens, der eigentlichen
Optik, worin die Meßkunst großen Beistand leistet, mög-
lichst zu trennen und sie für sich zu betrachten, so be-
gegnen wir dieser Schwierigkeit abermals in dem histori-
schen Teile, da alles, was uns aus älterer und neuerer Zeit
über die Farben berichtet worden, sich durch die ganze
Naturlehre und besonders durch die Optik gleichsam nur
gelegentlich durchschmiegt und für sich beinahe niemals
Masse bildet. Was wir daher auch sammelten und zu-
sammenstellten, blieb allzusehr Bruchwerk, als daß es
leicht hätte zu einer Geschichte verarbeitet werden kön-
nen, wozu uns überhaupt in der letzten Zeit die Ruhe
nicht gegönnt war. Wir entschlossen uns daher, das Ge-
i6 ■ ZUR FARBENLEHRE
sammelte als Materialien hinzulegen und sie nur durch
Stellung und durch Zwischenbetrachtungen einigermaßen
zu verknüpfen.
In diesem dritten Teile also macht uns, nach einem kurzen
Überbhck der Urzeit, die erste Abteilung mit dem bekannt,
was die Griechen, von Pythagoras an bis Aristoteles^ über
Farben geäußert, welches auszugsweise übersetzt gegeben
wird; sodann aber Theophrasts Büchlein von den Farben in
vollständiger Übersetzung. Dieser ist eine kurze Abhand-
lung über die Versatilität der griechischen und lateinischen
Farbenbenennungen beigefügt.
Die Z7veite Abteilung läßt uns einiges von den Römern er-
fahren. Die Hauptstelle des Lucretius ist nach Herrn von
Knebels Übersetzung mitgeteilt, und anstatt uns bei dem
Texte des Plinius aufzuhalten, liefern wir eine Geschichte
des Kolorits der alten Maler, verfaßt von Herrn Hofrat
Meyer. Sie wird hypothetisch genannt, weil sie nicht so-
wohl auf Denkmäler als auf die Natur des Menschen und
denKunstgang, den derselbebeifreier Entwicklungnehmen
muß, gegründet ist. Betrachtungen über Farbenlehre und
Farbenbehandlungen der Alten folgen hierauf, welche zei-
gen, daß diese mit dem Fundament und den bedeutendsten
Erscheinungen derFarbenlehre bekannt und auf einemWege
gewesen, welcher, von den Nachfolgern betreten, früher
zum Ziele geführt hätte. Ein kurzer Nachtrag enthält einiges
über Seneca. An dieser Stelle ist es nun Pflicht des Ver-
fassers, dankbar zu bekennen, wie sehr ihm bei Bearbei-
tung dieser Epochen sowohl als überhaupt des ganzen
Werkes die einsichtigeTeilnahme eines mehrjährigen Haus-
freundes und Studiengenossen, Herrn Dr. Riemers^ förder-
hch und behülflich gewesen.
In der dritten Abteilung wird von jener traurigen Zwischen-
zeit gesprochen, in welcher die Welt der Barbarei unter-
legen. Hier tritt vorzüglich die Betrachtung ein, daß, nach
Zerstörung einer großen Vorwelt, die Trümmer, welche
sich in die neue Zeit hinüber retten, nicht als ein Leben-
diges, Eignes, sondern als ein Fremdes, Totes wirken, und
daß Buchstabe und Wort mehr als Sinn und Geist be-
trachtet werden. Die drei großen Hauptmassen der Über-
ANZEIGE UND ÜBERSICHT 17
lieferung, die Werke des Aristoteles, des F/ato und die Bidet,
treten heraus. Wie die Autorität sich festsetzt, wird dar-
getan. Doch wie das Genie immer wieder geboren wird,
wieder hervordringt und bei einigermaßen günstigen Um-
ständen lebendig wirkt, so erscheint auch sogleich am Rande
einer solchen dunkeln Zeit Roger Bacon, eine der reinsten,
liebenswürdigsten Gestalten, von denen uns in der Ge-
schichte der Wissenschaften Kunde geworden. Nur weniges
indessen, was sich auf Farbe bezieht, finden wir bei ihm
sowie bei einigen Kirchenvätern, und die Naturwissen-
schaft wird, wie manches andere, durch die Lust am Ge-
heimnis obskuriert.
Dagegen gewährt uns die vierte Abteilung einen heitern
Blick in das sechzehnte Jahrhundert, Durch alte Literatur
und Sprachkunde sehen wir auch die Farbenlehre beför-
dert. Das Büchlein von Thylesius von den Farben findet
man in der Ursprache abgedruckt. Portius erscheint als
Herausgeber und Übersetzer des Theophrastischen Aui-
satzes. Scaliger bemüht sich auf ebendiesem Wege um
die Farbenbenennungen. Paracelsus tritt ein und gibt den
ersten Wink zur Einsicht in die chemischen Farben. Durch
Alchymisten wird nichts gefördert. Nun bietet sich die Be-
trachtung dar, daß, je mehr die Menschen selbsttätig wer-
den und neue Naturverhältnisse entdecken, das Überheferte
an seiner Gültigkeit verliere und seine Autorität nach und
nach unscheinbar werde. Die theoretischen und prakti-
schen Bemühungen des Telesius, Cardanus, Porta für die
Naturlehre werden gerühmt. Der menschliche Geist wird
immer freier, unduldsamer, selbst gegen notwendiges und
nützliches Lernen, und ein solches Bestreben geht so weit,
daß Baco von Verulam sich erkühnt, über alles, was bis-
her auf der Tafel des Wissens verzeichnet gestanden, mit
dem Schwämme hinzufahren.
In dtv ßinften Abteilung zu Anfang des siebzehnten Jahr-
hunderts trösten uns jedoch über ein solches Schrift-stür-
mendes Beginnen Galilei und Kepler, zwei wahrhaft auf-
erbauende Männer. Von dieser Zeit an wird auch unser Feld
mehr angebaut. Snellius entdeckt die Gesetze der Brechung,
und Antonius de Dotninis tut einen großen Schritt zur Er-
GOETHE XVII 2.
i8 ZUR FARBENLEHRE
klärung des Regenbogens. Aguilonius ist der erste, der
das Kapitel von den Farben ausführlich behandelt, da sie
Cartesius neben den übrigen Naturerscheinungen aus Ma-
terialitäten und Rotationen entstehen läßt. Kircher liefert
ein Werk, die große Kunst des Lichtes und Schattens,
und deutet schon durch diesen ausgesprochnen Gegensatz
auf die rechte Weise, die Farben abzuleiten. Marcus Marci
dagegen behandelt diese Materie abstrus und ohne Vor-
teil für die Wissenschaft. Eine neue, schon früher vorbe-
reitete Epoche tritt nunmehr ein. Die Vorstellungsart von
der Materialität des Lichtes nimmt überhand. Dela Chambre
und Vossius haben schon dunkle Lichter in dem hellen.
Grimaldi zerrt, quetscht, zerreißt, zersplittert das Licht,
um ihm Farben abzugewinnen. Boyk läßt es von den ver-
schiedenen Facetten und Rauhigkeiten der Oberfläche
widerstrahlen und auf diesem Wege die Farben erscheinen.
Hooke ist geistreich, aber paradox. Bei Malebranche wer-
den die Farben dem Schall verglichen, wie immer auf dem
Wege der Schwingungslehre. Sturm kompiliert und eklek-
tisiert; aber Funccius, durch Betrachtung der atmosphäri-
schen Erscheinungen an der Natur festgehalten, kommt
demRechten ganz nahe, ohne doch durchzudringen. Nuguet
ist der erste, der die prismatischen Erscheinungen richtig
ableitet. Sein System wird mitgeteilt und seine wahren
Einsichten von den falschen und unzulänglichen geson-
dert. Zum Schluß dieser Abteilung wird die Geschichte
des Kolorits seit Wiederherstellung der Kunst bis auf unsere
Zeit, gleichfalls von Herrn Hofrat Meyer, vorgetragen.
Die sechste Abteilung ist dem achtzehnten Jahrhundert ge-
widmet, und wir treten sogleich in die merkwürdige Epoche
von Newton bis auf Dollond. Die Londoner Sozietät, als
eine bedeutende Versammlung von Naturfreunden des
Augenblicks, zieht alle unsere Aufmerksamkeit an sich.
Mit ihrer Geschichte machen uns bekannt Sprat, Birch
und die Transaktionen. Diesen Hülfsmitteln zufolge wird
von den ungewissen Anfängen der Sozietät, von den frühern
und spätem Zuständen der Naturwissenschaft in England,
vonden äußernVorteilen derGesellschaft, von den Mängeln,
die in ihr selbst, in der Umgebung und in der Zeit liegen,
ANZEIGE UND ÜBERSICHT 19
gehandelt. Hooke erscheint als geistreicher, unterrichteter,
geschäftiger, aber zugleich eigen vvilhger, unduldsamer, un-
ordentlicher Sekretär und Experimentator. Neivton tritt
auf. Dokumente seiner Theorie der Farben sind die lec~
tiones opticae, ein Brief an Oldenburg, den Sekretär der
Londoner Sozietät; femer die Optik. Newtons Verhältnis
zur Sozietät wird gezeigt. Eigentlich meldet er sich zuerst
durch sein katoptrisches Teleskop an. Von der Theorie ist
nur beiläufig die Rede, um die Unmöghchkeit der Ver-
besserung dioptrischer Fernröhre zu zeigen und seiner Vor-
richtung einen größern Wert beizulegen. Obgedachter Brief
erregt die ersten Gegner Newtons, denen er selbst ant-
wortet. Dieser Brief sowohl als die ersten Kontroversen
sind in ihren Hauptpunkten ausgezogen und der Grund-
fehler Newtons aufgedeckt, daß er die äußern Bedingungen,
welche nicht aus dem Licht, sondern an dem Licht die
Farben hervorbringen, übereilt beseitigt und dadurch so-
wohl sich als andere in einen beinah unauflöslichen Irr-
tum verwickelt. Mariotte faßt ein ganz richtiges Apergu
gegen Newton, worauf wenig geachtet wird. Desaguliers,
Experimentator von Metier, experimentiert und argumen-
tiert gegen den schon Verstorbenen. Sogleich tritt Rizzetti
mit mehrerem Aufwand gegen Newton hervor; aber auch
ihn treibt Desaguliers aus den Schranken, welchem Gauger
als Schildknappe beiläuft. Newtons Persönhchkeit wird ge-
schildert und eine ethische Auflösung des Problems ver-
sucht: wie ein so außerordentlicher Mann sich in einem
solchen Grade irren, seinen Irrtum bis an sein Ende mit
Neigung, Fleiß, Hartnäckigkeit, trotz aller äußeren und
inneren Warnungen, bearbeiten und befestigen und so viel
vorzüghche Menschen mit sich fortreißen können. Die
ersten Schüler und Bekenner Newtons werden genannt.
Unter den Ausländern sind ^ Gravesande und Musschen-
broek bedeutend.
Nun wendet man den Blick zur französischen Akademie
der Wissenschaften. In ihren Verhandlungen wird Mariottes
mit Ehren gedacht. De la Hire erkennt die Entstehung des
Blauen vollkommen, des Gelben und Roten weniger. Con-
radi, einDeutscher, erkennt den Ursprung desBlauen eben-
2 0 ZUR FARBENLEHRE
falls. Die Schwingungen des Malebranche fördern die Far-
benlehre nicht, so wenig als die fleißigen Arbeiten Mairans,
der auf Newtons Wege das prismatische Bild mit den Ton-
intervallen parallelisieren will. Folignac, Gönner und Lieb-
haber, beschäftigt sich mit der Sache und tritt der New-
tonischen Lehre bei. Literatoren, Lobredner, Schöngeister,
Auszügler und Gemeinmacher, Fontenelle^ Voltaire, Alga-
rotti und andere, geben vor der Menge den Ausschlag für
die Newtonische Lehre, wozu die Anglomanie der Fran-
zosen und übrigen Völker nicht wenig beiträgt.
Indessen gehn die Chemiker und Farbkünstler immer ihren
Weg. Sie verwerfen jene größere Anzahl von Grundfarben
und wollen von dem Unterschiede der Grund- und Haupt-
farben nichts wissen. Dufay und Castel beharren auf der
einfacheren Ansicht; letzterer widersetzt sich mit Gewalt
der Newtonischen Lehre, wird aber überschrieen und ver-
schrieen. Der farbige Abdruck von Kupferplatten wird ge-
übt. Le Blond und Gauthier machen sich hierdurch be-
kannt. Letzterer, ein heftiger Gegner Newtons, trifft den
rechten Punkt der Kontrovers und führt sie gründlich durch.
Gewisse Mängel seinesVortrags, die Ungunst der Akademie
und die öflfentliche Meinung widersetzen sich ihm, und seine
Bemühungen bleiben fruchtlos. Nach einem Blicke auf die
deutsche große und tätige Welt wird dasjenige, was in der
deutschen gelehrten Welt vorgegangen, aus den physikali-
schen Kompendien kürzlich angemerkt, und die Newtoni-
sche Theorie erscheint zuletzt als allgemeine Konfession.
Von Zeit zu Zeit regt sich wieder der Menschenverstand.
Tobias Mayer erklärt sich für die drei Grund- und Haupt-
farben, nimmt gewisse Pigmente als ihre Repräsentanten
an und berechnet ihre möglichen unterscheidbaren Mi-
schungen. Zaw^<?r/gehtaufdemselben Wege weiter. Außer
diesen begegnet uns noch eine freundhche Erscheinung.
Scherffer beobachtet die sogenannten Scheinfarben, sam-
melt und rezensiert die Bemühungen seiner Vorgänger.
Franklin wird gleichfalls aufmerksam auf diese Farben, die
wir unter die physiologischen zählen.
Die zweite Epoche des achtzehnten Jahrhunderts von Dol-
lond bis auf unsere Zeit hat einen eigenen Charakter. Sie
ANZEIGE UND ÜBERSICHT 2 1
trennt sich in zwei Hauptmassen. Die erste ist um die Ent-
deckung der Achromasie, teils theoretisch teils praktisch,
beschäftigt, jene Erfahrung nämlich, daß man die prisma-
tische Farbenerscheinung aufheben und die Brechung bei-
behalten, die Brechung aufheben und die Farbenerschei-
nung behalten könne. Die dioptrischen Fernröhre werden
gegen das bisherige Vorurteil verbessert, und die New-
tonische Lehre periklitiert in ihrem Innersten. Erst leugnet
man die Möglichkeit der Entdeckung, weil sie der her-
gebrachtenTheorie unmittelbar widerspreche; dann schließt
man sie durch das Wort Zerstreuung an die bisherige Lehre,
die auch nur aus Worten bestand. Priestleys Geschichte der
Optik, durch Wiederholung des Alten, durch Akkomodation
des Neuen, trägt sehr viel zur Aufrechterhaltung der Lehre
bei. Frisi^ ein geschickter Lobredner, spricht von der New-
tonischen Lehre, als wenn sie nicht erschüttert worden
wäre. Klügelj der Übersetzer Priestleys, durch mancher-
lei Warnung und Hindeutung aufs Rechte, macht sich bei
den Nachkommen Ehre; allein weil er die Sache läßlich
nimmt und, seiner Natur, auch wohl den Umständen nach,
nicht derb auftreten will, so bleiben seine Überzeugungen
für die Gegenwart verloren.
Wenden wir uns zur andern Masse. Die Newtonische Lehre,
wie früher die Dialektik, hatte die Geister unterdrückt. Zu
einer Zeit, da man alle frühere Autorität weggeworfen,
hatte sich diese neue Autorität abermals der Schulen be-
mächtigt. Jetzt aber ward sie durch Entdeckung der Achro-
masie erschüttert. Einzelne Menschen fingen an den Natur-
weg einzuschlagen, und es bereitete sich, da jeder aus
einseitigem Standpunkte das Ganze übersehen, sich von
Newton losmachen oder wenigstens mit ihm einen Ver-
gleich eingehen wollte, eine Art von Anarchie, in welcher
sich jeder selbst konstituierte und, so eng oder so weit als
es gehen mochte, mit seinen Bemühungen zu wirken trach-
tete. Westfeld hofi"te die Farben durch eine gradative Wär-
mewirkung auf die Netzhaut zu erklären. Guyot sprach, bei
Gelegenheit eines physikalischen Spielwerks, die Unhalt-
barkeit der Newtonischen Theorie aus. Mauclerc kam auf
die Betrachtung, inwiefern Pigmente einander an Ergiebig-
2 2 ZUR FARBENLEHRE
keit balancieren. Marat, der gewahr wurde, daß die prisma-
tische Erscheinung nur eine Randerscheinung sei, verband
die paroptischen Fälle mit dem Refraktionsfalle. Weil er
aber bei dem Newtonischen Resultat blieb und zugab, daß
die Farben aus dem Licht hervorgelockt würden, so hatten
seine Bemühungen keine Wirkung. Ein französischer Un-
genatinter beschäftigte sich emsig und treulich mit den
farbigenSchatten, gelangte aber nicht zumWort des Rätsels.
Carvalho, ein Maltheserritter, wird gleichfalls zufällig far-
bige Schatten gewahr und baut auf wenige Erfahrungen
eine wunderhche Theorie auf. Darwhi beobachtet die
Scheinfarben mit Aufmerksamkeit und Treue; da er aber
alles durch mehr und mindern Reiz abtun und die Phä-
nomene zuletzt, wie Scherffer, auf die Newtonische Theorie
reduzieren will, so kann er nicht zum Ziel gelangen. Mengs
spricht mit zartem Künstlersinn von den harmonischen
Farben, welches eben die, nach unserer Lehre, physio-
logisch geforderten sind. Gülich, ein Färbekünstler, sieht
ein, was in seiner Technik durch den chemischen Gegen-
satz von Acidum und Alkali zu leisten ist; allein bei dem
Mangel an gelehrter und philosophischer Kultur kann er
weder den Widerspruch, in dem er sich mit der Newtoni-
schen Lehre befindet, lösen, noch mit seinen eigenen
theoretischen Ansichten ins reine kommen. D e laval rasichl
auf die dunkle schattenhafte Natur der Farbe aufmerksam,
vermag aber weder durch Versuche, noch Methode, noch
Vortrag, an denen freilich manches auszusetzen ist, keine
Wirkung hervorzubringen. Hoffmann möchte die malerische
Harmonie durch die musikalische deutlich machen und
einer durch die andere aufhelfen. Natürlich gelingt es ihm
nicht, und bei manchen schönen Verdiensten ist er wie sein
Buch verschollen. Blair erneuert die Zweifel gegen Achro-
masie, welche wenigstens nicht durch Verbindung zweier
Mittel soll hervorgebracht werden können; er verlangt
mehrere dazu. Seine Versuche an verschiedenen, die Farbe
sehr erhöhenden Flüssigkeiten sind aller Aufmerksamkeit
wert; da er aber zu Erläuterungen derselben die detestable
Newtonische Theorie kümmerlich modifiziert anwendet, so
wird seine Darstellung höchst verworren, und seine Be-
ANZEIGE UND ÜBERSICHT 23
mühungen scheinen keine praktischen Folgen gehabt zu
haben.
Zuletzt nun glaubte der Verfasser des Werks, nachdem er
so viel über andere gesprochen, auch eine Konfession über
sich selbst schuldig zu sein; und er gesteht, auf welchem
Wege er in dieses Feld gekommen, wie er erst zu einzelnen
Wahrnehmungen und nach und nach zu einem vollstän-
digem Wissen gelangt, wie er sich das Anschauen der Ver-
suche selbst zuwege gebracht und gewisse theoretische
Überzeugungen darauf gegründet; wie diese Beschäftigung
sich zu seinem übrigen Lebensgange, besonders aber zu
seinem Anteil an bildender Kunst verhalte, wird dadurch
begreiflich. Eine Erklärung über das in den letzten Jahr-
zehnten für die Farbenlehre Geschehene lehnt er ab, lie-
fert aber zum Ersatz eine Abhandlung über den von Her-
schein wieder angeregten Punkt, die Wirkung farbiger Be-
leuchtung betrefifend, in welcher Herr Dr. Seebeck zu Jena
aus seinem unschätzbaren Vorrat chromatischer Erfah-
rungen das Zuverlässigste und Bewährteste zusammen-
gestellt hat. Sie mag zugleich als ein Beispiel dienen, wie
durch Verbindung von Übereindenkenden, in gleichem
SinneFortarbeitendendashieunddaSkizzen-undLücken-
hafte unseres Entwurfs ausgeführt und ergänzt werden kön-
ne, um die Farbenlehre einer gewünschten Vollständigkeit
und endlichem Abschluß immer näher zu bringen.
Anstatt des letzten supplementären Teils folgt voritzt eine
Entschuldigung, sowie Zusage, denselben baldmöglichst
nachzuliefern: wie denn vorläufig das darin zu Ejrwartende
angedeutet wird.
Übrigens findet man bei jedem Teile ein Inhaltsverzeich-
nis und am Ende des letzten, zu bequemerem Gebrauch
eines so komplizierten Ganzen, Namen- und Sachregister.
Gegenwärtige Anzeige kann als Rekapitulation des ganzen
Werks sowohl Freunden als Widersachern zum Leitfaden
dienen.
Ein Heft mit sechzehn Kupfertafeln und deren Erklärung
ist dem Ganzen beigegeben.
[WIDMUNG DER FARBENLEHRE]
[Zur Farbenlehre. Erster Band. 1810]
DER DURCHLAUCHTIGSTEN HERZOGIN
UND FRAUEN
LUISEN
REGIERENDEN HERZOGIN VON SACHSEN-WEIMAR
UND EISENACH
Durchlauchtigste Herzogin^
Gnädigste Frau!
WÄRE der Inhalt des gegenwärtigen Werkes
auch nicht durchaus geeignet, Ew. Durchlaucht
vorgelegt zu werden, könnte die Behandlung
des' Gegebenen bei schärferer Prüfung kaum genugtun,
so gehören doch diese Bände Ew. Durchlaucht ganz eigent-
lich an und sind seit ihrer früheren Entstehung Höchst-
denenselben gewidmet geblieben.
Denn hätten Ew. Durchlaucht nicht die Gnade gehabt,
über die Farbenlehre sowie über verwandte Naturerschei-
nungen einem mündlichen Vortrag Ihre Aufmerksamkeit
zu schenken, so hätte ich mich wohl schwerlich imstande
gefunden, mir selbst manches klarzumachen, manches Aus-
einanderliegende zusammenzufassen und meine Arbeit, wo
nicht zu vollenden, doch wenigstens abzuschließen.
Wenn es bei einem mündlichen Vortrage möglich wird,
die Phänomene sogleich vor Augen zu bringen, manches
in verschiedenen Rücksichten wiederkehrend darzustellen,
so ist dieses freilich ein großer Vorteil, welchen das ge-
schriebene, das gedruckte Blatt vermißt. Möge jedoch
dasjenige, was auf dem Papier mitgeteilt werden konnte,
Höchstdieselben zu einigem Wohlgefallen an jene Stunden
erinnern, die mir unvergeßlich bleiben, so wie mir un-
unterbrochen alles das mannigfaltige Gute vorschwebt,
das ich seit längerer Zeit und in den bedeutendsten Augen-
blicken meines Lebens mit und vor vielen andern Ew.
Durchlaucht verdanke!
Mit innigster Verehrung mich unterzeichnend
Ew. Durchlaucht
untertänigster
Weimar, den 30. Januar 1808. J- W. v. Goethe.
VORWORT
[ZUR FARBENLEHRE]
OB man nicht, indem von den Farben gesprochen
werden soll, vor allen Dingen des Lichtes zu er-
wähnen habe, ist eine ganz natürliche Frage, auf
die wir jedoch nur kurz und aufrichtig erwidern: es scheine
bedenklich, da bisher schon so viel und mancherlei von
dem Lichte gesagt worden, das Gesagte zu wiederholen
oder das oft Wiederholte zu vermehren.
Denn eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen
eines Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir ge-
wahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen
umfaßte wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges. Ver-
gebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen
zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine
Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns
entgegentreten.
Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden. In
diesem Sinne können wir von denselben Aufschlüsse über
das Licht erwarten. Farben und Licht stehen zwar unter-
einander in dem genausten Verhältnis, aber wir müssen
uns beide als der ganzen Natur angehörig denken: denn
sie ist es ganz, die sich dadurch dem Sinne des Auges
besonders ofifenbaren will.
Ebenso entdeckt sich die ganze Natur einem anderen
Sinne. Man schließe das Auge, man öffne, man schärfe
das Ohr, und vom leisesten Hauch bis zum wildesten Ge-
räusch, vom einfachsten Klang bis zur höchsten Zusammen-
stimmung, von dem heftigsten leidenschaftlichen Schrei
bis zum sanftesten Worte der Vernunft ist es nur die Natur,
die spricht, ihr Dasein, ihre Kraft, ihr Leben und ihre
Verhältnisse offenbart, so daß ein Blinder, dem das un-
endlich Sichtbare versagt ist, im Hörbaren ein unendlich
Lebendiges fassen kann.
So spricht die Natur hinabwärts zu andern Sinnen, zu
bekannten, verkannten, unbekannten Sinnen; so spricht
sie mit sich selbst und zu uns durch tausend Erscheinungen.
Dem Aufmerksamen ist sie nirgends tot noch stumm; ja
dem starren Erdkörper hat sie einen Vertrauten zugegeben,
2 6 ZUR FARBENLEHRE
ein Metall, an dessen kleinsten Teilen wir dasjenige, was
in der ganzen Masse vorgeht, gewahr werden sollten.
So mannigfaltig, so verwickelt und unverständHch uns oft
diese Sprache scheinen mag, so bleiben doch ihre Ele-
mente immer dieselbigen. Mit leisem Gewicht und Gegen-
gewicht wägt sich die Natur hin und her, und so entsteht ein
Hüben und Drüben, ein Oben und Unten, ein Zuvor und
Hernach, wodurch alle die Erscheinungen bedingt werden,
die uns im Raum und in der Zeit entgegentreten.
Diese allgemeinenBewegungenundBestimmungen werden
wir auf die verschiedenste Weise gewahr, bald als ein ein-
faches Abstoßen und Anziehen, bald als ein aufblickendes
und verschwindendes Licht, als Bewegung der Luft, als
Erschütterung des Körpers, als Säurung und Entsäurung,
jedoch immer als verbindend oder trennend, das Dasein
bewegend und irgendeine Art von Leben befördernd.
Indem man aber jenes Gewicht und Gegengewicht von
ungleicher Wirkung zu finden glaubt, so hat man auch
dieses Verhältnis zu bezeichnen versucht. Man hat ein
Mehr oder Weniger, ein Wirken, ein Widerstreben, ein
Tun, ein Leiden, ein Vordringendes, ein Zurückhaltendes,
ein Heftiges, ein Mäßigendes, ein Männliches, ein Weib-
liches überall bemerkt und genannt, und so entsteht eine
Sprache, eine Symbolik, die man auf ähnliche Fälle als
Gleichnis, als nahverwandten Ausdruck, als unmittelbar
passendes Wort anwenden und benutzen mag.
Diese universellen Bezeichnungen, diese Natursprache
auch auf die Farbenlehre anzuwenden, diese Sprache
durch die Farbenlehre, durch die Mannigfaltigkeit ihrer
Erscheinungen zu bereichern, zu erweitern und so die
Mitteilung höherer Anschauungen unter den Freunden der
Natur zu erleichtern, war die Hauptabsicht des gegen-
wärtigen Werkes.
Die Arbeit selbst zerlegt sich in drei Teile. Der erste
gibt den Entwurf einer Farbenlehre. In demselben sind
die unzähligen Fälle der Erscheinungen unter gewisse
Hauptphänomene zusammengefaßt, welche nach einer
Ordnung aufgeführt werden, die zu rechtfertigen der
Einleitung überlassen bleibt. Hier aber ist zu bemerken,
VORWORT 27
daß, ob man sich gleich überall an die Erfahrungen ge-
halten, sie überall zum Grunde gelegt, doch die theo-
retische Ansicht nicht verschwiegen werden konnte,
welche den Anlaß zu jener Aufstellung und Anordnung
gegeben.
Ist es doch eine höchst wunderliche Forderung, die wohl
manchmal gemacht, aber auch selbst von denen, die sie
machen, nicht erfüllt wird: Erfahrungen solle man ohne
irgendein theoretisches Band vortragen und dem Leser,
dem Schüler überlassen, sich selbst nach Belieben irgend-
eine Überzeugung zu bilden. Denn das bloße Anblicken
einer Sache kann uns nicht fördern. Jedes Ansehen geht
über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen,
jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen,
daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt
theoretisieren. Dieses aber mit Bewußtsein, mit Selbst-
kenntnis, mit Freiheit und, um uns eines gewagten Wortes
zu bedienen, mit Ironie zu tun und vorzunehmen, eine
solche Gewandtheit ist nötig, wenn die Abstraktion, vor
der wir uns fürchten, unschädlich und das Erfahrungs-
resultat, das wir hoffen, recht lebendig und nützlich wer-
den soll.
Im zweiten Teil beschäftigen wir uns mit Enthüllung der
Newtonischen Theorie, welche einer freien Ansicht der
Farbenerscheinungen bisher mit Gewalt und Ansehen ent-
gegengestanden; wir bestreiten eine Hypothese, die, ob
sie gleich nicht mehr brauchbar gefunden wird, doch noch
immer eine herkömmliche Achtung unter den Menschen
behält. Ihr eigentliches Verhältnis muß deutlich werden,
die alten Irrtümer sind wegzuräumen, wenn die Farben-
lehre nicht, wie bisher, hinter so manchem anderen,
besser bearbeiteten Teile der Naturlehre zurückbleiben
soll.
Da aber der zweite Teil unsres Werkes seinem Inhalte
nach trocken, der Ausführung nach vielleicht zu heftig
und leidenschaftlich scheinen möchte, so erlaube man
uns hier ein heiteres Gleichnis, um jenen ernsteren Stoff
vorzubereiten und jene lebhafte Behandlung einigermaßen
zu entschuldigen.
28 ZUR FARBENLEHRE
Wir vergleichen die Newtonische Farbentheorie mit einer
alten Burg, welche von dem Erbauer anfangs mit jugend-
licher Übereilung angelegt, nach dem Bedürfnis der Zeit
und Umstände jedoch nach und nach von ihm erweitert
und ausgestattet, nicht weniger bei Anlaß von Fehden
und Feindseligkeiten immer mehr befestigt und gesichert
worden.
So verfuhren auch seine Nachfolger und Erben. Man war
genötigt, das Gebäude zu vergrößern, hier daneben, hier
daran, dort hinaus zu bauen, genötigt durch die Vermeh-
rung innerer Bedürfnisse, durch die Zudringlichkeit äuße-
rer Widersacher und durch manche Zufälligkeiten.
Alle diese fremdartigen Teile und Zutaten mußten wieder
in Verbindung gebracht werden durch die seltsamsten
Galerien, Hallen und Gänge. Alle Beschädigungen, es
sei von Feindes Hand oder durch die Gewalt der Zeit,
wurden gleich wieder hergestellt. Man zog, wie es nötig
ward, tiefere Gräben, erhöhte die Mauern und ließ es
nicht an Türmen, Erkern und Schießscharten fehlen.
Diese Sorgfalt, diese Bemühungen brachten ein Vorurteil
von dem hohen Werte der Festung hervor und erhieltens,
obgleich Bau- und Befestigungskunst die Zeit über sehr
gestiegen waren und man sich in andern Fällen viel bes-
sere Wohnungen und Waffenplätze einzurichten gelernt
hatte. Vorzüglich aber hielt man die alte Burg in Ehren,
weil sie niemals eingenommen worden, weil sie so man-
chen Angriff abgeschlagen, manche Befehdung vereitelt
und sich immer als Jungfrau gehalten hatte. Dieser Name,
dieser Ruf dauert noch bis jetzt. Niemanden fällt es auf,
daß der alte Bau unbewohnbar geworden. Immer wird
von seiner vortrefflichen Dauer, von seiner köstlichen
Einrichtung gesprochen. Pilger wallfahrten dahin; flüch-
tige Abrisse zeigt man in allen Schulen herum imd emp-
fiehlt sie der empfänglichen Jugend zur Verehrung, in-
dessen das Gebäude bereits leer steht, nur von einigen
Invaliden bewacht, die sich ganz ernsthaft für gerüstet
halten.
Es ist also hiei die Rede nicht von einer langwierigen
Belagerung oder einer zweifelhaften Fehde. Wir finden
VORWORT 29
vielmehr jenes achte Wunder der Welt schon als ein ver-
lassenes, Einsturz drohendes Altertum und beginnen so-
gleich von Giebel und Dach herab es ohne weitere Um-
stände abzutragen, damit die Sonne doch endlich einmal
in das alte Ratten- und Eulennest hineinscheine und dem
Auge des verwunderten Wanderers offenbare jene laby-
rinthisch unzusammenhängende Bauart, das enge Not-
dürftige, das zufällig Aufgedrungene, das absichtlich Ge-
künstelte, das kümmerlich Geflickte. Ein solcher Einblick
ist aber alsdann nur möglich, wenn eine Mauer nach der
andern, ein Gewölbenach dem andern fällt und der Schutt,
so viel sich tun läßt, auf der Stelle hinweggeräumt wird.
Dieses zu leisten und womöglich den Platz zu ebnen, die
gewonnenen Materialien aber so zu ordnen, daß sie bei
einem neuen Gebäude wieder benutzt werden können,
ist die beschwerliche Pflicht, die wir uns in diesem zweiten
Teile auferlegt haben. Gelingt es uns nun, mit froher An-
wendung möglichster Kraft und Geschickes, jene Bastille
zu schleifen und einen freien Raum zu gewinnen, so ist
keinesweges die Absicht, ihn etwa sogleich wieder mit
einem neuen Gebäude zu überbauen und zu belästigen;
wir wollen uns vielmehr desselben bedienen, um eine
schöne Reihe mannigfaltiger Gestalten vorzuführen.
Der dritte Teil bleibt daher historischen Untersuchungen
und Vorarbeiten gewidmet. Äußerten wir oben, daß die
Geschichte des Menschen den Menschen darstelle, so läßt
sich hier auch wohl behaupten, daß die Geschichte
der Wissenschaft die Wissenschaft selbst sei. Man kann
dasjenige, was man besitzt, nicht rein erkennen, bis man
das, was andre vor uns besessen, zu erkennen weiß. Man
wird sich an den Vorzügen seiner Zeit nicht wahrhaft und
redlich freuen, wenn man die Vorzüge der Vergangenheit
nicht zu würdigen versteht. Aber eine Geschichte der
Farbenlehre zu schreiben oder auch nur vorzubereiten,
war unmöglich, solange die Newtonische Lehre bestand.
Denn kein aristokratischer Dünkel hat jemals mit solchem
unerträglichen Übermute auf diejenigen herabgesehen,
die nicht zu seiner Gilde gehörten, als die Newtonische
Schule von jeher über alles abgesprochen hat, was vor
30 ZUR FARBENLEHRE
ihr geleistet war und neben ihr geleistet ward. Mit Ver-
druß und Unwillen sieht man, wie Priestley in seiner "Ge-
schichte der Optik", und so manche vor und nach ihm, das
Heil der Farbenwelt von der Epoche eines gespalten sein
sollenden Lichtes herdatieren imd mit hohem Augbraun
auf die Altern und Mittleren herabsehen, die auf dem
rechten Wege ruhig hingingen imd im einzelnen Beobach-
tungen und Gedanken überliefert haben, die wir nicht
besser anstellen können, nicht richtiger fassen werden.
Von demjenigen nun, der die Geschichte irgendeines
Wissens überliefern will, können wir mit Recht verlangen,
daß er uns Nachricht gebe, wie die Phänomene nach und
nach bekannt geworden, was man darüber phantasiert,
gewähnt, gemeint und gedacht habe. Dieses alles im Zu-
sammenhange vorzutragen, hat große Schwierigkeiten,
und eine Geschichte zu schreiben, ist immer eine bedenk-
liche Sache. Denn bei dem redlichsten Vorsatz kommt
man in Gefahr, unredlich zu sein; ja, wer eine solche Dar-
stellung unternimmt, erklärt zum voraus, daß er manche?
ins Licht, manches in Schatten setzen werde.
Und doch hat sich der Verfasser auf eine solche Arbeit
lange gefreut. Da aber meist nur der Vorsatz als ein
Ganzes vor unserer Seele steht, das Vollbringen aber ge-
wöhnlich nur stückweise geleistet wird, so ergeben wir
uns darein, statt der Geschichte Materialien zu derselben
zu liefern. Sie bestehen in Übersetzungen, Auszügen,
eigenen und fremden Urteilen, Winken und Andeutungen,
in einer Sammlung, der, wenn sie nicht allen Forderungen
entspricht, doch das Lob nicht mangeln wird, daß sie
mit Ernst und Liebe gemacht sei. Übrigens mögen viel-
leicht solche Materialien, zwar nicht ganz unbearbeitet,
aber doch unverarbeitet, dem denkenden Leser um desto
angenehmer sein, als er selbst sich nach eigener Art und
Weise ein Ganzes daraus zu bilden die Bequemlichkeit
findet.
Mit gedachtem dritten historischen Teil ist jedoch noch
nicht alles getan. Wir haben daher noch einen vierten
supplementären hinzugefügt. Dieser enthält die Revision,
um derentwillen vorzüglich die Paragraphen mit Nummern
VORWORT 31
versehen worden. Denn indem bei der Redaktion einer
solchen Arbeit einiges vergessen werden kann, einiges
beseitigt werden muß, um die Aufmerksamkeit nicht ab-
zuleiten, anderes erst hinterdrein erfahren wird, auch an-
deres einer Bestimmung und Berichtigung bedarf, so sind
Nachträge, Zusätze und Verbesserungen unerläßlich. Bei
dieser Gelegenheit haben wir denn auch die Zitate nach-
gebracht. Sodann enthält dieser Band noch einige ein-
zelne Aufsätze, z. B. über die atmosphärischen Farben,
welche, indem sie in dem Entwurf zerstreut vorkommen,
hier zusammen und auf einmal vor die Phantasie gebracht
werden.
Führt nun dieser Aufsatz den Leser in das freie Leben,
so sucht ein anderer das künstliche Wissen zu befördern,
indem er den zur Farbenlehre künftig nötigen Apparat
umständlich beschreibt.
Schließlich bleibt uns nur noch übrig, der Tafeln zu ge-
denken, welche wir dem Ganzen beigefügt. Und hier
werden wir freilich an jene Un Vollständigkeit und Unvoll-
kommenheit erinnert, welche unser Werk mit allen Wer-
ken dieser Art gemein hat.
Denn wie ein gutes Theaterstück eigentlich kaum zur
Hälfte zu Papier gebracht werden kann, vielmehr der
größere Teil desselben dem Glanz der Bühne, der Per-
sönlichkeit des Schauspielers, der Kraft seiner Stimme,
der Eigentümlichkeit seiner Bewegungen, ja dem Geiste
und der guten Laune des Zuschauers anheimgegeben
bleibt, so ist es noch viel mehr der Fall mit einem Buche,
das von natürlichen Erscheinungen handelt. Wenn es ge-
nossen, wenn es genutzt werden soll, so muß dem Leser
die Natur entweder wirklich oder in lebhafter Phantasie
gegenwärtig sein. Denn eigentlich sollte der Schreibende
sprechen und seinen Zuhörern die Phänomene, teils wie
sie uns ungesucht entgegenkommen, teils wie sie durch
absichtliche Vorrichtungen nach Zweck und Willen dar-
gestellt werden können, als Text erst anschaulich machen;
alsdann würde jedes Erläutern, Erklären, Auslegen einer
lebendigen Wirkung nicht ermangeln.
Ein höchst unzulängliches Surrogat sind hiezu die Tafeln,
32 ZUR FARBENLEHRE
die man dergleichen Schriften beizulegen pHegt. Ein
freies physisches Phänomen, das nach allen Seiten wirkt,
ist nicht in Linien zu fassen und im Durchschnitt anzu-
deuten. Niemand fällt es ein, chemische Versuche mit
Figuren zu erläutern; bei den physischen, nah verwandten
ist es jedoch hergebracht, weil sich eins und das andre
dadurch leisten läßt. Aber sehr oft stellen diese Figuren
nur Begriffe dar; es sind symbolische Hülfsmittel, hiero-
glyphische Überlieferungsweisen, welche sich nach und
nach an die Stelle des Phänomens, an die Stelle der Na-
tur setzen und die wahre Erkenntnis hindern, anstatt sie
zu befördern. Entbehren konnten auch wir der Tafeln
nicht; doch haben wir sie so einzurichten gesucht, daß
man sie zum didaktischen und polemischen Gebrauch ge-
trost zur Hand nehmen, ja gewisse derselben als einen
Teil des nötigen Apparats ansehen kann.
Und so bleibt uns denn nichts weiter übrig, als auf die
Arbeit selbst hinzuweisen und nur vorher noch eine Bitte
zu wiederholen, die schon so mancher Autor vergebens
getan hat und die besonders der deutsche Leser neuerer
Zeit so selten gewährt:
Si quid novisti recthis istis,
Candidus imperti; si non, his utere mecum.
DER FARBENLEHRE
DIDAKTISCHER TEIL
GOETHE XVII 3.
Si Vera nostra sunt aut falsa, erunt
ta/ia, licet nostra per vitam defen-
dimus. Post fata nostra pueri, gut
nunc ludunt, nostri judices erunt.
EINLEITUNG
DIE Lust zum Wissen wird bei dem Menschen zu-
erst dadurch angeregt, daß er bedeutende Phäno-
mene gewahr wird, die seine Aufmerksamkeit an
sich ziehen. Damit nun diese dauernd bleibe, so muß
sich eine innigere Teilnahme finden, die uns nach und
nach mit den Gegenständen bekannter macht. Alsdann
bemerken wir erst eine große Mannigfaltigkeit, die uns
als Menge entgegendringt. Wir sind genötigt zu sondern,
zu unterscheiden und wieder zusammenzustellen, wodurch
zuletzt eine Ordnung entsteht, die sich mit mehr oder
weniger Zufriedenheit übersehen läßt.
Dieses in irgendeinem Fache nur einigermaßen zu leisten,
wird eine anhaltende strenge Beschäftigung nötig. Des-
wegen finden wir, daß die Menschen lieber durch eine
allgemeine theoretische Ansicht, durch irgendeine Erklä-
rungsart die Phänomene beiseite bringen, anstatt sich die
Mühe zu geben, das Einzelne kennen zu lernen und ein
Ganzes zu erbauen.
Der Versuch, die Farbenerscheinungen auf- und zu-
sammenzustellen, ist nur zweimal gemacht worden, das
erstemal von Theophrast, sodann von Boyle. Dem
gegenwärtigen wird man die dritte Stelle nicht streitig
machen.
Das nähere Verhältnis erzählt uns die Geschichte. Hier
sagen wir nur so viel, daß in dem verflossenen Jahr-
hundert an eine solche Zusammenstellung nicht gedacht
werden konnte, weil Newton seiner Hypothese einen ver-
wickelten und abgeleiteten Versuch zum Grund gelegt
hatte, aufweichen man die übrigen zudringenden Erschei-
nungen, wenn man sie nicht verschweigen und beseitigen
konnte, künstlich bezog und sie in ängstlichen Verhält-
nissen umherstellte, wie etwa ein Astronom verfahren
müßte, der aus Grille den Mond in die Mitte unseres
Systems setzen möchte. Er wäre genötigt, die Erde, die
Sonne mit allen übrigen Planeten um den subalternen
Körper herumzubewegen und durch künstliche Berech-
nungen und Vorstellungsweisen das Irrige seines ersten
Annehmens zu verstecken und zu beschönigen.
36 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Schreiten wir nun in Erinnerung dessen, was wir oben
vorwortlich beigebracht, weiter vor. Dort setzten wir das
Licht als anerkannt voraus, hier tun wir ein gleiches mit
dem Auge. Wir sagten, die ganze Natur offenbare sich
durch die Farbe dem Sinne des Auges. Nunmehr behaupten
wir, wenn es auch einigermaßen sonderbar klingen mag,
daß das Auge keine Form sehe, indem Hell, Dunkel und
Farbe zusammen allein dasjenige ausmachen, was den
Gegenstand vom Gegenstand, die Teile des Gegenstandes
voneinander fürs Auge unterscheidet. Und so erbauen
wir aus diesen dreien die sichtbare Welt und machen da-
durch zugleich die Malerei möglich, welche auf der Tafel
eine weit vollkommner sichtbare Welt, als die wirkliche
sein kann, hervorzubringen vermag.
Das Auge hat sein Dasein dem Licht zu danken. Aus
gleichgültigen tierischen Hülfsorganen ruft sich das Licht
ein Organ hervor, das seinesgleichen werde, und so bildet
sich das Auge am Lichte fürs Licht, damit das innere
Licht dem äußeren entgegentrete.
Hierbei erinnern wir uns der alten ionischen Schule, wel-
che mit so großer Bedeutsamkeit immer wiederholte, nur
von Gleichem werde Gleiches erkannt, wie auch der Worte
eines alten Mystikers, die wir in deutschen Reimen fol-
gendermaßen ausdrücken möchten:
War nicht das Auge sonnenhaft.
Wie könnten wir das Licht erblicken?
Lebt nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt uns Göttliches entzücken?
Jene unmittelbare Verwandtschaft des Lichtes und des
Auges wird niemand leugnen; aber sich beide zugleich
als eins und dasselbe zu denken, hat mehr Schwierigkeit.
Indessen wird es faßhcher, wenn man behauptet, im Auge
wohne ein ruhendes Licht, das bei der mindesten Ver-
anlassung von innen oder von außen erregt werde. Wir
können in der Finsternis durch Forderungen der Ein-
bildungskraft uns die hellsten Bilder hervorrufen. Im
Traume erscheinen uns die Gegenstände wie am vollen
Tage. In wachenden Zustande wird uns die leiseste äußere
EINLEITUNG 37
Lichteinwirkung bemerkbar; ja, wenn das Organ einen
mechanischen Anstoß erleidet, so springen Licht und
Farben hervor.
Vielleicht aber machen hier diejenigen, welche nach einer
gewissen Ordnung zu verfahren pflegen, bemerklich, daß
wir ja noch nicht einmal entschieden erklärt, was denn
Farbe sei. Dieser Frage möchten wir gar gern hier aber-
mals ausweichen und uns auf unsere Ausführung berufen,
wo wir umständlich gezeigt, wie sie erscheine. Denn es
bleibt uns auch hier nichts übrig, als zu wiederholen, die
Farbe sei die gesetzmäßige Natur in bezug auf den Sinn
des Auges. Auch hier müssen wir annehmen, daß jemand
diesen Sinn habe, daß jemand die Einwirkung der Natur
auf diesen Sinn kenne; denn mit dem Bhnden läßt sich
nicht von der Farbe reden.
Damit wir aber nicht gar zu ängstlich eine Erklärung zu
vermeiden scheinen, so möchten wir das Erstgesagte fol-
gendermaßen umschreiben: die Farbe sei ein elementares
Naturphänomen für den Sinn des Auges, das sich, wie
die übrigen alle, durch Trennung und Gegensatz, durch
Mischung und Vereinigung, durch Erhöhung und Neutra-
lisation, durch Mitteilung und Verteilung usw. manifestiert
und unter diesen allgemeinen Naturformeln am besten
angeschaut und begriffen werden kann.
Diese Art, sich die Sache vorzustellen, können wir nie-
mand aufdringen. Wer sich bequem findet, wie wir, wird
sie gern in sich aufnehmen. Ebensowenig haben wir
Lust, sie künftig durch Kampf und Streit zu verteidigen.
Denn es hatte von jeher etwas Gefährliches, von der
Farbe zu handeln, dergestalt daß einer unserer Vor-
gänger gelegentlich gar zu äußern wagt: "Hält man dem
Stier ein rotes Tuch vor, so wird er wütend; aber der
Philosoph, wenn man nur überhaupt von Farbe spricht,
fängt an zu rasen."
Sollen wir jedoch nunmehr von unserem Vortrag, auf den
wir uns berufen, einige Rechenschaft geben, so müssen
wir vor allen Dingen anzeigen, wie wir die verschiede-
nen Bedingungen, unter welchen die Farbe sich zeigen
mag, gesondert. Wir fanden dreierlei Erscheinungsweisen,
38 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
dreierlei Arten von Farben oder, wenn man lieber will,
dreierlei Ansichten derselben, deren Unterschied sich
aussprechen läßt.
Wir betrachteten also die Farben zuerst, insofern sie dem
Auge angehören und auf einer Wirkung und Gegenwir-
kung desselben beruhen; ferner zogen sie unsere Auf-
merksamkeit an sich, indem wir sie an farblosen Mitteln
oder durch deren Beihülfe gewahrten; zuletzt aber wurden
sie uns merkwürdig, indem wir sie als den Gegenständen
angehörig denken konnten. Die ersten nannten wix phy-
siologische, die zweiten physische, die dritten chemische
Farben. Jene sind unaufhaltsam flüchtig, die andern vor-
übergehend, aber allenfalls verweilend, die letzten fest-
zuhalten bis zur spätesten Dauer.
Indem wir sie nun in solcher naturgemäßen Ordnung
zum Behuf eines didaktischen Vortrags möglichst son-
derten und auseinander hielten, gelang es uns zugleich,
sie in einer stetigen Reihe darzustellen, die flüchtigen
mit den verweilenden und diese wieder mit den dauern-
den zu verknüpfen und so die erst sorgfältig gezogenen
Abteilungen für ein höheres Anschauen wieder aufzu-
heben.
Hierauf haben wir in einer vierten Abteilung unserer Ar-
beit, was bis dahin von den Farben unter mannigfaltigen
besondern Bedingungen bemerkt worden, im allgemeinen
ausgesprochen und dadurch eigentlich den Abriß einer
künftigen Farbenlehre entworfen. Gegenwärtig sagen wir
nur so viel voraus, daß zur Erzeugung der Farbe Licht
und Finsternis, Helles und Dunkles oder, wenn man sich
einer allgemeineren Formel bedienen will, Licht und
Nichtlicht gefordert werde. Zunächst am Licht entsteht
uns eine Farbe, die wir Gelb nennen, eine andere zu-
nächst an der Finsternis, die wir mit dem Worte Blau
bezeichnen. Diese beiden, wenn wir sie in ihrem reinsten
Zustand dergestalt vermischen, daß sie sich völlig das
Gleichgewicht halten, bringen eine dritte hervor, welche
wir Grün heißen. Jene beiden ersten Farben können aber
auch jede an sich selbst eine neue Erscheinung hervor-
bringen, indem sie sich verdichten oder verdunkeln. Sie
EINLEITUNG 39
erhalten ein rötliches Ansehen, welches sich*bis auf einen
so hohen Grad steigern kann, daß man das ursprüngliche
Blau und Gelb kaum darin mehr erkennen mag. Doch
läßt sich das höchste und reine Rot, vorzüglich in phy-
sischen Fällen, dadurch hervorbringen, daß man die bei-
den Enden des Gelbroten und Blauroten vereinigt. Dieses
ist die lebendige Ansicht der Farbenerscheinung und -er-
zeugung. Man kann aber auch zu dem spezifiziert fertigen
Blauen und Gelben ein fertiges Rot annehmen und rück-
wärts durch Mischung hervorbringen, was wir vorwärts
durch Intensieren bewirkt haben. Mit diesen drei oder sechs
Farben, welche sich bequem in einen Kreis einschließen
lassen, hat die elementare Farbenlehre allein zu tun. Alle
übrigen ins Unendliche gehenden Abänderungen gehören
mehr in das Angewandte, gehören zur Technik des Malers,
des Färbers, überhaupt ins Leben,
Sollen wir sodann noch eine allgemeine Eigenschaft aus-
sprechen, so sind die Farben durchaus als Halblichter,
als Halbschatten anzusehen, weshalb sie denn auch, wenn
sie zusammengemischt ihre spezifischen Eigenschaften
wechselseitig aufheben, ein Schattiges, ein Graues her-
vorbringen.
In unserer fünften Abteilung sollten sodann jene nach-
barlichen Verhältnisse dargestellt werden, in welchen
unsere Farbenlehre mit dem übrigen Wissen, Tun und
Treiben zu stehen wünschte. So wichtig diese Abteilung
ist, so mag sie vielleicht gerade ebendeswegen nicht
zum besten gelungen sein. Doch wenn man bedenkt, daß.
eigentlich nachbarhche Verhältnisse sich nicht eher aus-
sprechen lassen, als bis sie sich gemacht haben, so kann
man sich über das Mißlingen eines solchen ersten Ver-
suches wohl trösten. Denn freihch ist erst abzuwarten,
wie diejenigen, denen wir zu'dienen suchten, denen wir
etwas Gefälliges und Nützliches zu erzeigen dachten, das
von uns möglichst Geleistete aufnehmen werden, ob sie
sich es zueignen, ob sie es benutzen und weiterführen,
oder ob sie es ablehnen, wegdrängen und notdürftig für
sich bestehen lassen. Indessen dürfen wir sagen, was wir
glauben und was wir hoffen.
40 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Vom Philosophen glauben wir Dank zu verdienen, daß
wir gesucht, die Phänomene bis zu ihren Urquellen zu
verfolgen, bis dorthin, wo sie bloß erscheinen und sind
und wo sich nichts weiter an ihnen erklären läßt. Ferner
wird ihm willkommen sein, daß wir die Erscheinungen
in eine leicht übersehbare Ordnung gestellt, wenn er disse
Ordnung selbst auch nicht ganz billigen sollte.
Den Arzt, besonders denjenigen, der das Organ des Auges
zu beobachten, es zu erhalten, dessen Mängeln abzuhelfen
und dessen Übel zu heilen berufen ist, glauben wir uns
vorzüglich zum Freunde zu machen. In der Abteilung
von den physiologischen Farben, in dem Anhange, der
die pathologischen andeutet, findet er sich ganz zu Hause.
Und wir werden gewiß durch die Bemühungen jener
Männer, die zu unserer Zeit dieses Fach mit Glück be-
handeln, jene erste, bisher vernachlässigte und, man kann
wohl sagen, wichtigste Abteilung der Farbenlehre ausführ-
lich bearbeitet sehen.
Am freundlichsten sollte der Physiker uns entgegenkom-
men, da wir ihm die Bequemlichkeit verschaffen, die
Lehre von den Farben in der Reihe aller übrigen elemen-
taren Erscheinungen vorzutragen und sich dabei einer
übereinstimmenden Sprache, ja fast derselbigen Worte
und Zeichen wie unter den übrigen Rubriken zu bedie-
nen. Freilich machen wir ihm, insofern er Lehrer ist,
etwas mehr Mühe: denn das Kapitel von den Farben läßt
sich künftig nicht wie bisher mit wenig Paragraphen und
Versuchen abtun; auch wird sich der Schüler nicht leicht
so frugal, als man ihn sonst bedienen mögen, ohne Mur-
ren abspeisen lassen. Dagegen findet sich späterhin ein
anderer Vorteil. Denn wenn die Newtonische Lehre leicht
zu lernen war, so zeigten sich bei ihrer Anwendung un-
überwindliche Schwierigkeiten. Unsere Lehre ist viel-
leicht schwerer zu fassen, aber alsdann ist auch alles ge-
tan, denn sie führt ihre Anwendung mit sich.
Der Chemiker, welcher auf die Farben als Kriterien achtet,
um die geheimem Eigenschaften körperlicher Wesen zu
entdecken, hat bisher bei Benennung und Bezeichnung
der Farben manches Hindernis gefunden; ja man ist nach
EINLEITUNG 41
einer näheren und feineren Betrachtung bewogen worden,
die Farbe als ein unsicheres und trügliches Kennzeichen
bei chemischen Operationen anzusehen. Doch hoffen wir,
sie durch unsere Darstellung und durch die vorgeschla-
gene Nomenklatur wieder zu Ehren zu bringen und die
Überzeugung zu erwecken, daß ein Werdendes, Wach-
sendes, ein Bewegliches, deren Umwendung Fähiges nicht
betrüglich sei, vielmehr geschickt, die zartesten Wir-
kungen der Natur zu offenbaren.
Blicken wir jedoch weiter umher, so wandelt uns eine
Furcht an, dem Mathematiker zu mißfallen. Durch eine
sonderbare Verknüpfung von Umständen ist die Farben-
lehre in das Reich, vor den Gerichtsstuhl des Mathema-
tikers gezogen worden, wohin sie nicht gehört. Dies ge-
schah wegen ihrer Verwandtschaft mit den übrigen Gesetzen
des Sehens, welche der Mathematiker zu behandeln eigent-
lich berufen war. Es geschah ferner dadurch, daß ein
großer Mathematiker die Farbenlehre bearbeitete und, da
er sich als Physiker geirrt hatte, die ganze Kraft seines
Talents aufbot, um diesem Irrtum Konsistenz zu ver-
schaffen. Wird beides eingesehen, so muß jedes Mißver-
ständnis bald gehoben sein, und der Mathematiker wird
gern besonders die physische Abteilung der Farbenlehre
mit bearbeiten helfen.
Dem Techniker, dem Färber hingegen muß unsre Arbeit
durchaus willkommen sein. Denn gerade diejenigen, welche
über die Phänomene der Färberei nachdachten, waren am
wenigsten durch die bisherige Theorie befriedigt. Sie
waren die ersten, welche die Unzulänglichkeit der New-
tonischen Lehre gewahr wurden. Denn es ist ein großer
Unterschied, von welcher Seite man sich einem Wissen,
einer Wissenschaft nähert, durch welche Pforte man her-
einkommt. Der echte Praktiker, der Fabrikant, dem sich
die Phänomene täglich mit Gewalt aufdringen, welcher
Nutzen oder Schaden von der Ausübung seiner Über-
zeugungen empfindet, dem Geld- und Zeitverlust nicht
gleichgültig ist, der vorwärts will, von anderen Geleistetes
erreichen, übertreffen soll: er empfindet viel geschwinder
das Hohle, das Falsche einer Theorie als der Gelehrte,
42 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
dem zuletzt die hergebrachten Worte für bare Münze
gelten, als der Mathematiker, dessen Formel immer noch
richtig bleibt, wenn auch die Unterlage nicht zu ihr paßt,
auf die sie angewendet worden. Und so werden auch wir,
da wir von der Seite der Malerei, von der Seite ästheti-
scher Färbung der Oberflächen in die Farbenlehre her-
eingekommen, für den Maler das Dankenswerteste ge-
leistet haben, wenn wir in der sechsten Abteilung die
sinnlichen und sittlichen Wirkungen der Farbe zu be-
stimmen gesucht und sie dadurch dem Kunstgebrauch
annähern wollen. Ist auch hierbei, wie durchaus, man-
ches nur Skizze geblieben, so soll ja alles Theoretische
eigentlich nur die Grundzüge andeuten, auf welchen sich
hernach die Tat lebendig ergehen und zu gesetzlichem
Hervorbringen gelangen mag.
ERSTE ABTEILUNG. PHySIOLOGISCHE
FARBEN
I 1 V lESE Farben, welche wir billig obenan setzen,
I jweil sie dem Subjekt, weil sie dem Auge teils
X_^ völlig, teils größtens zugehören, diese Farben,
welche das Fundament der ganzen Lehre machen und uns
die chromatische Harmonie, worüber so viel gestritten
wird, offenbaren, wurden bisher als außerwesentlich, zu-
fallig, als Täuschung und Gebrechen betrachtet. Die Er-
scheinungen derselben sind von frühern Zeiten her bekannt,
aber weil man ihre Flüchtigkeit nicht haschen konnte, so
verbannte man sie in das Reich der schädlichen Gespenster
und bezeichnete sie in diesem Sinne gar verschiedentlich.
2. Also heißen sie colores adventicii n2i.c]\ Boyle, imaginarii
und phantastici nach Rizzetti, nach Bufifon couleurs acci-
dentelles, nach ScherfFer Scheinfarben; Augentäuschungen
und Gesichtsbetrug nach mehreren, nach Hamberger vitia
ßigitiva, nach Darwin ocular spectra.
3. Wir haben sie physiologische genannt, weil sie dem
gesunden Auge angehören, weil wir sie als die notwendigen
Bedingungen des Sehens betrachten, auf dessen lebendiges
Wechselwirken in sich selbst und nach außen sie hin-
deuten.
4. Wir fügen ihnen sogleich die pathologischen hinzu,
welche, wie jeder abnorme Zustand auf den gesetzlichen,
so auch hier auf die physiologischen Farben eine voll-
kommenere Einsicht verbreiten.
I. Licht und Finsternis zum Auge
5. Die Retina befindet sich, je nachdem Licht oder Fin-
sternis auf sie wirken, in zwei verschiedenen Zuständen,
die einander völlig entgegenstehen.
6. Wenn wir die Augen innerhalb eines ganz finstern
Raums oflfen halten, so wird uns ein gewisser Mangel
empfindbar. Das Organ ist sich selbst überlassen, es zieht
sich in sich selbst zurück, ihm fehlt jene reizende befrie-
digende Berührung, durch die es mit der äußern Welt ver-
bunden und zum Ganzen wird.
44 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
7. Wenden wir das Auge gegen eine stark beleuchtete
weiße Fläche, so wird es geblendet und für eine Zeitlang
unfähig, mäßig beleuchtete Gegenstände zu unterschei-
den.
8. Jeder dieser äußersten Zustände nimmt auf die ange-
gebene Weise die ganze Netzhaut ein, imd insofern wer-
den wir nur einen derselben auf einmal gewahr. Dort (6)
fanden wir das Organ in der höchsten Abspannung und
Empfänglichkeit, hier (7) in der äußersten Überspannung
vmd Unempfindlichkeit.
9. Gehen wir schnell aus einem dieser Zustände in den
andern über, wenn auch nicht von einer äußersten Grenze
zur andern, sondern etwa nur aus dem Hellen ins Däm-
mernde, so ist der Unterschied bedeutend, und wir können
bemerken, daß die Zustände eine Zeitlang dauern.
10. Wer aus der Tageshelle in einen dämmrigen Ort
übergeht, imterscheidet nichts in der ersten Zeit; nach und
nach stellen sich die Augen zur Empfänglichkeit wieder
her, starke früher als schwache: jene schon in einer Minute,
wenn diese sieben bis acht Minuten brauchen.
1 1 . Bei wissenschaftlichen Beobachtungen kann die Un-
empfänglichkeit des Auges für schwache Lichteindrücke,
wenn man aus dem Hellen ins Dunkle geht, zu sonder-
baren Irrtümern Gelegenheit geben. So glaubte ein Be-
obachter, dessen Auge sich langsam herstellte, eine ganze
Zeit, das faule Holz leuchte nicht um Mittag, selbst in
der dunkeln Kammer. Er sah nämlich das schwache Leuch-
ten nicht, weil er aus dem hellen Sonnenschein in die
dunkle Kammer zu gehen pflegte und erst später einmal
so lange darin verweilte, bis sich das Auge wieder her-
gestellt hatte.
Ebenso mag es dem Doktor Wall mit dem elektrischen
Scheine des Bernsteins gegangen sein, den er bei Tage,
selbst im dunkeln Zimmer, kaum gewahr werden konnte.
Das Nichtsehen der Sterne bei Tage, das Bessersehen
der Gemälde durch eine doppelte Röhre ist auch hieher
zu rechnen.
12. Wer einen völlig dunkeln Ort mit einem, den die
Sonne bescheint, verwechselt, wird geblendet. Wer aus
I. PHYSIOLOGISCHE FARBEN 45
derDämmrung ins nicht blendende Helle kommt, bemerkt
alle Gegenstände frischer und besser; daher ein ausge-
ruhtes Auge durchaus für mäßige Erscheinungen empfäng-
licher ist.
Bei Gefangenen, welche lange im Finstern gesessen, ist
die Empfänglichkeit der Retina so groß, daß sie im Fin-
stern (wahrscheinlich in einem wenig erhellten Dunkel)
schon Gegenstände unterscheiden.
13. Die Netzhaut befindet sich bei dem, was wir sehen
heißen, zu gleicher Zeit in verschiedenen, ja in entgegen-
gesetzten Zuständen. Das höchste, nicht blendende Helle
wirkt neben dem völlig Dunkeln. Zugleich werden wir
alle Mittelstufen des Helldunkeln und alle Farbenbestim-
mungen gewahr.
14. Wir wollen gedachte Elemente der sichtbaren Welt
nach und nach betrachten und bemerken, wie sich das
Organ gegen dieselben verhalte, und zu diesem Zweck die
einfachsten Bilder vornehmen.
IL Schwarze und lueiße Bilder zum Auge
15. Wie sich die Netzhaut gegen Hell und Dunkel über-
haupt verhält, so verhält sie sich auch gegen dunkle und
helle einzelne Gegenstände. Wenn Licht und Finsternis
ihr im ganzen verschiedene Stimmungen geben, so wer-
den schwarze und weiße Bilder, die zu gleicher Zeit ins
Auge fallen, diejenigen Zustände nebeneinander bewirken,
welche durch Licht und Finsternis in einer Folge hervor-
gebracht wurden.
16. Ein dunkler Gegenstand erscheint kleiner als ein
heller von derselben Größe. Man sehe zugleich eine
weiße Rundung auf schwarzem, eine schwarze auf weißem
Grande, welche nach einerlei Zirkelschlag ausgeschnitten
sind, in einiger Entfernung an, und wir werden die letztere
etwa um ein Fünftel kleiner als die erste halten. Man
mache das schwarze Bild um soviel größer, und sie wer-
den gleich erscheinen.
17. So bemerkte Tycho de Brahe, daß der Mond in der
Konjunktion (der finstere) um den fünften Teil kleiner er-
46 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHP:R TEIL
scheine als in der Opposition (der volle helle). Die erste
Mondsichel scheint einer großem Scheibe anzugehören
als der an sie grenzenden dunkeln, die man zur Zeit des
Neulichtes manchmal unterscheiden kann. Schwarze Klei-
der machen die Personen viel schmäler aussehen als helle.
Hinter einem Rand gesehene Lichter machen in den Rand
einen scheinbaren Einschnitt. Ein Lineal, hinter welchem
ein Kerzenlicht hervorblickt, hat für uns eine Scharte.
Die auf- und untergehende Sonne scheint einen Einschnitt
in den Horizont zu machen.
i8. Das Schwarze, als Repräsentant der Finsternis, läßt
das Organ im Zustande der Ruhe, das Weiße, als Stell-
vertreter des Lichts, versetzt es in Tätigkeit. Man schlösse
vielleicht aus gedachtem Phänomen (i6), daß die ruhige
Netzhaut, wenn sie sich selbst überlassen ist, in sich selbst
zusammengezogen sei und einen kleinem Raum ein-
nehme als in dem Zustande der Tätigkeit, in den sie durch
den Reiz des Lichtes versetzt wird.
Kepler sagt daher sehr schön: Certum est,velin retina causa
picturae vel in spiritibus causa impressionis exsistere dila-
tationem lucidorum {Paralip.in Vitellionem, p. 220). Pater
Scherffer hat eine ähnliche Mutmaßung.
19. Wie dem auch sei, beide Zustände, zu welchen das
Organ durch ein solches Bild bestimmt wird, bestehen
auf demselben örtlich und dauem eine Zeitlang fort, wenn
auch schon der äußre Anlaß entfernt ist. Im gemeinen
Leben bemerken wir es kaum; denn selten kommen Bilder
vor, die sehr stark voneinander abstechen. Wir vermei-
den diejenigen anzusehn, die uns blenden. Wir blicken
von einem Gegenstand auf den andern, die Sukzession
der Bilder scheint uns rein, wir werden nicht gewahr, daß
sich von dem vorhergehenden etwas ins nachfolgende hin-
überschleicht.
20. Wer auf ein Fensterkreuz, das einen dämmernden
Himmel zum Hintergrunde hat, morgens beim Erwachen,
wenn das Auge besonders empfänglich ist, scharf hinblickt
und sodann die Augen schließt oder gegen einen ganz
dunkeln Ort hinsieht, wird ein schwarzes Kreuz auf hellem
Grunde noch eine Weile vor sich sehen.
I. PHYSIOLOGISCHE FARBEN 47
21. Jedes Bild nimmt seinen bestimmten Platz auf der
Netzhaut ein, und zwar einen großem oder kleinem, nach
dem Maße, in welchem es nahe oder fern gesehen wird.
Schließen wir das Auge sogleich, wenn wir in die Sonne
gesehen haben, so werden wir uns wundern, wie klein das
zurückgebliebene Bild erscheint.
22. Kehren wir dagegen das geöffnete Auge nach einer
Wand und betrachten das uns vorschwebende Gespenst
in bezug auf andre Gegenstände, so werden wir es immer
größer erblicken, je weiter von uns es durch irgendeine
Fläche aufgefangen wird. Dieses Phänomen erklärt sich
wohl aus dem perspektivischen Gesetz, daß uns der kleine
nähere Gegenstand den großem entfernten zudeckt.
23. Nach Beschaffenheit der Augen ist die Dauer dieses
Eindrucks verschieden. Sie verhält sich wie die Herstel-
Itmg der Netzhaut bei dem Übergang aus dem Hellen ins
Dunkle (10) und kann also nach Minuten und Sekunden
abgemessen werden, und zwar viel genauer, als es bisher
durch eine geschwungene brennende Lunte, die dem
hinblickenden Auge als ein Zirkel erscheint, geschehen
konnte.
24. Besonders auch kommt die Energie in Betracht, wo-
mit eine Lichtwirkung das Auge trifft. Am längsten bleibt
das Bild der Sonne, andre mehr oder weniger leuchtende
Körper lassen ihre Spur länger oder kürzer zurück.
25. Diese Bilder verschwinden nach und nach, und zwar
indem sie sowohl an Deutlichkeit als an Größe verlieren.
26. Sie nehmen von der Peripherie herein ab, und man
glaubt bemerkt zu haben, daß bei viereckten Bildern sich
nach und nach die Ecken abstumpfen und zuletzt ein
immer kleineres rundes Bild vorschwebt.
27. Ein solches Bild, dessen Eindruck nicht mehr bemerk-
lich ist, läßt sich auf der Retina gleichsam wieder beleben,
wenn wir die Augen öffnen und schließen und mit Erre-
gung und Schonung abwechseln.
28. Daß Bilder sich bei Augenkrankheiten vierzehn bis
siebzehn Minuten, ja länger auf der Retina erhielten, deutet
auf äußerste Schwäche des Organs, auf dessen Unfähig-
keit, sich wieder herzustellen, so wie das Vorschweben
4 8 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
leidenschaftlich geliebter oder verhaßter Gegenstände aus
dem Sinnlichen ins Geistige deutet.
29. Blickt man, indessen der Eindruck obgedachten Fen-
sterbildes noch dauert, nach einer hellgrauen Fläche, so
erscheint das Kreuz hell und der Scheibenraum dunkel.
In jenem Falle (20) blieb der Zustand sich selbst gleich,
so daß auch der Eindruck identisch verharren konnte;
hier aber wird eine Umkehrung bewirkt, die unsere Auf-
merksamkeit aufregt und von der uns die Beobachter
mehrere Fälle überliefert haben.
30. Die Gelehrten, welche auf den Cordilleras ihre Be-
obachtungen anstellten, sahen um den Schatten ihrer
Köpfe, der auf Wolken fiel, einen hellen Schein. Dieser
Fall gehört wohl hieher: denn indem sie das dunkle Bild
des Schattens fixierten und sich zugleich von der Stelle
bewegten, so schien ihnen das geforderte helle Bild um
das dunkle zu schweben. Man betrachte ein schwarzes
Rund auf einer hellgrauen Fläche, so wird man bald,
wenn man die Richtung des Blicks im geringsten ver-
ändert, einen hellen Schein um das dunkle Rund schwe-
ben sehen.
Auch mir ist ein Ähnliches begegnet. Indem ich nämlich,
auf dem Felde sitzend, mit einem Manne sprach, der, in
einiger Entfernung vor mir stehend, einen grauen Him-
mel zum Hintergrund hatte, so erschien mir, nachdem
ich ihn lange scharf und unverwandt angesehen, als ich
den Blick ein wenig gewendet, sein Kopf von einem blen-
denden Schein umgeben.
Wahrscheinlich gehört hieher auch das Phänomen, daß
Personen, die bei Aufgang der Sonne an feuchten Wiesen
hergehen, einen Schein um ihr Haupt erblicken, der zu-
gleich farbig sein mag, weil sich von den Phänomenen
der Refraktion etwas einmischt.
So hat man auch um die Schatten der Luftballone, welche
auf Wolken fielen, helle und einigermaßen gefärbte Kreise
bemerken wollen.
Pater Beccaria stellte einige Versuche an über die Wetter-
elektrizität, wobei er den papiernen Drachen in die Höhe
steigen ließ. Es zeigte sich um diese Maschine ein kleines
I. PHYSIOLOGISCHE FARBEN 49
glänzendes Wölkchen von abwechselnder Größe, ja auch
um einen Teil der Schnur. Es verschwand zuweilen, und
wenn der Drache sich schneller bewegte, schien es auf
dem vorigen Platze einige Augenblicke hin und wieder
zu schweben. Diese Erscheinung, welche die damaligen
Beobachter nicht erklären konnten, war das im Auge zu-
rückgebliebene, gegen den hellen Himmel in ein helles
verwandelte Bild des dunklen Drachen.
Bei optischen, besonders chromatischen Versuchen, wo
man oft mit blendenden Lichtern, sie seien farblos oder
farbig, zu tun hat, muß man sich sehr vorsehen, daß nicht
das zurückgebliebene Spektrum einer vorhergehenden Be-
obachtung sich mit in eine folgende Beobachtung mische
und dieselbe verwirrt und unrein mache.
31. Diese Erscheinungen hat man sich folgendermaßen
zu erklären gesucht. Der Ort der Retina, auf welchen
das Bild des dunklen Kreuzes fiel, ist als ausgeruht und
empfänglich anzusehen. Auf ihn wirkt die mäßig erhellte
Fläche lebhafter als auf die übrigen Teile der Netzhaut,
welche durch die Fensterscheiben das Licht empfingen
und, nachdem sie durch einen so viel stärkern Reiz in
Tätigkeit gesetzt worden, die graue Fläche nur als dunkel
gewahr werden.
32. Diese Erklärungsart scheint für den gegenwärtigen
Fall ziemlich hinreichend; in Betrachtung künftiger Er-
scheinungen aber sind wir genötigt, das Phänomen aus
hohem Quellen abzuleiten.
33. Das Auge eines Wachenden äußert seine Lebendigkeit
besonders darin, daß es durchaus in seinen Zuständen ab-
zuwechseln verlangt, die sich am einfachsten vom Dunkeln
zum Hellen und umgekehrt bewegen. Das Auge kann
und mag nicht einen Moment in einem besondern, in
einem durch das Objekt spezifizierten Zustande identisch
verharren. Es ist vielmehr zu einer Art von Opposition
genötigt, die, indem sie das Extrem dem Extreme, das
Mittlere dem Mittleren entgegensetzt, sogleich das Ent-
gegengesetzte verbindet und in der Sukzession sowohl
als in der Gleichzeitigkeit und Gleichörtlichkeitnach einem
Ganzen strebt.
GOETHE XVII 4.
5 o DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
34. Vielleicht entsteht das außerordentliche Behagen, das
wir bei dem wohlbehandelten Helldunkel farbloser Ge-
mälde und ähnlicher Kunstwerke empfinden, vorzüglich
aus dem gleichzeitigen Gewahrwerden eines Ganzen, das
von dem Organ sonst nur in einer Folge mehr gesucht
als hervorgebracht wird und, wie es auch gelingen möge,
niemals festgehalten werden kann.
III. Graue Flächen und Bilder
35. Ein großer Teil chromatischer Versuche verlangt
ein mäßiges Licht. Dieses können wir sogleich durch
mehr oder minder graue Flächen bewirken, und wir haben
uns daher mit dem Grauen zeitig bekannt zu machen, wobei
wir kaum zu bemerken brauchen, daß in manchen Fällen
eine im Schatten oder in der Dämmerung stehende weiße
Fläche für eine graue gelten kann,
36. Da eine graue Fläche zwischen Hell und Dunkel innen
steht, so läßt sich das, was wir oben (29) als Phänomen
vorgetragen, zum bequemen Versuch erheben.
37. Man halte ein schwarzes Bild vor eine graue Fläche
und sehe unverwandt, indem es weggenommen wird, auf
denselben Fleck; der Raum, den es einnahm, erscheint
um vieles heller. Man halte auf eben diese Art ein
weißes Bild hin, und der Raum wird nachher dunk-
ler als die übrige Fläche erscheinen. Man verwende
das Auge auf der Tafel hin und wieder, so werden in
beiden Fällen die Bilder sich gleichfalls hin und her be-
wegen.
38. Ein graues Bild auf schwarzem Grunde erscheint viel
heller als dasselbe Bild auf weißem. Stellt man beide
Fälle nebeneinander, so kann man sich kaum überzeugen,
daß beide Bilder aus einem Topf gefärbt seien. Wir
glauben hier abermals die große Regsamkeit der Netzhaut
zu bemerken und den stillen Widerspruch, den jedes Leben-
dige zu äußern gedrungen ist, wenn ihm irgendein be-
stimmter Zustand dargeboten wird. So setzt das Einatmen
schon das Ausatmen voraus und umgekehrt, so jede Systole
ihre Diastole. Es ist die ewige Formel des Lebens, die
I. PHYSIOLOGISCHE FARBEN 5 1
sich auch hier äußert. Wie dem Auge das Dunkle geboten
wird, so fordert es das Helle; es fordert Dunkel, wenn man
ihm Hell entgegenbringt, und zeigt eben dadurch seine
Lebendigkeit, sein Recht, das Objekt zu fassen, indem
es etwas, das dem Objekt entgegengesetzt ist, aus sich
selbst hervorbringt.
IV. Blendendes farbloses Bild
39. Wenn man ein blendendes, völlig farbloses Bild
ansieht, so macht solches einen starken dauernden Ein-
druck, und das Abklingen desselben ist von einer Farben-
erscheinung begleitet.
40. In einem Zimmer, das möglichst verdunkelt worden,
habe man im Laden eine runde Öffnung, etwa drei Zoll
im Durchmesser, die man nach Belieben auf- und zudecken
kann; durch selbige lasse man die Sonne auf ein weißes
Papier scheinen und sehe in einiger Entfernung starr das
erleuchtete Rund an; man schließe darauf die Öffnung
und blicke nach dem dunkelsten Orte des Zimmers, so
wird man eine runde Erscheinung vor sich schweben sehen.
Die Mitte des Kreises wird man hell, farblos, einigermaßen
gelb sehen, der Rand aber wird sogleich purpurfarben
erscheinen.
Es dauert eine Zeitlang, bis diese Purpurfarbe von außen
herein den ganzen Kreis zudeckt und endlich den hellen
Mittelpunkt völlig vertreibt. Kaum erscheint aber das
ganze Rund purpurfarben, so fängt der Rand an, blau zu
werden, das Blaue verdrängt nach und nach hereinwärts
den Purpur, Ist die Erscheinung vollkommen blau, so
wird der Rand dunkel und unfärbig. Es währet lange,
bis der unfärbige Rand völlig das Blaue vertreibt und der
ganze Raum unfärbig wird. Das Bild nimmt sodann nach
und nach ab, und zwar dergestalt, daß es zugleich schwächer
und kleiner wird. Hier sehen wir abermals, wie sich die
Netzhaut durch eine Sukzession von Schwingungen gegen
den gewaltsamen äußern Eindruck nach und nach wieder
herstellt. (25. 26.)
41. Die Verhältnisse des Zeitmaßes dieser Erscheinunsr
5 2 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHF:R TEIL
habe ich an meinem Auge, bei mehrem Versuchen über-
einstimmend, folgendermaßen gefunden.
Auf das blendende Bild hatte ich fünf Sekunden gesehen,
darauf den Schieber geschlossen; da erblickt ich das farbige
Scheinbild schwebend, und nach dreizehn Sekunden er-
schien es ganz purpurfarben. Nun vergingen wieder
neunundzwanzig Sekunden, bis das Ganze blau erschien,
und achtundvierzig, bis es mir farblos vorschwebte. Durch
Schließen und Öffnen des Auges belebte ich das Bild
immer wieder (27), so daß es sich erst nach Verlauf von
sieben Minuten ganz verlor.
Künftige Beobachter werden diese Zeiten kürzer oder
länger finden, je nachdem sie stärkere oder schwächere
Augen haben (23). Sehr merkwürdig aber wäre es, wenn
man demungeachtet durchaus ein gewisses Zahlenverhält-
nis dabei entdecken könnte.
42. Aber dieses sonderbare Phänomen erregt nicht sobald
unsre Aufmerksamkeit, als wir schon eine neue Modifika-
tion desselben gewahr werden.
Haben wir, wie oben gedacht, den Lichteindruck im Auge
aufgenommen und sehen in einem mäßig erleuchteten
Zimmer auf einen hellgrauen Gegenstand, so schwebt aber-
mals ein Phänomen vor uns, aber ein dunkles, das sich
nach und nach von außen mit einem grünen Rande ein-
faßt, welcher ebenso wie vorher der purpurne Rand sich
über das ganze Rund hineinwärts verbreitet. Ist dieses
geschehen, so sieht man nunmehr ein schmutziges Gelb,
das, wie in dem vorigen Versuche das Blau, die Scheibe
ausfüllt und zuletzt von einer Unfarbe verschlungen wird.
43. Diese beiden Versuche lassen sich kombinieren, wenn
man in einem mäßig heilen Zimmer eine schwarze und
weiße Tafel nebeneinander hinsetzt und, solange das Auge
den Lichteindruck behält, bald auf die weiße, bald auf
die schwarze Tafel scharf hinblickt. Man wird alsdann
im Anfange bald ein purpurnes, bald ein grünes Phäno-
men und so weiter das übrige gewahr werden. Ja, wenn
man sich geübt hat, so lassen sich, indem man das schwe-
bende Phänomen dahin bringt, wo die zwei Tafeln an-
einander stoßen, die beiden entgegengesetzten Farben
I. PHYSIOLOGISCHE FARBEN 53
zugleich erblicken, welches um so bequemer geschehen
kann, als die Tafeln entfernter stehen, indem das Spek-
trum alsdann größer erscheint.
44. Ich befand mich gegen Abend in einer Eisenschmiede,
als eben die glühende Masse unter den Hammer gebracht
wurde. Ich hatte scharf darauf gesehen, wendete mich
um und blickte zufällig in einen offenstehenden Kohlen-
schoppen. Ein ungeheures purpurfarbnes Bild schwebte
nun vor meinen Augen, und als ich den Blick von der
dunkeln Öffnung weg nach dem hellen Bretterverschlag
wendete, so erschien mir das Phänomen halb grün, halb
purpurfarben, je nachdem es einen dunklern oder hel-
lem Grund hinter sich hatte. Auf das Abklingen dieser
Erscheinung merkte ich damals nicht.
45. Wie das Abklingen eines umschriebenen Glanzbildes
verhält sich auch das Abklingen einer totalen Blendung
der Retina. Die Purpurfarbe, welche die vom Schnee Ge-
blendeten erblicken, gehört hieher so wie die ungemein
schöne grüne Farbe dunkler Gegenstände, nachdem man
auf ein weißes Papier in der Sonne lange hingesehen.
Wie es sich näher damit verhalte, werden diejenigen künf-
tig untersuchen, deren jugendliche Augen um der Wissen-
schaft willen noch etwas auszustehen fähig sind.
46. Hieher gehören gleichfalls die schwarzen Buchstaben,
die im Abendlichte rot erscheinen. Vielleicht gehört auch
die Geschichte hieher, daß sich Blutstropfen auf dem
Tische zeigten, an den sich Heinrich der Vierte von
Frankreich mit dem Herzog von Guise, um Würfel zu
spielen, gesetzt hatte.
V. Farbige Bilder
47. Wir wurden die physiologischen Farben zuerst beim
Abklingen farbloser blendender Bilder sowie auch bei
abklingenden allgemeinen farblosen Blendungen gewahr.
Nun finden wir analoge Erscheinungen, wenn dem Auge
eine schon spezifizierte Farbe geboten wird, wobei uns
alles, was wir bisher erfahren haben, immer gegenwärtig
bleiben muß.
54 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
48. Wie von den farblosen Bildern, so bleibt auch von
den farbigen der Eindruck im Auge, nur daß uns die zur
Opposition aufgeforderte und durch den Gegensatz eine
Totalität hervorbringende Lebendigkeit der Netzhaut an-
schaulicher wird.
49. Man halte ein kleines Stück lebhaft farbigen Papiers
oder seidnen Zeuges vor eine mäßig erleuchtete weiße
Tafel, schaue unverwandt auf die kleine farbige Fläche
und hebe sie, ohne das Auge zu verrücken, nach einiger
Zeit hinweg, so wird das Spektrum einer andern Farbe
auf der weißen Tafel zu sehen sein. Man kann auch das
farbige Papier an seinem Orte lassen und mit dem Auge
auf einen andern Fleck der weißen Tafel hinblicken, so
wird jene farbige Erscheinung sich auch dort sehen lassen:
denn sie entspringt aus einem Bilde, das nunmehr dem
Auge angehört,
50. Um in der Kürze zu bemerken, welche Farben denn
eigentlich durch diesen Gegensatz hervorgerufen werden,
bediene man sich des illuminierten Farbenkreises unserer
Taieln, der überhaupt naturgemäß eingerichtet ist und
auch hier seine guten Dienste leistet, indem die in dem-
selben diametral einander entgegengesetzten Farben die-
jenigen sind, welche sich im Auge wechselsweise fordern.
So fordert Gelb das Violette, Orange das Blaue, Purpur
das Grüne und umgekehrt. So fordern sich alle Abstu-
fungen wechselsweise, die einfachere Farbe fordert die
zusammengesetztere und umgekehrt.
51. Öfter, als wir denken, kommen uns die hieher gehö-
rigen Fälle im gemeinen Leben vor, ja der Aufmerksame
sieht diese Erscheinungen überall, da sie hingegen von
dem ununterrichteten Teil der Menschen wie von unsem
Vorfahren als flüchtige Fehler angesehen werden, ja manch-
mal gar, als wären es Vorbedeutungen von Augenkrank-
heiten, sorgliches Nachdenken erregen. Einige bedeu-
tende Fälle mögen hier Platz nehmen.
52. Als ich gegen Abend in ein Wirtshaus eintrat und
ein wohlgewachsenes Mädchen mit blendend weißem Ge-
sicht, schwarzen Haaren und einem scharlachroten Mieder
zu mir ins Zimmer trat, blickte ich sie, die in einiger Ent-
I. PHYSIOLOGISCHE FARBEN 55
femung vor mir stand, in der Halbdämmerung scharf an.
Indem sie sich nun darauf hinwegbewegte, sah ich auf
der mir entgegenstehenden weißen Wand ein schwarzes
Gesicht, mit einem hellen Schein umgeben, und die übrige
Bekleidung der völlig deutlichen Figiu: erschien von einem
schönen Meergrün.
53. Unter dem optischen Apparat befinden sich Brust-
bilder von Farben und Schattierungen, denen entgegen-
gesetzt, welche die Natur zeigt, und man will, wenn man
sie eine Zeitlang angeschaut, die Scheingestalt alsdann
ziemlich natürlich gesehen haben. Die Sache ist an sich
selbst richtig und der Erfahrung gemäß: denn in obigem
Falle hätte mir eine Mohrin mit weißer Binde ein weißes
Gesicht schwarz umgeben hervorgebracht; nur will es
bei jenen gewöhnlich klein gemalten Bildern nicht jeder-
mann glücken, die Teile der Scheinfigur gewahr zu wer-
den.
54. Ein Phänomen, das schon früher bei den Naturfor-
schem Aufmerksamkeit erregt, läßt sich, wie ich über-
zeugt bin, auch aus diesen Erscheinungen ableiten.
Man erzählt, daß gewisse Blumen im Sommer bei Abend-
zeit gleichsam blitzen, phosphoreszieren oder ein augen-
blickliches Licht ausströmen. Einige Beobachter geben
diese Erfahrungen genauer an.
Dieses Phänomen selbst zu sehen, hatte ich mich oft be-
müht, ja sogar, um es hervorzubringen, künstliche Versuche
angestellt.
Am 19. Juni 1799, ^^^ ich zu später Abendzeit bei der
in eine klare Nacht übergehenden Dämmerung mit einem
Freunde im Garten auf und ab ging, bemerkten wir sehr
deutlich an den Blumen des orientalischen Mohns, die
vor allen andern eine sehr mächtig rote Farbe haben,
etwas Flammenähnliches, das sich in ihrer Nähe zeigte.
Wir stellten uns vor die Stauden hin, sahen aufmerksam
darauf, konnten aber nichts weiter bemerken, bis uns end-
lich bei abermaligem Hin- und Wiedergehen gelang, in-
dem wir seitwärts darauf blickten, die Erscheinung so oft
zu wiederholen, als uns beliebte. Es zeigte sich, daß es
ein physiologisches Farbenphänomen und der scheinbare
5 6 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Blitz eig:entHch das Scheinbild der Blume in der gefor-
derten blaugrünen Farbe sei.
Wenn man eine Blume gerad ansieht, so kommt die Er-
scheinung nicht hervor; doch müßte es auch geschehen,
sobald man mit dem Blick wankte. Schielt man aber mit
dem Augenwinkel hin, so entsteht eine momentane Dop-
pelerscheinung, bei welcher das Scheinbild gleich neben
und an dem wahren Bilde erblickt wird.
Die Dämmerung ist Ursache, daß das Auge völlig ausge-
ruht und empfänglich ist, und die Farbe des Mohns ist '
mächtig genug, bei einer Sommerdämmerung der läng-
sten Tage noch vollkommen zu wirken und ein gefordertes
Bild hervorzurufen.
Ich bin überzeugt, daß man diese Erscheinung zum Ver-
suche erheben und den gleichen Eflfekt durch Papierblumen
hervorbringen könnte.
Will man indessen sich auf die Erfahrung in der Natur
vorbereiten, so gewöhne man sich, indem man durch den
Garten geht, die farbigen Blumen scharf anzusehen und
sogleich auf den Sandweg hinzublicken; man wird diesen
alsdann mit Flecken der entgegengesetzten Farbe bestreut
sehen. Diese Erfahrung glückt bei bedecktem Himmel,
aber auch selbst beim hellsten Sonnenschein, der, indem
er die Farbe der Blume erhöht, sie fähig macht, die ge-
forderte Farbe mächtig genug hervorzubringen, daß sie
selbst bei einem blendenden Lichte noch bemerkt werden
kann. So bringen die Päonien schön grüne, die Calendeln
lebhaft blaue Spektra hervor.
55. So wie bei den Versuchen mit farbigen Bildern auf
einzelnen Teilen der Retina ein Farbenwechsel gesetz-
mäßig entsteht, so geschieht dasselbe, wenn die ganze
Netzhaut von einer Farbe affiziert wird. Hievon können
wir uns überzeugen, wenn wir farbige Glasscheiben vors
Auge nehmen. Man blicke eine Zeitlang durch eine blaue
Scheibe, so wird die Welt nachher dem befreiten Auge
wie von der Sonne erleuchtet erscheinen, wenn auch
gleich der Tag grau und die Gegend herbstlich farblos
wäre. Ebenso sehen wir, indem wir eine grüne Brille
weglegen, die Gegenstände mit einem rötlichen Schein
I. PHYSIOLOGISCHE FARBEN 57
überglänzt. Ich sollte daher glauben, daß es nicht wohl-
getan sei, zu Schonung der Augen sich grüner Gläser
oder grünen Papiers zu bedienen, weil jede Farbspezifi-
kation dem Auge Gewalt antut und das Organ zur Oppo-
sition nötigt.
56. Haben wir bisher die entgegengesetzten Farben sich
einander sukzessiv auf der Retina fordern sehen, so bleibt
uns noch übrig zu erfahren, daß diese gesetzliche Forde-
rung auch simultan bestehen könne. Malt sich auf einem
Teile der Netzhaut ein farbiges Bild, so findet sich der
übrige Teil sogleich in einer Disposition, die bemerkten
korrespondierenden Farben hervorzubringen. Setzt man
obige Versuche fort und blickt z. B. vor einer weißen
Fläche auf ein gelbes Stück Papier, so ist der übrige Teil
des Auges schon disponiert, auf gedachter farbloser Fläche
das Violette hervorzubringen. Allein das wenige Gelbe
ist nicht mächtig genug, jene Wirkung deutlich zu leisten.
Bringt man aber auf eine gelbe Wand weiße Papiere,
so wird man sie mit einem violetten Ton überzogen
sehen.
57. Ob man gleich mit allen Farben diese Versuche an-
stellen kann, so sind doch besonders dazu Grün und Pur-
pur zu empfehlen, weil diese Farben einander auffallend
hervorrufen. Auch im Leben begegnen uns diese Fälle
häufig. Blickt ein grünes Papier durch gestreiften oder
geblümten Musselin hindurch, so werden die Streifen oder
Blumen rötlich erscheinen. Durch grüne Schaltern ein
graues Haus gesehen, erscheint gleichfalls rötlich. Die
Purpurfarbe an dem bewegten Meer ist auch eine gefor-
derte Farbe. Der beleuchtete Teil der Wellen erscfieint
grün in seiner eigenen Farbe imd der beschattete in der
entgegengesetzten purpurnen. Die verschiedene Richtung
der Wellen gegen das Auge bringt ebendie Wirkung her-
vor. Durch eine Öffnung roter oder grüner Vorhänge er-
scheinen die Gegenstände draußen mit der geforderten
Farbe. Übrigens werden sich diese Erscheinungen dem
Aufmerksamen überall, ja bis zur Unbequemlichkeit
zeigen.
58. Haben wir das Simultane dieser Wirkungen bisher
5 8 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
in den direkten Fällen kennen gelernt, so können wir
solche auch in den umgekehrten bemerken. Nimmt man
ein sehr lebhaft orange gefärbtes Stückchen Papier vor
die weiße Fläche, so wird man, wenn man es scharf an-
sieht, das auf der übrigen Fläche geforderte Blau schwer-
lich gewahr werden. Nimmt man aber das orange Papier
weg und erscheint an dessen Platz das blaue Scheinbild,
so wird sich in dem Augenblick, da dieses völlig wirk-
sam ist, die übrige Fläche wie in einer Art von AVetter-
leuchten mit einem rötlichgelben Schein überziehen und
wird dem Beobachter die produktive Forderung dieser
Gesetzlichkeit zum lebhaften Anschauen bringen.
59. Wie die geforderten Farben da, wo sie nicht sind,
neben und nach der fordernden leicht erscheinen, so wer-
den sie erhöht da, wo sie sind. In einem Hofe, der mit
grauen Kalksteinen gepflastert und mit Gras durchwachsen
war, erschien das Gras von einer unendlich schönen
Grüne, als Abendwolken einen rötHchen, kaum bemerk-
lichen Schein auf das Pflaster warfen. Im umgekehrten
Falle sieht derjenige, der bei einer mittleren Helle des
Himmels auf Wiesen wandelt und nichts als Grün vor
sich sieht, öfters die Baumstämme und Wege mit einem
rötlichen Scheine leuchten. Bei Landschaftmalern, be-
sonders denjenigen, die mit Aquarellfarben arbeiten,
kommt dieser Ton öfters vor. Wahrscheinlich sehen sie
ihn in der Natur, ahmen ihn unbewußt nach, und ihre
Arbeit wird als unnatürlich getadelt.
60. Diese Phänomene sind von der größten Wichtigkeit,
indem sie uns auf die Gesetze des Sehens hindeuten
und zu künftiger Betrachtung der Farben eine notwen-
dige Vorbereitung sind. Das Auge verlangt dabei ganz
eigentlich Totalität und schließt in sich selbst den Farben-
kreis ab. In dem vom Gelben geforderten Violetten liegt
das Rote und Blaue, im Orange das Gelbe und Rote, dem
das Blaue entspricht; das Grüne vereinigt Blau und Gelb
und fordert das Rote, und so in allen Abstufungen dei
verschiedensten Mischungen. Daß man in diesem Falle
genötigt werde, drei Hauptfarben anzunehmen, ist schon
früher von den Beobachtern bemerkt worden.
I. PHYSIOLOGISCHE FARBEN 59
61. Wenn in der Totalität die Elemente, woraus sie zu-
sammenwächst, noch bemerklich sind, nennen wir sie
billig Harmonie, und wie die Lehre von der Harmonie
der Farben sich aus diesen Phänomenen herleite, wie nur
durch diese Eigenschaften die Farbe fähig sei, zu ästhe-
tischem Gebrauch angewendet zu werden, muß sich in
der Folge zeigen, wenn wir den ganzen Kreis der Be-
obachtungen durchlaufen haben und auf den Punkt, wo-
von wir ausgegangen sind, zurückkehren.
VI. Farbige Schatten
62. Ehe wir jedoch weiter schreiten, haben wir noch
höchst merkwürdige Fälle dieser lebendig geforderten,
nebeneinander bestehenden Farben zu beobachten, und
zwar indem wir unsre Aufmerksamkeit auf die farbi-
gen Schatten richten. Um zu diesen überzugehen,
wenden wir uns vorerst zur Betrachtung der farblosen
Schatten.
63. Ein Schatten, von der Sonne auf eine weiße Fläche
geworfen, gibt uns keine Empfindung von Farbe, solange
die Sonne in ihrer völligen Kraft wirkt. Er scheint schwarz
oder, wenn ein Gegenlicht hinzudringen kann, schwächer,
halberhellt, grau.
64. Zu den farbigen Schatten gehören zwei Bedingungen:
erstlich, daß das wirksame Licht auf irgendeine Art die
weiße Fläche färbe, zweitens, daß ein Gegenlicht den
geworfenen Schatten auf einen gewissen Grad er-
leuchte.
65. Man setze bei der Dämmerung auf ein weißes Papier
eine niedrig brennende Kerze; zwischen sie und das ab-
nehmende Tageslicht stelle man einen Bleistift aufrecht,
so daß der Schatten, welchen die Kerze wirft, von dem
schwachen Tageslicht erhellt, aber nicht aufgehoben wer-
den kann, und der Schatten wird von dem schönsten Blau
erscheinen.
66. Daß dieser Schatten blau sei, bemerkt man also-
bald; aber man überzeugt sich nur durch Aufmerksam-
keit, daß das weiße Papier als eine rötlichgelbe Fläche
6 o DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
wirkt, durch welchen Schein jene blaue Farbe im Auge
gefordert wird.
67. Bei allen farbigen Schatten daher muß man auf der
Fläche, auf welche er geworfen wird, eine erregte Farbe
vermuten, welche sich auch bei aufmerksamerer Betrach-
tung wohl erkennen läßt. Doch überzeuge man sich vor-
her durch folgenden Versuch.
68. Man nehme zur Nachtzeit zwei brennende Kerzen
und stelle sie gegeneinander auf eine weiße Fläche; man
halte einen dünnen Stab zwischen beiden aufrecht, so
daß zwei Schatten entstehen; man nehme ein farbiges
Glas und halte es vor das eine Licht, also daß die weiße
Fläche gefärbt erscheine, und in demselben Augenblick
wird der von dem nunmehr färbenden Lichte geworfene
und von dem farblosen Lichte beleuchtete Schatten die
geforderte Farbe anzeigen.
69. Es tritt hier eine wichtige Betrachtung ein, auf die
wir noch öfters zurückkommen werden. Die Farbe selbst
ist ein Schattiges (p-ueqöv), deswegen Kircher vollkom-
men recht hat, sie lumen opacatum zu nennen, und wie
sie mit dem Schatten verwandt ist, so verbindet sie sich
auch gern mit ihm, sie erscheint uns gern in ihm und
durch ihn, sobald der Anlaß nur gegeben ist, und so
müssen wir bei Gelegenheit der farbigen Schatten zu-
gleich eines Phänomens erwähnen, dessen Ableitung und
Entwickelung erst später vorgenommen werden kann.
70. Man wähle in der Dämmerung den Zeitpunkt, wo
das einfallende Himmelslicht noch einen Schatten zu wer-
fen imstande ist, der von dem Kerzenlichte nicht ganz auf-
gehoben werden kann, so daß vielmehr ein doppelter fällt,
einmal vom Kerzenlicht gegen das Himmelslicht und so-
dann vom Himmelslicht gegen das Kerzenlicht. Wenn
der erstere blau ist, so wird der letztere hochgelb er-
scheinen. Dieses hohe Gelb ist aber eigentlich nur der
über das ganze Papier von dem Kerzenlicht verbreitete
gelbrötUche Schein, der im Schatten sichtbar wird.
71. Hieven kann man sich bei dem obigen Versuche
mit zwei Kerzen und farbigen Gläsern am besten über-
zeugen, so wie die unglaubliche Leichtigkeit, womit der
I. PHYSIOLOGISCHE FARBEN 61
Schatten eine Farbe annimmt, bei der nähern Betrach-
tung der Widerscheine und sonst mehrmals zur Sprache
kommt.
7 2 . Und so wäre denn auch die Erscheinung der farbigen
Schatten, welche den Beobachtern bisher so viel zu schaf-
fen gemacht, bequem abgeleitet. Ein jeder, der künftig-
hin farbige Schatten bemerkt, beobachte nur, mit welcher
Farbe die helle Fläche, worauf sie erscheinen, etwa tin-
giert sein möchte. Ja, man kann die Farbe des Schattens
als ein Chromatoskop der beleuchteten Flächen ansehen,
indem man die der Farbe des Schattens entgegenstehende
Farbe auf der Fläche vermuten und bei näherer Aufmerk-
samkeit in jedem Falle gewahr werden kann.
73. Wegen dieser nunmehr bequem abzuleitenden far-
bigen Schatten hat man sich bisher viel gequält und sie,
weil sie meistenteils unter freiem Himmel beobachtet
wurden und vorzüglich blau erschienen, einer gewissen
heimlich blauen und blau färbenden Eigenschaft der Luft
zugeschrieben. Man kann sich aber bei jenem Versuche
mit dem Kerzenlicht im Zimmer überzeugen, daß keine
Art von blauem Schein oder Widerschein dazu nötig ist,
indem man den Versuch an einem grauen trüben Tag,
ja hinter zugezogenen weißen Vorhängen anstellen kann,
in einem Zimmer, wo sich auch nicht das mindeste Blaue
befindet, und der blaue Schatten wird sich nur um desto
schöner zeigen.
74. Saussure sagt in der Beschreibung seiner Reise auf
den Montblanc:
"Eine zweite nicht uninteressante Bemerkung betrifift die
Farben der Schatten, die wir trotz der genausten Beob-
achtung nie dunkelblau fanden, ob es gleich in der Ebene
häufig der Fall gewesen war. Wir sahen sie im Gegenteil
von neunundfunfzigmal einmal gelblich, sechsmal blaß-
bläulich, achtzehnmal farbenlos oder schwarz und vier-
unddreißigmal blaßviolett.
Wenn also einige Physiker annehmen, daß diese Farben
mehr von zufälligen, in der Luft zerstreuten, den Schatten
ihre eigentümlichen Nuancen mitteilenden Dünsten her-
rühren nicht aber durch eine bestimmte Luft- oder reflek-
6 2 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
tierte Himmelsfarbe verursacht werden, so scheinen jene
Beobachtungen ihrer Meinung günstig zu sein."
Die von de Saussure angezeigten Erfahrungen werden wir
nun bequem einrangieren können.
Auf der großen Höhe war der Himmel meistenteils rein
von Dünsten, Die Sonne wirkte in ihrer ganzen Kraft
auf den weißen Schnee, so daß er dem Auge völlig weiß
erschien, und sie sahen bei dieser Gelegenheit die Schat-
ten völlig farbenlos. War die Luft mit wenigen Dünsten
geschwängert und entstand dadurch ein gelblicher Ton
des Schnees, so folgten violette Schatten, und zwar waren
diese die meisten. Auch sahen sie bläuliche Schatten, je-
doch seltener, und daß die blauen und violetten nur blaß
waren, kam von der hellen und heiteren Umgebung, wo-
durch die Schattenstärke gemindert wurde. Nur einmal
sahen sie den Schatten gelblich, welches, wie wir oben
(70.) gesehen haben, ein Schatten ist, der von einem farb-
losen Gegenlichte geworfen und von dem färbenden Haupt-
lichte erleuchtet worden.
75. Auf einer Harzreise im Winter stieg ich gegen Abend
vom Brocken herunter; die weiten Flächen auf- und ab-
wärts waren beschneit, die Heide von Schnee bedeckt,
alle zerstreut stehenden Bäume und vorragenden Klip-
pen, auch alle Baum- imd Felsenmassen völlig bereift, die
Sonne senkte sich eben gegen die Oderteiche hinunter.
Waren den Tag über bei dem gelblichen Ton des Schnees
schon leise violette Schatten bemerklich gewesen, so
mußte man sie nun für hochblau ansprechen, als ein ge-
steigertes Gelb von den beleuchteten Teilen wider-
schien.
Als aber die Sonne sich endlich ihrem Niedergang näherte
und ihr durch die stärkeren Dünste höchst gemäßigter
Strahl die ganze mich umgebende Welt mit der schön-
sten Purpurfarbe überzog, da verwandelte sich die Schat-
tenfarbe in ein Grün, das nach seiner Klarheit einem
Meergrün, nach seiner Schönheit einem Smaragdgrün
verglichen werden konnte. Die Erscheinung ward immer
lebhafter, man glaubte sich in einer Feenwelt /.u befinden,
denn alles hatte sich in die zwei lebhalten und so schön
I. PHYSIOLOGISCHE FARBEN 63
tibereinstimmenden Farben gekleidet, bis endlich mit dem
Sonnenuntergang die Prachterscheinung sich in eine graue
Dämmerung und nach und nach in eine mond- und stern-
helle Nacht verlor.
76. Einer der schönsten Fälle farbiger Schatten kann bei
dem Vollmonde beobachtet werden. Der Kerzen- und
Mondenschein lassen sich völlig ins Gleichgewicht brin-
gen. Beide Schatten können gleich stark und deutlich
dargestellt werden, so daß beide Farben sich vollkommen
balancieren. Man setzt die Tafel dem Scheine des Voll-
mondes entgegen, das Kerzenlicht ein wenig an die Seite^
in gehöriger Entfernung, vor die Tafel hält man einen
undurchsichtigen Körper; alsdann entsteht ein doppelter
Schatten, und zwar wird derjenige, den der Mond wirft
und das Kerzenlicht bescheint, gewaltig rotgelb, und um-
gekehrt der, den das Licht wirft und der Mond bescheint,
vom schönsten Blau gesehen werden. Wo beide Schatten
zusammentreffen und sich zu einem vereinigen, ist er
schwarz. Der gelbe Schatten läßt sich vielleicht auf keine
Weise auffallender darstellen. Die unmittelbare Nähe des
blauen, der dazwischentretende schwarze Schatten machen
die Erscheinung desto angenehmer. Ja, wenn der Blick
lange auf der Tafel verweilt, so wird das geforderte Blau
das fordernde Gelb wieder gegenseitig fordernd steigern
und ins Gelbrote treiben, welches denn wieder seinen
Gegensatz, eine Art von Meergrün, hervorbringt.
77. Hier ist der Ort zu bemerken, daß es wahrscheinlich
eines Zeitmomentes bedarf, um die geforderte Farbe her-
vorzubringen. Die Retina muß von der fordernden Farbe
erst recht affiziert sein, ehe die geforderte lebhaft be-
merklich wird.
78. Wenn Taucher sich unter dem Meere befinden und
das Sonnenlicht in ihre Gloclce scheint, so ist alles Be-
leuchtete, was sie umgibt, purpurfarbig (wovon künftig
die Ursache anzugeben ist), die Schatten dagegen sehen
grün aus. Eben dasselbe Phänomen, was ich auf einem
hohen Berge gewahr wurde (75), bemerken sie in der
Tiefe des Meers, und so ist die Natur mit sich selbst
durchaus übereinstimmend.
64 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
79. Einige Erfahrungen und Versuche, welche sich zwi-
schen die Kapitel von farbigen Bildern und von farbigen
Schatten gleichsam einschieben, werden hier nachge-
bracht.
Man habe an einem Winterabende einen weißen Papier-
laden inwendig vor dem Fenster eines Zimmers; in die-
sem Laden sei eine Öffnung, wodurch man den Schnee
eines etwa benachbarten Daches sehen könne; es sei
draußen noch einigermaßen dämmrig imd ein Licht
komme in das Zimmer, so wird der Schnee durch die
Öffnung vollkommen blau erscheinen, weil nämlich das
Papier durch das Kerzenlicht gelb gefärbt wird. Der
Schnee, welchen man durch die Öffnung sieht, tritt hier
an die Stelle eines durch ein Gegenlicht erhellten Schat-
tens oder, wenn man will, eines grauen Bildes auf gelber
Fläche.
80. Ein andrer sehr interessanter Versuch mache den
Schluß.
Nimmt man eine Tafel grünen Glases von einiger Stärke
und läßt darin die Fensterstäbe sich spiegeln, so wird
man sie doppelt sehen, und zwar wird das Bild, das von
der untern Fläche des Glases kommt, grün sein, das Bild
hingegen, das sich von der obern Fläche herleitet und
eigentlich farblos sein sollte, wird purpurfarben er-
scheinen.
An einem Gefäß, dessen Boden spiegelartig ist, welches
man mit Wasser füllen kann, läßt sich der Versuch sehr
artig anstellen, indem man bei reinem Wasser erst die
farblosen Bilder zeigen und durch Färbung desselben so-
dann die farbigen Bilder produzieren kann.
VII. Schwachwirkende Lichter
81. Das energische Licht erscheint rein weiß, und diesen
Eindruck macht es auch im höchsten Grade der Blen-
dung. Das nicht in seiner ganzen Gewalt wirkende Licht
kann auch noch unter verschiedenen Bedingungen farb-
los bleiben. Mehrere Naturforscher und Mathematiker
haben die Stufen desselben zu messen gesucht (Lambert,
Bouguer, Rumford).
I. PHYSIOLOGISCHE FARBEN 65
82. Jedoch findet sich bei schwächer wirkenden Lichtern
bald eine Farbenerscheinung, indem sie sich wie abklin-
gende Bilder verhalten (39).
83. Irgendein Licht wirkt schwächer, entweder wenn
seine Energie, es geschehe, wie es wolle, gemindert wird
oder wenn das Auge in eine Disposition gerät, die Wir-
kung nicht genugsam erfahren zu können. Jene Erschei-
nungen, welche objektiv genannt werden können, finden
ihren Platz bei den physischen Farben. Wir erwähnen
hier nur des Übergangs vom Weißgliihen bis zum Rot-
glühen des erhitzten Eisens. Nicht weniger bemerken wir,
daß Kerzen auch bei Nachtzeit, nach Maßgabe, wie man
sie vom Auge entfernt, röter scheinen.
84. Der Kerzenschein bei Nacht wirkt in der Nähe als
ein gelbes Licht; wir können es an der Wirkung bemer-
ken, welche auf die übrigen Farben hervorgebracht wird.
Ein Blaßgelb ist bei Nacht wenig von dem Weißen zu
unterscheiden; das Blaue nähert sich dem Grünen und
ein Rosenfarb dem Orangen.
85. Der Schein des Kerzenlichts bei der Dämmrung
wirkt lebhaft als ein gelbes Licht, welches die blauen
Schatten am besten beweisen, die bei dieser Gelegenheit
im Auge hervorgerufen werden.
86. Die Retina kann durch ein starkes Licht dergestalt
gereizt werden, daß sie schwächere Lichter nicht erken-
nen kann (11). Erkennt sie solche, so erscheinen sie far-
big; daher sieht ein Kerzenlicht bei Tage rötlich aus, es
verhält sich wie ein abklingendes; ja ein Kerzenlicht, das
man bei Nacht länger und schärfer ansieht, erscheint
immer röter.
87. Es gibt schwach wirkende Lichter, welche demunge-
achtet eine weiße, höchstens hellgelbliche Erscheinung
auf der Retina machen, wie -der Mond in seiner vollen
Klarheit. Das faule Holz hat sogar eine Art von bläu-
lichem Schein. Dieses alles wird künftig wieder zur
Sprache kommen.
88. Wenn man nahe an eine weiße oder grauliche Wand
nachts ein Licht stellt, so wird sie von diesem Mittel-
punkt aus auf eine ziemliche Weite erleuchtet sein. Be-
GOETHE XVII 5.
6 6 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
trachtet man den daher entstehenden Kreis aus einiger
Ferne, so erscheint uns der Rand der erleuchteten Fläche
mit einem gelben, nach außen rotgelben Kreise umgeben,
und wir werden aufmerksam gemacht, daß das Licht,
wenn es scheinend oder widerscheinend nicht in seiner
größten Energie auf uns wirkt, unserm Auge den Eindruck
vom Gelben, Rötlichen und zuletzt sogar vom Roten gebe.
Hier finden wir den Übergang zu den Höfen, die wir um
leuchtende Punkte auf eine oder die andre Weise zu sehen
pflegen.
VIII. Subjektive Höfe
89. Man kann die Höfe in subjektive und objektive ein-
teilen. Die letzten werden unter den physischen Farben
abgehandelt, nur die ersten gehören hieher. Sie unter-
scheiden sich von den objektiven darin, daß sie verschwin-
den, wenn man den leuchtenden Gegenstand, der sie auf
der Netzhaut hervorbringt, zudeckt.
90. Wir haben oben den Eindruck des leuchtenden Bil-
des auf die Retina gesehen und wie es sich auf derselben
vergrößert; aber damit ist die Wirkung noch nicht voll-
endet. Es wirkt nicht allein als Bild, sondern auch als
Energie über sich hinaus; es verbreitet sich vom Mittel-
punkte aus nach der Peripherie.
91. Daß ein solcher Nimbus um das leuchtende Bild in
unserm Auge bewirket werde, kann man am besten in der
dunkeln Kammer sehen, wenn man gegen eine mäßig
große Öffnung im Fensterladen hinblickt. Hier ist das
helle Bild von einem runden Nebelschein umgeben.
Einen solchen Nebelschein sah ich mit einem gelben und
gelbroten Kreise umgeben, als ich mehrere Nächte in
einem Schlafwagen zubrachte und morgens bei dämmern-
dem Tageslichte die Augen aufschlug.
92. Die Höfe erscheinen am lebhaftesten, wenn das Auge
ausgeruht und empfänglich ist. Nicht weniger vor einem
dunklen Hintergrund. Beides ist die Ursache, daß wir sie
so stark sehen, wenn wir nachts aufwachen und uns ein
Licht entgegengebracht wird. Diese Bedingungen fanden
sich auch zusammen, als Descartes im Schiff sitzend ge-
I. PHYSIOLOGISCHE FARBEN 67
schlafen hatte und so lebhafte farbige Scheine um das
Licht bemerkte.
93. Ein Licht muß mäßig leuchten, nicht blenden, wenn
es einen Hof im Auge erregen soll, wenigstens würden die
Höfe eines blendenden Lichtes nicht bemerkt werden
können. Wir sehen einen solchen Glanzhof um die Sonne,
welche von einer Wasserfläche ins Auge fällt.
94. Genau beobachtet, ist ein solcher Hof an seinem
Rande mit einem gelben Saume eingefaßt. Aber auch
hier ist jene energische Wirkung noch nicht geendigt,
sondern sie scheint sich in abwechselnden Kreisen weiter
fortzubewegen.
95. Es gibt viele Fälle, die auf eine kreisartige Wirkung
der Retina deuten, es sei nun, daß sie durch die runde
Form des Auges selbst und seiner verschiedenen Teile
oder sonst hervorgebracht werde.
96. Wenn man das Auge von dem innern Augenwinkel
her nur ein wenig drückt, so entstehen dunklere oder hel-
lere Kreise. Man kann bei Nachtzeit manchmal auch ohne
Druck eine Sukzession solcher Kreise gewahr werden,
von denen sich einer aus dem andern entwickelt, einer
vom andern verschlungen wird.
97. Wir haben schon einen gelben Rand um den von
einem nah gestellten Licht erleuchteten weißen Raum
gesehen. Dies wäre eine Art von objektivem Hof (88).
98. Die subjektiven Höfe können wir uns als den Kon-
flikt des Lichtes mit einem lebendigen Räume denken.
Aus dem Konflikt des Bewegenden mit dem Bewegten
entsteht eine undulierende Bewegung. Man kann das
, Gleichnis von den Ringen im Wasser hernehmen. Der
! hineingeworfene Stein treibt das Wasser nach allen Sei-
\ ten, die Wirkung erreicht eine höchste Stufe, sie klingt
ab und gelangt im Gegensatz zur Tiefe. Die Wirkimg
geht fort, kulminiert aufs neue^ und so wiederholen sich
die Kreise. Erinnert man sich der konzentrischen Ringe,
die in einem mit Wasser gefüllten Trinkglase entstehen,
wenn man versucht, einen Ton durch Reiben des Ran-
des hervorzubringen, gedenkt man der intermittierenden
Schwingungen beim Abklingen der Glocken, so nähert
68 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
man sich wohl in der Vorstelhing demjenigen, was auf
der Retina vorgehen mag, wenn sie von einem leuchten-
den Gegenstand getroffen wird, nur daß sie als lebendig
schon eine gewisse kreisartige Disposition in ihrer Orga-
nisation hat.
99. Die um das leuchtende Bild sich zeigende helle Kreis-
fläche ist gelb mit Rot geendigt. Darauf folgt ein grün-
licher Kreis, der mit einem roten Rande geschlossen ist.
Dies scheint das gewöhnliche Phänomen zu sein bei einer
gewissen Größe des leuchtenden Körpers. Diese Höfe
werden größer, je weiter man sich von dem leuchtenden
Bilde entfernt.
100. Die Höfe können aber auch im Auge unendlich
klein und vielfach erscheinen, wenn der erste Anstoß
klein und mächtig ist. Der Versuch macht sich am besten
mit einer auf der Erde liegenden, von der Sonne beschie-
nenen Goldflinter. In diesen Fällen erscheinen die Höfe
in bunten Strahlen. Jene farbige Erscheinung, welche die
Sonne im Auge macht, indem sie durch Baiunblätter dringt,
scheint auch hiebet zu gehören.
PATHOLOGISCHE FARBEN
Anhang
loi. Die physiologischen Farben kennen wir nunmehr
hinreichend, um sie von den pathologischen zu unter-
scheiden. Wir wissen, welche Erscheinungen dem ge-
sunden Auge zugehören und nötig sind, damit sich das
Organ vollkommen lebendig und tätig erzeige.
102. Die krankhaften Phänomene deuten gleichfalls auf
organische und physische Gesetze: denn wenn ein beson-
deres lebendiges Wesen von derjenigen Regel abweicht,
durch die es gebildet ist, so strebt es ins allgemeine Leben
hin, immer auf einem gesetzlichen Wege, und macht uns
auf seiner ganzen Bahn jene Maximen anschaulich, aus
welchen die Welt entsprungen ist und durch welche sie
zusammengehalten wird.
103. Wir sprechen hier zuerst von einem sehr merkwür-
I. PATHOLOGISCHE FARBEN 69
digen Zustande, in welchem sich die Augen mancher Per-
sonen befinden. Indem er eine Abweichung von der ge-
wöhnlichen Art, die Farben zu sehen, anzeigt, so gehört er
wohl zu den krankhaften; da er aber regelmäßig ist, öfter
vorkommt, sich auf mehrere Familienglieder erstreckt und
sich wahrscheinlich nicht heilen läßt, so stellen wir ihn
billig auf die Grenze.
104. Ich kannte zwei Subjekte, die damit behaftet waren,
nicht über zwanzig Jahr alt; beide hatten blaugraue Augen,
ein scharfes Gesicht in der Nähe und Ferne, bei Tages-
und Kerzenlicht, und ihre Art, die Farben zu sehen, war
in der Hauptsache völlig übereinstimmend.
1 05. Mit uns treffen sie zusammen, daß sie Weiß, Schwarz
und Grau nach unsrer Weise benennen; Weiß sahen sie
beide ohne Beimischung. Der eine wollte bei Schwarz
etwas Bräunliches und bei Grau etwas Rötliches bemer-
ken. Überhaupt scheinen sie die Abstufung von Hell und
Dunkel sehr zart zu empfinden.
106. Mit uns scheinen sie Gelb, Rotgelb und Gelbrot
zu sehen; bei dem letzten sagen sie, sie sähen das Gelbe
gleichsam über dem Rot schweben, wie lasiert. Karmin,
in der Mitte einer Untertasse dicht aufgetrocknet, nannten
sie Rot.
107. Nun aber tritt eine auffallende Differenz ein. Man
streiche mit einem genetzten Pinsel den Karmin leicht
über die weiße Schale, so werden sie diese entstehende
helle Farbe der Farbe des Himmels vergleichen und solche
Blau nennen. Zeigt man ihnen daneben eine Rose, so
nennen sie diese auch blau und können bei allen Proben,
die man anstellt, das Hellblau nicht von dem Rosenfarb
unterscheiden. Sie verwechseln Rosenfarb, Blau imd Vio-
lett durchaus; nur durch kleine Schattierungen des Helle-
ren, Dunkleren, Lebhafteren, Schwächeren scheinen sich
diese Farben für sie voneinander abzusondern.
108. Ferner können sie Grün von einem Dunkelorange,
besonders aber von einem Rotbraun nicht unterschei-
den.
109. Wenn man die Unterhaltung mit ihnen dem Zufall
überläßt und sie bloß über vorliegende Gegenstände be-
7 o DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
fragt, so gerät man in die größte Verwirrung und fürchtet,
wahnsinnig zu werden. Mit einiger Methode hingegen
kommt man dem Gesetz dieser Gesetzwidrigkeit schon
um vieles näher.
HO. Sie haben, wie man aus dem Obigen sehen kann,
weniger Farben als wir; daher denn die Verwechselung
von verschiedenen Farben entsteht. Sie nennen den Him-
mel rosenfarb und die Rose blau oder umgekehrt. Nun
fragt sich: sehen sie beides blau oder beides rosenfarb:
sehen sie das Grün orange oder das Orange grün?
111. Diese seltsamen Rätsel scheinen sich zu lösen,
wenn man annimmt, daß sie kein Blau, sondern an des-
sen Statt einen diluierten Purpur, ein Rosenfarb, ein hel-
les reines Rot sehen. Symbolisch kann man sich diese
Lösung einstweilen folgendermaßen vorstellen.
112. Nehmen wir aus unserm Farbenkreise das Blaue
heraus, so fehlt uns Blau, Violett und Grün. Das reine
Rot verbreitet sich an der Stelle der beiden ersten, und
wenn es wieder das Gelbe berührt, bringt es anstatt des
Grünen abermals ein Orange hervor.
113. Indem wir uns von dieser Erklärungsart überzeugt
halten, haben wir diese merkwürdige Abweichung vom
gewöhnlichen Sehen Akyanohlepsie genannt und zu besse-
rer Einsicht mehrere Figuren gezeichnet und illuminiert,
bei deren Erklärung wir künftig das Weitre beizubringen
gedenken. Auch findet man daselbst eine Landschaft, ge-
färbt nach der Weise, wie diese Menschen wahrscheinlich
die Natur sehen, den Himmel rosenfarb und alles Grüne
in Tönen vom Gelben bis zum Braunroten, ungefähr wie
es uns im Herbst erscheint.
114. Wir sprechen nunmehr von krankhaften sowohl als
allen widernatürlichen, außernatürlichen, seltenen Afifek-
tionen der Retina, wobei ohne äußres Licht das Auge
zu einer Lichterscheinung disponiert werden kann, und
behalten uns vor, des galvanischen Lichtes künftig zu er-
wähnen.
115. Bei einem Schlag aufs Auge scheinen Funken um-
her zu sprühen. Femer, wenn man in gewissen körper-
lichen Dispositionen, besonders bei erhitztem Blute und
I. PATHOLOGISCHE FARBEN 71
reger Empfindlichkeit, das Auge erst sachte, dann immer
stärker drückt, so kann man ein blendendes unerträgliches
Licht erregen.
116. Operierte Starkranke, wenn sie Schmerz und Hitze
im Auge haben, sehen häufig feurige Blitze und Funken,
welche zuweilen acht bis vierzehn Tage bleiben oder doch
so lange, bis Schmerz und Hitze weicht.
117. Ein Kranker, wenn er Ohrenschmerz bekam, sah
jederzeit Lichtfunken und Kugeln im Auge, solange der
Schmerz dauerte.
118. Wurmkranke haben oft sonderbare Erscheinungen
im Auge, bald Feuerfunken, bald Lichtgespenster, bald
schreckhafte Figuren, die sie nicht entfernen können,
bald sehen sie doppelt.
119. Hypochondristen sehen häufig schwarze Figuren, als
Fäden, Haare, Spinnen, Fliegen, Wespen. Diese Erschei-
mmgen zeigen sich auch bei anfangendem schwarzen
Star. Manche sehen halbdurchsichtige kleine Röhren, wie
Flügel von Insekten, Wasserbläschen von verschiedener
Größe, welche beim Heben des Auges niedersinken, zu-
weilen geradeso in Verbindung hängen wie Froschlaich
und bald als völlige Sphären, bald als Linsen bemerkt
werden.
1 20. Wie dort das Licht ohne äußeres Licht, so ent-
springen auch diese Bilder ohne äußre Bilder. Sie sind
teils vorübergehend, teils lebenslänglich dauernd. Hiebei
tritt auch manchmal eine Farbe ein: denn Hypochon-
dristen sehen auch häufig gelbrote schmale Bänder im
Auge, oft heftiger und häufiger am Morgen oder bei lee-
rem Magen.
121. Daß der Eindruck irgendeines Bildes im Auge ei-
nige Zeit verharre, kennen wir als ein physiologisches
Phänomen (23), die allzulange Dauer eines solchen Ein-
drucks hingegen kann als krankhaft angesehen werden.
122. Je schwächer das Auge ist, desto länger bleibt das
Bild in demselben. Die Retina stellt sich nicht sobald
wieder her, und man kann die Wirkung als eine Art von
Paralyse ansehen (28).
12-1. Von blendenden Bildern ist es nicht zu verwundern.
7 2 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Wenn man in die Sonne sieht, so kann man das Bild
mehrere Tage mit sich herumtragen. Boyle erzählt einen
Fall von zehn Jahren.
124. Das gleiche findet auch verhältnismäßig von Bil-
dern, welche nicht blendend sind, statt. Busch erzählt
von sich selbst, daß ihm ein Kupferstich vollkommen mit
allen seinen Teilen bei siebzehn Minuten im Auge ge-
blieben.
125. Mehrere Personen, welche zu Krampf und Voll-
blütigkeit geneigt waren, behielten das Bild eines hoch-
roten Kattuns mit weißen Muscheln viele Minuten lang
im Auge und sahen es wie einen Flor vor allem schwe-
ben. Nur nach langem Reiben des Auges verlor sichs.
126. Scherffer bemerkt, daß die Purpurfarbe eines ab-
klingenden starken Lichteindrucks einige Stmiden dauern
könne.
127. Wie wir durch Druck auf den Augapfel eine Licht-
erscheinung auf der Retina hervorbringen können, so ent-
steht bei schwachem Druck eine rote Farbe imd wird
gleichsam ein abklingendes Licht hervorgebracht.
128. Viele Kranke, wenn sie erwachen, sehen alles in
der Farbe des Morgenrots wie durch einen roten Flor;
auch wenn sie am Abend lesen und zwischendurch ein-
nicken und wieder aufwachen, pflegt es zu geschehen.
Dieses bleibt minutenlang und vergeht allenfalls, wenn
das Auge etwas gerieben wird. Dabei sind zuweilen rote
Sterne und Kugeln. Dieses Rotsehen dauert auch wohl
eine lange Zeit.
129. Die Luftfahrer, besonders Zambeccari und seine Ge-
fährten, wollen in ihrer höchsten Erhebung den Mond
blutrot gesehen haben. Da sie sich über die irdischen
Dünste emporgeschwungen hatten, dvirch welche wir den
Mond und die Sonne wohl in einer solchen Farbe sehen,
so läßt sich vermuten, daß diese Erscheinung zu den
pathologischen Farben gehöre. Es mögen nämlich die
Sinne durch den ungewohnten Zustand dergestalt affiziert
sein, daß der ganze Körper und besonders auch die Re-
tina in eine Art von Unrührbarkeit und Unreizbarkeit ver-
fällt. Es ist daher nicht unmöglich, daß der Mond als ein
I. PATHOLOGISCHE FARBEN 73
höchst abgestumpftes Licht wirke und also das Gefühl der
roten Farbe hervorbringe. Den Hamburger Luftfahrern
erschien auch die Sonne blutrot.
Wenn die Luftfahrenden zusammen sprechen imd sich
kaum hören, sollte nicht auch dieses der Unreizbarkeit
der Nerven ebensogut als der Dünne der Luft zugeschrie-
ben werden können?
130. Die Gegenstände werden von Kranken auch manch-
mal vielfarbig gesehen. Boyle erzählt von einer Dame,
daß sie nach einem Sturze, wobei ein Auge gequetscht
worden, die Gegenstände, besonders aber die weißen,
lebhaft bis zum Unerträglichen schimmern gesehen.
131. Die Ärzte nennen Chrupsie, wenn in typhischen
Krankheiten, besonders der Augen, die Patienten an den
Rändern der Bilder, wo Hell und Dunkel aneinander
grenzen, farbige Umgebungen zu sehen versichern. Wahr-
scheinlich entsteht in den Liquoren eine Veränderung,
wodurch ihre Achromasie aufgehoben wird.
132. Beim grauen Star läßt eine starkgetrübte Kristall-
linse den Kranken einen roten Schein sehen. In einem
solchen Falle, der durch Elektrizität behandelt wurde,
veränderte sich der rote Schein nach und nach in einen
gelben, zuletzt in einen weißen, und der Kranke fing an,
wieder Gegenstände gewahr zu werden, woraus man
schließen konnte, daß der trübe Zustand der Linse sich
nach und nach der Durchsichtigkeit nähere. Diese Er-
scheinung wird sich, sobald wir mit den physischen Far-
ben nähere Bekanntschaft gemacht, bequem ableiten
lassen.
133. Kann man nun annehmen, daß ein gelbsüchtiger
Kranker durch einen wirklich gelbgefärbten Liquor hin-
durchsehe, so werden wir schon in die Abteilung der
chemischen Farben verwiesen, und wir sehen leicht ein,
daß wir das Kapitel von den pathologischen Farben nur
dann erst vollkommen ausarbeiten können, wenn wir
uns mit der Farbenlehre in ihrem ganzen Umfang be-
kannt gemacht; deshalb sei es an dem Gegenwärtigen ge-
nug, bis wir später das Angedeutete weiter ausführen
können.
7 4 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
134. Nur möchte hier zum Schlüsse noch einiger beson-
dern Dispositionen des Auges vorläufig zu erwähnen
sein.
Es gibt Maler, welche, anstatt daß sie die natürliche
Farbe wiedergeben sollten, einen allgemeinen Ton, einen
warmen oder kalten, über das Bild verbreiten. So zeigt
sicli auch bei manchen eine Vorliebe für gewisse Farben,
bei andern ein Ungefühl für Harmonie.
135. Endlich ist noch bemerkenswert, daß wilde Natio-
nen, ungebildete Menschen, Kinder eine große Vorliebe
für lebhafte Farben empfinden, daß Tiere bei gewissen
Farben in Zorn geraten, daß gebildete Menschen in
Kleidung und sonstiger Umgebung die lebhaften Farben
vermeiden und sie durchgängig von sich zu entfernen
suchen.
ZWEITE ABTEILUNG. PHYSISCHE
FARBEN
ö.TAHYSISCHE Farben nennen wir diejenigen, zu de-
K^ren Hervorbringung gewisse materielle Mittel nötig
i sind, welche aber selbst keine Farbe haben und teils
durchsichtig, teils trüb und durchscheinend, teils völlig
undurchsichtig sein können. Dergleichen Farben werden
also in unserm Auge durch solche äußere bestimmte
Anlässe erzengt oder, wenn sie schon auf irgendeine
Weise außer uns erzeugt sind, in unser Auge zurück-
geworfen. Ob wir nun schon hiedurch denselben eine
Art von Objektivität zuschreiben, so bleibt doch das Vor-
übergehende, Nichtfestzuh alt ende meistens ihr Kenn-
zeichen.
137. Sie heißen daher auch bei den frühern Naturfor-
schern colores apparenfes, fluxi, fiigitivi, p/iantasiici, falsi,
variantes. Zugleich werden sie speciosi und emphatici we-
gen ihrer auffallenden Herrlichkeit genannt, Sie schHeßen
sich unmittelbar an die physiologischen an und scheinen
nur um einen geringen Grad mehr Realität zu haben.
Denn wenn bei jenen vorzüglich das Auge wirksam war
und wir die Phänomene derselben nur in uns, nicht aber
außer uns darzustellen vermochten, so tritt nun hier der
I Fall ein, daß zwar Farben im Auge durch farblose Gegen-
stände erregt werden, daß wir aber auch eine farblose
Fläche an die Stelle unserer Retina setzen und auf der-
I selben die Erscheinung außer uns gewahr werden können;
wobei ims jedoch alle Erfahrungen auf das bestimmteste
überzeugen, daß hier nicht von fertigen, sondern von
werdenden und wechselnden Farben die Rede sei,
138. Wir sehen uns deshalb bei diesen physischen Far-
ben durchaus imstande, einem subjektiven Phänomen
ein objektives an die Seite zu setzen und öfters durch die
Verbindung beider mit Glück tiefer in die Natur der Er-
scheinung einzudringen,
139. Bei den Erfahrungen also, wobei wir die physischen
Farben gewahr werden, wird das Auge nicht für sich als
wirkend, das Licht niemals in unmittelbarem Bezüge auf
das Au2:e betrachtet, sondern wir richten unsere Auf-
7 6 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
merksamkeit besonders darauf, wie durch Mittel, und
zwar farblose Mittel, verschiedene Bedingungen ent-
stehen.
140. Das Licht kann auf dreierlei Weise unter diesen
Umständen bedingt werden. Erstlich, wenn es von der
Oberfläche eines Mittels zurückstrahlt, da denn die kat-
optrischenYQrs\ic\\Q zur Sprache kommen. Zweitens, wenn
es an dem Rande eines Mittels her strahlt. Die dabei ein-
tretenden Erscheinungen wurden ehmals perioptische ge-
nannt, wir nennen sieparoptische. Drittens, wenn es durch
einen durchscheinenden oder durchsichtigen Körper durch-
geht, welches die dioptrischen Versuche sind. Eine vierte
Art physischer Farben haben wir epoptische genannt, in-
dem sich die Erscheinung ohne vorgängige Mitteilung
[ßacprj) auf einer farblosen Oberfläche der Körper unter
verschiedenen Bedingungen sehen läßt.
141. Beurteilen wir diese Rubriken in bezug auf die von
uns beliebten Hauptabteilungen, nach welchen wir die
Farben in physiologischer, physischer und chemischer
Rücksicht betrachten, so finden wir, daß die katoptrischen
Farben sich nahe an die physiologischen anschließen, die
paroptischen sich schon etwas mehr ablösen und gewisser-
maßen selbständig werden, die dioptrischen sich ganz
eigentlich physisch erweisen und eine entschieden objek-
tive Seite haben; die epoptischen, obgleich in ihren An-
fängen auch nur apparent, machen den Übergang zu den
chemischen Farben.
142. Wenn wir also unsern Vortrag stetig nach Anlei-
tung der Natur fortführen wollten, so dürften wir nur in
der jetzt eben bezeichneten Ordnung auch fernerhin ver-
fahren; weil aber bei didaktischen Vorträgen es nicht so-
wohl darauf ankommt, dasjenige, wovon die Rede ist,
aneinander zu knüpfen, vielmehr solches wohl auseinan-
der zu sondern, damit erst zuletzt, wenn alles einzelne
vor die Seele gebracht ist, eine große Einheit das Be-
sondere verschlinge, so wollen wir ims gleich zu den di-
optrischen Farben wenden, um den Leser alsbald in die
Mitte der physischen Farben zu versetzen und ihm ihre
Eigenschaften auffallender zu machen.
IL PHYSISCHE FARBEN 77
IX. Diop irische Farben
143. Man nennt dioptrische Farben diejenigen, zu deren
Entstehung ein farbloses Mittel gefordert wird, dergestalt,
daß Licht und Finsternis hindurchwirken, entweder aufs
Auge oder auf entgegenstehende Flächen. Es wird also
gefordert, daß das Mittel durchsichtig oder wenigstens bis
auf einen gewissen Grad durchscheinend sei.
144. Nach diesen Bedingungen teilen wir die dioptri-
schen Erscheinungen in zwei Klassen und setzen in die
erste diejenigen, welche bei durchscheinenden trüben
Mitteln entstehen, in die zweite aber solche, die sich als-
dann zeigen, wenn das Mittel in dem höchst möglichen
Grade durchsichtig ist.
X. Dioptrische Farben
der ersten Klasse
145. Der Raum, den wir uns leer denken, hätte durch-
aus für uns die Eigenschaft der Durchsichtigkeit. Wenn
sich nun derselbe dergestalt füllt, daß unser Auge die
Ausfüllung nicht gewahr wird, so entsteht ein mate-
rielles, mehr oder weniger körperliches, durchsichtiges
Mittel, das luft- und gasartig, flüssig oder auch fest sein
kann.
146. Die reine durchscheinende Trübe leitet sich aus
dem Durchsichtigen her. Sie kann sich uns also auch auf
gedachte dreifache Weise darstellen.
147. Die vollendete Trübe ist das Weiße, die gleichgül-
tigste, hellste, erste undurchsichtige Raumerfüllung.
148. Das Durchsichtige selbst, empirisch betrachtet, ist
schon der erste Grad des Trüben. Die ferneren Grade
des Trüben bis zum undurchsichtigen Weißen sind un-
endlich.
149. Auf welcher Stufe wir auch das Trübe vor seiner
Undurchsichtigkeit festhalten, gewährt es uns, wenn wir
es in Verhältnis zum Hellen und Dunkeln setzen, ein-
fache und bedeutende Phänomene.
7 8 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
150. Das höchstenergische Licht, wie das der Sonne,
des Phosphors in Lebensluft verbrennend, ist blendend
und farblos. So kommt auch das Licht der Fixsterne mei-
stens farblos zu uns. Dieses Licht aber durch ein auch
nur wenig trübes Mittel gesehen, erscheint uns gelb.
Nimmt die Trübe eines solchen Mittels zu oder wird seine
Tiefe vermehrt, so sehen wir das Licht nach und nach
eine gelbrote Farbe annehmen, die sich endlich bis zum
Rubinroten steigert.
151. Wird hingegen durch ein trübes, von einem dar-
auffallenden Lichte erleuchtetes Mittel die Finsternis ge-
sehen, so erscheint uns eine blaue Farbe, welche immer
heller und blässer wird, je mehr sich die Trübe des Mit-
tels vermehrt, hingegen immer dtmkler und satter sich
zeigt, je durchsichtiger das Trübe werden kann, ja bei
dem mindesten Grad der reinsten Trübe als das schönste
Violett dem Auge fühlbar wird.
152. Wenn diese Wirkung auf die beschriebene Weise
in unserm Auge vorgeht und also subjektiv genannt wer-
den kann, so haben wir uns auch durch objektive Er-
scheinungen von derselben noch mehr zu vergewissern.
Denn ein so gemäßigtes und getrübtes Licht wirft auch
auf die Gegenstände einen gelben, gelbroten oder pur-
purnen Schein, und ob sich gleich die Wirkung der Fin-
sternis durch das Trübe nicht ebenso mächtig äußert, so
zeigt sich doch der blaue Himmel in der Camera obscura
ganz deutlich auf dem weißen Papier neben jeder andern
körperlichen Farbe.
153. Wenn wir die Fälle durchgehn, unter welchen uns
dieses wichtige Grundphänomen erscheint, so erwähnen
wir billig zuerst der atmosphärischen Farben, deren meiste
hieher geordnet werden können.
154. Die Sonne, durch einen gewissen Grad von Dün-
.sten gesehen, zeigt sich mit einer gelblichen Scheibe.
Oft ist die Mitte noch blendend gelb, wenn sich die Rän-
der schon rot zeigen. Beim Heerrauch (wie 1794 auch
im Norden der Fall war) und noch mehr bei der Dispo-
sition der Atmosphäre, wenn in südlichen Gegenden der
Scirocco herrscht, erscheint die Sonne mbinrot mit allen
II. PHYSISCHE FARBEN 79
sie im letzten Falle gewöhnlich umgebenden Wolken, die
alsdann jene Farbe im Widerschein zurückwerfen.
Morgen- und Abendröte entsteht aus derselben Ursache.
Die Sonne wird durch eine Röte verkündigt, indem sie
durch eine größere Masse von Dünsten zu ims strahlt. Je
weiter sie heraufkommt, desto heller und gelber wird der
Schein.
155. Wird die Finsternis des unendlichen Raums durch
atmosphärische, vom Tageslicht erleuchtete Dünste hin-
durch angesehen, so erscheint die blaue Farbe. Auf hohen
Gebirgen sieht man am Tage den Himm.el königsblau,
weil nur wenig feine Dünste vor dem unendlichen finstern
Raum schweben; sobald man in die Täler herabsteigt,
wird das Blaue heller, bis es endlich in gewissen Regio-
nen und bei zunehmenden Dünsten ganz in ein Weißblau
übergeht.
156. Ebenso scheinen uns auch die Berge blau: denn in-
dem wir sie in einer solchen Ferne erblicken, daß wir die
Lokalfarben nicht mehr sehen und kein Licht von ihrer
Oberfläche mehr auf unser Auge wirkt, so gelten sie als
ein reiner finsterer Gegenstand, der nun durch die da-
zwischen tretenden trüben Dünste blau erscheint.
157. Auch sprechen wir die Schattenteile näherer Gegen-
stände für blau an, wenn die Luft mit feinen Dünsten ge-
sättigt ist.
158. Die Eisberge hingegen erscheinen in großer Ent-
fernung noch immer weiß und eher gelblich, weil sie im-
mer noch als hell durch den Dunstkreis auf unser Auge
wirken.
159. Die blaue Erscheinimg an dem untern Teil des
Kerzenlichtes gehört auch Iiieher. Man halte die Flamme
vor einen weißen Grund, und man wird nichts Blaues
sehen, welche Farbe hingegen sogleich erscheinen wird,
wenn man die Flamme gegen einen schwarzen Grund
hält. Dieses Phänomen erscheint am lebhaftesten bei ei-
nem angezündeten Löffel Weingeist. Wir können also
den untern Teil der Flamme für einen Dunst ansprechen,
welcher, obgleich unendlich fein, doch vor der dunklen
Fläche sichtbar wird: er ist so fein, daß man bequem
8o DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
durch ihn lesen kann; dahingegen die Spitze der Flamme,
welche uns die Gegenstände verdeckt, als ein selbst-
leuchtender Körper anzusehen ist.
i6o. Übrigens ist der Rauch gleichfalls als ein trübes
Mittel anzusehen, das uns vor einem hellen Grunde gelb
oder rötlich, vor einem dunklen aber blau erscheint.
i6i. Wenden wir uns nun zu den flüssigen Mitteln, so
finden wir, daß ein jedes Wasser, auf eine zarte Weise
getrübt, denselben Eflfekt hervorbringe.
162. Die Infusion des nephritischen Holzes (der Guilan-
dina Linnaei), welche früher so großes Aufsehen machte,
ist nur ein trüber Liquor, der im dunklen hölzernen Becher
blau aussehen, in einem durchsichtigen Glase aber, gegen
die Sonne gehalten, eine gelbe Erscheinung hervorbringen
muß.
163. Einige Tropfen wohlriechender Wasser, eines Wein-
geistfirnisses, mancher metallischen Solutionen können
das Wasser zu solchen Versuchen in allen Graden trübe
machen. Seifenspiritus tut fast die beste Wirkung.
164. Der Grund des Meeres erscheint den Tauchern bei
hellem Sonnenschein purpurfarb, wobei das Meerwasser
als ein trübes und tiefes Mittel wirkt. Sie bemerken bei
dieser Gelegenheit die Schatten grün, welches die ge-
forderte Farbe ist. (78.)
165. Unter den festen Mitteln begegnet uns in der Na-
tur zuerst der Opal, dessen Farben wenigstens zum Teil
daraus zu erklären sind, daß er eigentlich ein trübes Mittel
sei, wodurch bald helle, bald dunkle Unterlagen sichtbar
werden.
166. Zu allen Versuchen aber ist das Opalglas [vitrum
astroides, girasole) der erwünschteste Körper. Es wird auf
verschiedene Weise verfertigt und seine Trübe durch Me-
tallkalke hervorgebracht. Auch trübt man das Glas da-
durch, daß man gepulverte und kalzinierte Knochen mit
ihm zusammenschmelzt, deswegen man es auch Beinglas
nennt; doch geht dieses gar zu leicht ins Undurchsichtige
über.
167. Man kann dieses Glas zu Versuchen auf vielerlei
Weise zurichten: denn entweder man macht es nur wenig
II. PHYSISCHE FARBEN 8i
trüb, da man denn durch mehrere Schichten übereinan-
der das Licht vom hellsten Gelb bis zum tiefsten Purpur
führen kann, oder man kann auch stark getrübtes Glas in
dünnem und stärkeren Scheiben anwenden. Auf beide
Arten lassen sich die Versuche anstellen; besonders darf
man aber, um die hohe blaue Farbe zu sehen, das Glas
weder allzu trüb noch allzu stark nehmen. Denn da es na-
türlich ist, daß das Finstere nur schwach durch die Trübe
hindurch wirke, so geht die Trübe, wenn sie zu dicht
wird, gar schnell in das Weiße hinüber.
i68. Fensterscheiben durch die Stellen, an welchen sie
blind geworden sind, werfen einen gelben Schein auf
die Gegenstände, imd eben diese Stellen sehen blau aus,
wenn wir durch sie nach einem dunklen Gegenstande
blicken.
169. Das angerauchte Glas gehört auch hieher und ist
gleichfalls als ein trübes Mittel anzusehen. Es zeigt uns
die Sonne mehr oder weniger rubinrot, und ob man gleich
diese Erscheinung der schwarzbraunen Farbe des Rußes
zuschreiben könnte, so kann man sich doch überzeugen,
daß hier ein trübes Mittel wirke, wenn man ein solches
mäßig angerauchtes Glas, auf der vordem Seite dturch
die Sonne erleuchtet, vor einen dunklen Gegenstand hält,
da wir denn einen blaulichen Schein gewahr werden.
170. Mit Pergamentblättern läßt sich in der dunkeln
Kammer ein auffallender Versuch anstellen. Wenn man
vor die Öffnung des eben von der Sonne beschienenen
Fensterladens ein Stück Pergament befestigt, so wird es
weißlich erscheinen; fügt man ein zweites hinzu, so ent-
steht eine gelbliche Farbe, die immer zunimmt und end-
lich bis ins Rote übergeht, je mehr man Blätter nach und
nach hinzufügt.
171. Einer solchen Wirkung der getrübten Kristallinse
beim grauen Star ist schon oben gedacht. (132.)
172. Sind wir nun auf diesem Wege schon bis zu der
Wirkung eines kaum noch durchscheinenden Trüben ge-
langt, so bleibt uns noch übrig, einer wunderbaren Er-
scheinung augenblicklicher Trübe zu gedenken.
Das Porträt eines angesehenen Theologen war von einem
GOETHE XVII 6.
8 2 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Künstler, welcher praktisch besonders gut mit der Farbe
umzugehen wußte, vor mehrern Jahren gemalt worden. Der
hochwürdige Mann stand in einem glänzenden Samtrocke
da, welcher fast mehr als das Gesicht die Augen der An-
schauer auf sich zog und Bewunderung erregte. Indessen
hatte das Bild nach und nach durch Lichterdampf und
Staub von seiner ersten Lebhaftigkeit vieles verloren.
Man übergab es daher einem Maler, der es reinigen und
mit einem neuen Firnis überziehen sollte. Dieser fängt
nun sorgfältig an, zuerst das Bild mit einem feuchten
Schwamm abzuwaschen; kaum aber hat er es einigemal
überfahren und den stärksten Schmutz weggewischt, als
zu seinem Erstaunen der schwarze Samtrock sich plötz-
lich in einen hellblauen Plüschrock verwandelt, wodurch
der geistliche Herr ein sehr weltliches, obgleich altmo-
disches Ansehn gewinnt. Der Maler getraut sich nicht
weiter zu waschen, begreift nicht, wie ein Hellblau zum
Grunde des tiefsten Schwarzen liegen, noch weniger, wie
er eine Lasur so schnell könne weggescheuert haben,
welche ein solches Blau, wie er vor sich sah, in Schwarz
zu verwandeln imstande gewesen wäre.
Genug, er fühlte sich sehr bestürzt, das Bild auf diesen
Grad verdorben zu haben: es war nichts Geistliches mehr
daran zu sehen als nur die vielgelockte runde Perücke,
wobei der Tausch eines verschossenen Plüschrocks gegen
einen trefflichen neuen Samtrock durchaus unerwünscht
blieb. Das Übel schien indessen unheilbar, und unser
guter Künstler lehnte mißmutig das Bild gegen die Wand
und legte sich nicht ohne Sorgen zu Bette.
Wie erfreut aber war er den andern Morgen, als er das
Gemälde wieder vornahm und den schwarzen Samtrock
in vöUigem Glänze wieder erblickte. Er konnte sich nicht
enthalten, den Rock an einem Ende abermals zu benetzen,
da denn die blaue Farbe wieder erschien und nach einiger
Zeit verschwand.
Als ich Nachricht von diesem Phänomen erhielt, begab
ich mich sogleich zu dem Wunderbilde. Es ward in mei-
ner Gegenwart mit einem feuchten Schwämme überfahren,
und die Veränderung zeigte sich sehr schnell. Ich sah
IL PHYSISCHE FARBEN 83
einen zwar etwas verschossenen, aber völlig hellblauen
Plüschrock, auf welchem an dem Ärmel einige braune
Striche die Falten andeuteten.
Ich erklärte mir dieses Phänomen aus der Lehre von den
trüben Mitteln. Der Künstler mochte seine schon gemalte
schwarze Farbe, um sie recht tief zu machen, mit einem
besondern Firnis lasieren, welcher beim Waschen einige
Feuchtigkeit in sich sog und dadurch trübe ward, wodurch
das unterliegende Schwarz sogleich als Blau erschien.
Vielleicht kommen diejenigen, welche viel mit Firnissen
umgehen, durch Zufall oder Nachdenken auf den Weg,
diese sonderbare Erscheinung den Freunden der Natur-
forschung als Experiment darzustellen. Mir hat es nach
mancherlei Proben nicht gelingen wollen.
173. Haben wir nun die herrlichsten Fälle atmosphäri-
scher Erscheinungen sowie andre geringere, aber doch
immer genugsam bedeutende aus der Haupterfahrung mit
trüben Mitteln hergeleitet, so zweifeln wir nicht, daß auf-
merksame Naturfreunde immer weitergehen und sich
üben werden, die im Leben mannigfaltig vorkommenden
Erscheinungen auf ebendiesem Wege abzuleiten und zu
erklären, so wie wir hofifen können, daß die Naturforscher
sich nach einem hinlänglichen Apparat umsehen werden,
um so bedeutende Erfahrungen den Wißbegierigen vor
Augen zu bringen.
174. Ja wir möchten jene im allgemeinen ausgesprochene
Haupterscheinung ein Grund- und Urphänomen nennen,
und es sei uns erlaubt, hier, was wir darunter verstehen,
sogleich beizubringen.
175. Das, was wir in der Erfahrung gewahr werden, sind
meistens nur Fälle, welche sich mit einiger Aufmerksam-
keit unter allgemeine empirische Rubriken bringen lassen.
Diese subordinieren sich aber-mals unter wissenschaftliche
Rubriken, welche weiter hinaufdeuten, wobei uns gewisse
unerläßliche Bedingungen des Erscheinenden näher be-
kannt werden. Von nun an fügt sich alles nach und nach
unter höhere Regeln und Gesetze, die sich aber nicht
durch Worte und Hypothesen dem Verstände, sondern
i/leichfalls durch Phänomene dem Anschauen offenbaren.
84 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Wir nennen sie Urphänomene, weil nichts in der Erschei-
nung über ihnen liegt, sie aber dagegen völlig geeignet
sind, daß man stufenweise, wie wir vorhin hinaufgestie-
gen, von ihnen herab bis zu dem gemeinsten Falle der
täglichen Erfahrung niedersteigen kann. Ein solches Ur-
phänomen ist dasjenige, das wir bisher dargestellt haben.
Wir sehen auf der einen Seite das Licht, das Helle, auf
der andern die Finsternis, das Dunkle; wir bringen die
Trübe zwischen beide, und aus diesen Gegensätzen, mit
Hülfe gedachter Vermittlung, entwickeln sich, gleichfalls
in einem Gegensatz, die Farben, deuten aber alsbald
durch einen Wechselbezug unmittelbar auf ein Gemein-
sames wieder zurück.
176. In diesem Sinne halten wir den in der Naturfor-
schung begangenen Fehler für sehr groß, daß man ein
abgeleitetes Phänomen an die obere Stelle, das Urphäno-
men an die niedere Stelle setzte, ja sogar das abgeleitete
Phänomen wieder auf den Kopf stellte und an ihm das
Zusammengesetzte für ein Einfaches, das Einfache für ein
Zusammengesetztes gelten ließ, durch welches Hinterst-
zuvörderst die wunderlichsten Verwicklungen und Ver-
wirrungen in die Naturlehre gekommen sind, an welchen
sie noch leidet.
177. Wäre denn aber auch ein solches Urphänomen ge-
funden, so bleibt immer noch das Übel, daß man es nicht
als ein solches anerkennen will, daß wir hinter ihm und
über ihm noch etwas Weiteres aufsuchen, da wir doch hier
die Grenze des Schauens eingestehen sollten. Der Natur-
forscher lasse die Urphänomene in ihrer ewigen Ruhe
und Herrlichkeit dastehen, der Philosoph nehme sie in
seine Region auf, und er wird finden, daß ihm nicht in
einzelnen Fällen, allgemeinen Rubriken, Meinungen und
Hypothesen, sondern im Grund- und Urphänomen ein
würdiger Stofif zu weiterer Behandltmg und Bearbeitung
überliefert werde.
IL PHYSISCHE FARBEN 85
XI. Dioptrische Farben
der zweiten Klasse
Refraktion
178. Die dioptrischen Farben der beiden Klassen schlie-
ßen sich genau aneinander an, wie sich bei einiger
Betrachtung sogleich finden läßt. Die der ersten Klasse
erschienen in dem Felde der trüben Mittel, die der
zweiten sollen uns nun in durchsichtigen Mitteln er-
scheinen. Da aber jedes empirisch Durchsichtige an sich
schon als trüb angesehen werden kann, wie uns jede ver-
mehrte Masse eines durchsichtig genannten Mittels zeigt,
so ist die nahe Verwandtschaft beider Arten genugsam
einleuchtend.
179. Doch wir abstrahieren vorerst, indem wir uns zu
den durchsichtigen Mitteln wenden, von aller ihnen ei-
nigermaßen beiwohnenden Trübe und richten unsre
ganze Aufmerksamkeit auf das hier eintretende Phäno-
men, das unter dem Kunstnamen der Refraktion be-
kannt ist.
180. Wir haben schon bei Gelegenheit der physiologi-
schen Farben dasjenige, was man sonst Augentäuschungen
zu nennen pflegte, als Tätigkeiten des gesunden und rich-
tig wirkenden Auges gerettet (2), und wir kommen hier
abermals in den Fall, zu Ehren unserer Sinne und zu Be-
stätigung ihrer Zuverlässigkeit einiges auszuführen.
181. In der ganzen sinnlichen Welt kommt alles über-
haupt auf das Verhältnis der Gegenstände untereinander
an, vorzüglich aber auf das Verhältnis des bedeutendsten
irdischen Gegenstandes, des Menschen, zu den übrigen.
Hierdurch trennt sich die Welt in zwei Teile, und der
Mensch stellt sich als ein Subjekt dem Objekt entgegen.
Hier ist es, wo sich der Praktiker in der Erfahrung, der
Denker in der Spekulation abmüdet und einen Kampf zu
bestehen aufgefordert ist, der durch keinen Frieden und
durch keine Entscheidung geschlossen werden kann.
182. Immer bleibt es aber auch hier die Hauptsache,
daß die Beziehungen wahrhaft eingesehen werden. Da
nun unsre Sinne, insofern sie gesund sind, die äußern
8 6 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Beziehungen am wahrhaftesten aussprechen, so können
wir uns überzeugen, daß sie überall, wo sie dem Wirk-
lichen zu widersprechen scheinen, das wahre Verhältnis
desto sichrer bezeichnen. So erscheint uns das Entfernte
kleiner, und eben dadurch werden wir die Entfernung ge-
wahr. An farblosen Gegenständen brachten wir durch
farblose Mittel farbige Erscheinungen hervor und wurden
zugleich auf die Grade des Trüben solcher Mittel auf-
merksam.
183. Ebenso werden unserm Auge die verschiedenen
Grade der Dichtigkeit durchsichtiger Mittel, ja sogar noch
andre physische imd chemische Eigenschaften derselben
bei Gelegenheit der Refraktion bekannt und fordern uns
auf, andre Prüfungen anzustellen, um in die von einer
Seite schon eröffneten Geheimnisse auf physischem und
chemischem Wege völlig einzudringen.
184. Gegenstände, durch mehr oder weniger dichte Mit-
tel gesehen, erscheinen uns nicht an der Stelle, an der
sie sich nach den Gesetzen der Perspektive befinden soll-
ten. Hierauf beruhen die dioptrischen Erscheinungen der
zweiten Klasse.
185. Diejenigen Gesetze des Sehens, welche sich durch
mathematische Formeln ausdrücken lassen, haben zum
Grunde, daß, so wie das Licht sich in gerader Linie be-
wegt, auch eine gerade Linie zwischen dem sehenden
Organ und dem gesehenen Gegenstand müsse zu ziehen
sein. Kommt also der Fall, daß das Licht zu ims in einer
gebogenen oder gebrochenen Linie anlangt, daß wir die
Gegenstände in einer gebogenen oder gebrochenen Linie
sehen, so werden wir alsbald erinnert, daß die dazwischen
liegenden Mittel sich verdichtet, daß sie diese oder jene
fremde Natur angenommen haben.
186. Diese Abweichung vom Gesetz des geradlinigen
Sehens wird im allgemeinen die Refraktion genannt, und
ob wir gleich voraussetzen können, daß unsre Leser da-
mit bekannt sind, so wollen wir sie doch kürzlich von
ihrer objektiven und subjektiven Seite hier nochmals dar-
stellen.
187. Man lasse in ein leeres kubisches Gefäß das Son-
II. PHYSISCHE FARBEN 87
7ienlicht schräg in der Diagonale hineinscheinen, derge-
stalt, daß nur die dem Licht entgegengesetzte Wand, nicht
aber der Boden erleuchtet sei; man gieße sodann Wasser
in dieses Gefäß, und der Bezug des Lichtes zu demselben
wird sogleich verändert sein. Das Licht zieht sich gegen
die Seite, wo es herkommt, zurück, und ein Teil des Bo-
dens wird gleichfalls erleuchtet. An dem Punkte, wo nun-
mehr das Licht in das dichtere Mittel tritt, weicht es von
seiner geradlinigen Richtimg ab und scheint gebrochen,
deswegen man auch dieses Phänomen die Brechung ge-
nannt hat. So viel von dem objektiven Versuche.
188. Zu der subjektiven Erfahrung gelangen wir aber
folgendermaßen. Man setze das Auge an die Stelle der
Sonne, das Auge schaue gleichfalls in der Diagonale über
die eine Wand, so daß es die ihm entgegenstehende jen-
seitige innre Wandfiäche vollkommen, nichts aber vom
Boden sehen könne. Man gieße Wasser in das Gefäß, und
das Auge wird nun einen Teil des Bodens gleichfalls er-
blicken, und zwar geschieht es auf eine Weise, daß wir
glauben, wir sehen noch immer in gerader Linie: denn
der Boden scheint uns heraufgehoben, daher wir das sub-
jektive Phänomen mit dem Namen der Hebung bezeich-
nen. Einiges, was noch besonders merkwürdig hiebei ist,
wird künftig vorgetragen werden.
189. Sprechen wir dieses Phänomen nunmehr im allge-
meinen aus, so können wir, was wir oben angedeutet,
hier wiederholen: daß nämlich der Bezug der Gegen-
stände verändert, verrückt werde.
190. Da wir aber bei unserer gegenwärtigen Darstellung
die objektiven Erscheinungen von den subjektiven zu
trennen gemeint sind, so sprechen wir das Phänomen vor-
erst subjektiv aus und sagen: es zeige sich eine Verrük-
kung des Gesehenen oder des zu Sehenden.
191. Es kann nun aber das unbegrenzt Gesehene ver-
rückt werden, ohne daß uns die Wirkung bemerklich wird.
Verrückt sich hingegen das begrenzt Gesehene, so haben
wir Merkzeichen, daß eine Verrückung geschieht. Wollen
wir ims also von einer solchen Veränderung des Bezuges
unterrichten, so werden wir uns vorzüglich an die Ver-
8 8 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
rückung des begrenzt Gesehenen, an die Verriickung des
Bildes zu halten haben.
192. Diese Wirkung überhaupt kann aber geschehen durch
parallele Mittel: denn jedes parallele Mittel verrückt den
Gegenstand und bringt ihn sogar im Perpendikel dem
Auge entgegen. Merklicher aber wird dieses Verrücken
durch nicht parallele Mittel.
193. Diese können eine völlig sphärische Gestalt haben,
auch als konvexe oder als konkave Linsen angewandt
werden. Wir bedienen uns derselben gleichfalls bei un-
sern Erfahrungen. Weil sie aber nicht allein das Bild von
der Stelle verrücken, sondern dasselbe auch auf mancher-
lei Weise verändern, so gebrauchen wir lieber solche
Mittel, deren Flächen zwar nicht parallel gegeneinander,
aber doch sämtlich eben sind, nämlich Prismen, die einen
Triangel zur Base haben, die man zwar auch als Teile
einer Linse betrachten kann, die aber zu unsern Erfah-
rungen deshalb besonders tauglich sind, weil sie das Bild
sehr stark von der Stelle verrücken, ohne jedoch an
seiner Gestalt eine bedeutende Veränderung hervorzu-
bringen.
194. Nunmehr, um unsre Erfahrungen mit möglichster
Genauigkeit anzustellen und alle Verwechslung abzuleh-
nen, halten wir uns zuerst an
Subjektive Versuche^
bei welchen nämlich der Gegenstand durch ein brechen-
des Mittel von dem Beobachter gesehen wird. Sobald
wir diese der Reihe nach abgehandelt, sollen die objek-
tiven Versuche in gleicher Ordnung folgen.
XII. Refraktion ohne Farbenerscheinung
195. Die Refraktion kann ihre Wirktmg äußern, ohne,
daß man eine Farbenerscheinung gewahr werde. So sehr
auch durch Refraktion das unbegrenzt Gesehene, eine
farblose oder einfach gefärbte Fläche verrückt werde, so
entsteht innerhalb derselben doch keine Farbe. Man kann
sich hieven auf mancherlei Weise überzeugen.
IL PHYSISCHE FARBEN 89
196. Man setze einen gläsernen Kubus auf irgendeine
Fläche und schaue im Perpendikel oder im Winkel dar-
auf, so wird die reine Fläche dem Auge völlig entgegen-
gehoben, aber es zeigt sich keine Farbe. Wenn man
durchs Prisma einen rein grauen oder blauen Himmel,
eine rein weiße oder farbige Wand betrachtet, so wird der
Teil der Fläche, den wir eben ins Auge gefaßt haben,
völlig von seiner Stelle gerückt sein, ohne daß wir des-
halb die mindeste Farbenerscheinung darauf bemerken.
XIII. Bedingungen der Farbenerscheinung
197. Haben wir bei den vorigen Versuchen und Beob-
achtimgen alle reinen Flächen, groß oder klein, farblos ge-
funden, so bemerken wir an den Rändern da, wo sich
eine solche Fläche gegen einen heilern oder dunklern
Gegenstand abschneidet, eine farbige Erscheinung.
198. Durch Verbindung von Rand und Fläche entstehen
Bilder. Wir sprechen daher die Haupterfahrung derge-
stalt aus: es müssen Bilder verrückt werden, wenn eine
Farbenerscheinung sich zeigen soll.
199. Wir nehmen das einfachste Bild vor uns, ein helles
Rund auf dunklem Grunde A. An diesem findet eine Ver-
rückvmg statt, wenn wir seine Ränder von dem Mittel-
punkte aus scheinbar nach außen dehnen, indem wir es
vergrößern. Dieses geschieht durch jedes konvexe Glas,
und wir erblicken in diesem Falle einen blauen Rand B.
200. Den Umkreis ebendesselben Bildes können wir
nach dem Mittelpunkte zu scheinbar hineinbewegen, in-
dem wir das Rund zusammenziehen, da alsdann die Rän-
der gelb erscheinen C. Dieses geschieht durch ein kon-
kaves Glas, das aber nicht, wie die gewöhnlichen Lor-
gnetten, dünn geschliffen sein darf, sondern einige Masse
haben muß. Damit man aber diesen Versuch auf einmal
mit dem konvexen Glas machen könne, so bringe man in
das helle Rund auf schwarzem Grunde eine kleinere
schwarze Scheibe. Denn vergrößert man durch ein kon-
vexes Glas die schwarze Scheibe auf weißem Grund, so
geschieht dieselbe Operation, als wenn man ein weißes
90 DER FARBENLEHRE DIDAKllSCHER TEIL
Rund verkleinerte: denn wir führen den schwarzen Rand
nach dem weißen zu, und wir erblicken also den gelb-
lichen Farbenrand zugleich mit dem blauen D.
201. Diese beiden Erscheinungen, die blaue und gelbe,
zeigen sich an und über dem Weißen. Sie nehmen, in-
sofern sie über das Schwarze reichen, einen rötlichen
Schein an.
202. Und hiermit sind die Grundphänomene aller Farben-
erscheinung bei Gelegenheit der Refraktion ausgespro-
chen, welche denn freilich auf mancherlei Weise wieder-
holt, variiert, erhöht, verringert, verbunden, verwickelt,
verwirrt, zuletzt aber immer wieder auf ihre ursprüng-
liche Einfalt zurückgeführt werden können.
203. Untersuchen wir nun die Operation, welche wir
vorgenommen, so finden wir, daß wir in dem einen Falle
den hellen Rand gegen die dunkle, in dem andern den
dunkeln Rand gegen die helle Fläche scheinbar geführt,
eins durch das andre verdrängt, eins über das andre weg-
geschoben haben. Wir wollen nunmehr sämtliche Erfah-
rungen schrittweise zu entwickeln suchen.
204. Rückt man die helle Scheibe, wie es besonders
durch Prismen geschehen kann, im Ganzen von ihrer Stelle,
so wird sie in der Richtung gefärbt, in der sie scheinbar
bewegt wird, und zwar nach jenen Gesetzen. Man be-
trachte durch ein Prisma die in a befindliche Scheibe der-
gestalt, daß sie nach b verrückt erscheine, so wird der
obere Rand nach dem Gesetz der Figur B blau und blau-
rot erscheinen, der untere nach dem Gesetz der Scheibe
C gelb und gelbrot. Denn im ersten Fall wird das helle
Bild in den dimklen Rand hinüber- und in dem andern
der dunkle Rand über das helle Bild gleichsam hinein-
geführt. Ein gleiches gilt, wenn man die Scheibe von a
nach ^, von a nach d und so im ganzen Kreise scheinbar
herumführt.
205. Wie sich nun die einfache Wirkung verhält, so ver-
hält sich auch die zusammengesetzte. Man sehe durch
das horizontale Prisma a b nach einer hinter demselben
in einiger Entfernung befindlichen weißen Scheibe in ^,
so wird die Scheibe nach /erhoben und nach dem obigen
II. PHYSISCHE FARBEN 9 1
Gesetz gefärbt sein. Man hebe dies Prisma weg und
schaue durch ein vertikales cd nach ebendem Bilde, so
wird es in h erscheinen und nach ebendemselben Ge-
setze gefärbt. Man bringe nun beide Prismen überein-
ander, so erscheint die Scheibe nach einem allgemeinen
Naturgesetz in der Diagonale verrückt und gefärbt, wie
es die Richtung eg mit sich bringt.
206. Geben wir auf diese entgegengesetzten Farbenrän-
der der Scheibe wohl acht, so finden wir, daß sie nur in
der Richtung ihrer scheinbaren Bewegung entstehen. Ein
rundes Bild läßt ims über dieses Verhältnis einigermaßen
ungewiß, ein vierecktes hingegen belehrt uns klärlich
darüber.
207. Das viereckte Bild ä, in der Richtung a b oder
ad verrückt, zeigt uns an den Seiten, die mit der Rich-
tung parallel gehen, keine Farben; in der Richtung a c
hingegen, da sich das Quadrat in seiner eignen Dia-
gonale bewegt, erscheinen alle Grenzen des Bildes ge-
färbt.
208. Hier bestätigt sich also jener Ausspruch (203 f.),
ein Bild müsse dergestalt verrückt werden, daß seine helle
Grenze über die dunkle, die dunkle Grenze aber über die
helle, das Bild über seine Begrenzung, die Begrenzung
über das Bild scheinbar hingeführt werde. Bewegen sich
aber die geradhnigen Grenzen eines Bildes durch Re-
fraktion immerfort, daß sie nur nebeneinander, nicht
aber übereinander ihren Weg zurücklegen, so entstehen
keine Farben, und wenn sie auch bis ins Unendliche fort-
geführt würden.
XrV. Bedingungen, unter welchen die Farbenerscheinung
zunimmi
zog. Wir haben in dem vorigen gesehen, daß alle Far-
benerscheimmg bei Gelegenheit der Refraktion darauf
beruht, daß der Rand eines Bildes gegen das Bild selbst
oder über den Grund gerückt, daß das Bild gleichsam
über sich selbst oder über den Grund hingeführt werde.
Und nun zeigt sich auch bei vermehrter Verrückung des
9 2 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Bildes die Farbenerscheinung in einem breitern Maße,
und zwar bei subjektiven Versuchen, bei denen wir im-
mer noch verweilen, unter folgenden Bedingungen:
2IO. Erstlich, wenn das Auge gegen parallele Mittel eine
schiefere Richtung annimmt;
Zweitens, wenn das Mittel aufhört, parallel zu sein, und
einen mehr oder weniger spitzen Winkel bildet;
Drittens durch das verstärkte Maß des Mittels, es sei
nun, daß parallele Mittel am Volumen zunehmen oder
die Grade des spitzen Winkels verstärkt werden, doch so,
daß sie keinen rechten Winkel erreichen;
Viertens durch Entfernung des mit brechenden Mitteln
bewaffneten Auges von dem zu verrückenden Bilde;
Fünftens durch eine chemische Eigenschaft, welche
dem Glase mitgeteilt, auch in demselben erhöht werden
kann.
2 11. Die größte Verrückung des Bildes, ohne daß des-
selben Gestalt bedeutend verändert werde, bringen wir
durch Prismen hervor, und dies ist die Ursache, warum
durch so gestaltete Gläser die Farbenerscheinung höchst
mächtig werden kann. Wir wollen uns jedoch bei dem
Gebrauch derselben von jenen glänzenden Erscheinungen
nicht blenden lassen, vielmehr die oben festgesetzten ein-
fachen Anfänge ruhig im Sinne behalten.
212. Diejenige Farbe, welche bei Verrückung eines Bil-
des vorausgeht, ist immer die breitere, und wir nennen
sie einen Saum; diejenige Farbe, welche an der Grenze
zurückbleibt, ist die schmälere, und wir nennen sie einen
Rand.
213. Bewegen wir eine dunkle Grenze gegen das Helle,
so geht der gelbe breitere Saum voran, und der schmä-
lere gelbrote Rand folgt mit der Grenze. Rücken wir
eine helle Grenze gegen das Dunkle, so geht der brei-
tere violette Saum voraus, und der schmälere blaue Rand
folgt.
214. Ist das Bild groß, so bleibt dessen Mitte ungefärbt.
Sie ist als eine unbegrenzte Fläche anzusehen, die ver-
rückt, aber nicht verändert wird, Ist es aber so schmal,
daß unter obgedachten vier Bedingungen der gelbe Saum
IL PHYSISCHE FARBEN 93
den blauen Rand erreichen kann, so wird die Mitte völ-
lig durch Farben zugedeckt. Man mache diesen Versuch
mit einem weißen Streifen auf schwarzem Grunde; über
einem solchen werden sich die beiden Extreme bald ver-
einigen und das Grün erzeugen. Man erblickt alsdann
folgende Reihe von Farben:
Gelbrot
Gelb
Grün
Blau
Blaiurot.
215. Bringt man auf weiß Papier einen schwarzen Strei-
fen, so wird sich der violette Saum darüber hinbrei-
ten und den gelbroten Rand erreichen. Hier wird das
dazwischen liegende Schwarz so wie vorher das da-
zwischen liegende Weiß aufgehoben und an seiner Stelle
ein prächtig reines Rot erscheinen, das wir oft mit dem
Namen Purpur bezeichnet haben. Nunmehr ist die Far-
benfolge nachstehende:
Blau
Blaurot
Purpur
Gelbrot
Gelb.
216. Nach und nach können in dem ersten Falle (214)
Gelb und Blau dergestalt übereinander greifen, daß diese
beiden Farben sich völlig zu Grün verbinden und das
farbige Bild folgendermaßen erscheint:
Gelbrot
Grün
Blaurot.
Im zweiten Falle (215) sieht man unter ähnlichen Um-
ständen nur:
Blau
Purpur
Gelb,
welche Erscheinung am schönsten sich an Fensterstä-
94 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
ben zeigt, die einen grauen Himmel zum Hintergrunde
haben.
217. Bei allem diesem lassen wir niemals aus dem Sinne,
daß diese Erscheinung nie als eine fertige, vollendete,
sondern immer als eine werdende, zunehmende und in
manchem Sinn bestimmbare Erscheinung anzusehen sei.
Deswegen sie auch bei Negation obiger fünf Bedingungen
(210) wieder nach und nach abnimmt und zuletzt völlig
verschwindet.
XV. Ableitung der angezeigten Phänomene
218. Ehe wir. nun weitergehen, haben wir die erstge-
dachten ziemlich einfachen Phänomene aus dem Vorher-
gehenden abzuleiten oder, wenn man will, zu erklären,
damit eine deutliche Einsicht in die folgenden, mehr zu-
sammengesetzten Erscheinungen dem Liebhaber der Na-
tur werden könne.
219. Vor allen Dingen erinnern wir uns, daß wir im
Reiche der Bilder wandeln. Beim Sehen überhaupt ist
das begrenzt Gesehene immer das, worauf wir vorzüglich
merken, imd in dem gegenwärtigen Falle, da wir von
Farbenerscheinung bei Gelegenheit der Refraktion spre-
chen, kommt nur das begrenzt Gesehene, kommt nur das
Bild in Betrachtung.
220. Wir können aber die Bilder überhaupt zu unsern
chromatischen Darstellungen in primäre tmd sekundäre
Bilder einteilen. Die Ausdrücke selbst bezeichnen, was
wir darunter verstehen, und Nachfolgendes wird unsern
Sinn noch deutlicher machen.
221. Man kann die primären Bilder ansehen erstUch als
ursp?-üng liehe, als Bilder, die von dem anwesenden Gegen-
stande in unserm Auge erregt werden, und die xms von
seinem wirklichen Dasein versichern. Diesen kann man
die sekundären Bilder entgegensetzen als abgeleitete Bil-
der, die, wenn der Gegenstand weggenommen ist, im
Auge zurückbleiben, jene Schein- und Gegenbilder, welche
wir in der Lehre von [den] physiologischen Farben um-
ständlich abgehandelt haben.
II. PHYSISCHE FARBEN 95
222. Man kann die primären Bilder zweitens auch als
direkte Bilder ansehen, welche wie jene ursprünglichen
unmittelbar von dem Gegenstande zu unserm Auge ge-
langen. Diesen kann man die sekundären als indirekte
Bilder entgegensetzen, welche erst von einer spiegelnden
Fläche aus der zweiten Hand uns überliefert werden. Es
sind dieses die katoptrischen Bilder, welche auch in ge-
wissen Fällen zu Doppelbildern werden können.
223. Wenn nämlich der spiegelnde Körper durchsichtig
ist und zwei hintereinander liegende parallele Flächen
hat, so kann von jeder Fläche ein Bild ins Auge kommen,
und so entstehen Doppelbilder, insofern das obere Bild
das untere nicht ganz deckt, welches auf mehr als eine
Weise der Fall ist.
Man halte eine Spielkarte nahe vor einen Spiegel. Man
wird alsdann zuerst das starke lebhafte Bild der Karte
erscheinen sehen, allein den Rand des ganzen sowohl als
jedes einzelnen darauf befindlichen Bildes mit einem
Saume verbrämt, welcher der Anfang des zweiten Bildes
ist. Diese Wirkung ist bei verschiedenen Spiegeln, nach
Verschiedenheit der Stärke des Glases und nach vorge-
kommenen Zufälligkeiten beim Schleifen, gleichfalls ver-
schieden. Tritt man mit einer weißen Weste auf schwar-
zen Unterkleidern vor manchen Spiegel, so erscheint der
Saum sehr stark, wobei man auch sehr deutlich die Dop-
pelbilder der Metallknöpfe auf dunklem Tuche erkennen
kann.
224. Wer sich mit andern, von uns früher angedeuteten
Versuchen (80) schon bekannt gemacht hat, der wird sich
auch hier eher zurechtfinden. Die Fensterstäbe, von Glas-
tafeln zurückgeworfen, zeigen sich doppelt und lassen sich
bei mehrerer Stärke der Tafel und vergrößertem Zurück-
werfungswinkel gegen das Auge völlig trennen. So zeigt
auch ein Gefäß voll Wasser mit flachem spiegelndem Bo-
den die ihm vorgehaltnen Gegenstände doppelt und nach
Verhältnis mehr oder weniger voneinander getrennt; wo-
bei zu bemerken ist, daß da, wo beide Bilder einander
decken, eigentlich das vollkommen lebhafte Bild ent-
steht, wo es aber auseinander tritt und doppelt wird, sich
9 6 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
nun mehr schwache, durchscheinende und gespenster-
hafte Bilder zeigen.
225. Will man wissen, welches das untere und welches
das obere Bild sei, so nehme man gefärbte Mittel, da
denn ein helles Bild, das von der untern Fläche zurück-
geworfen wird, die Farbe des Mittels, das aber von der
obem zurückgeworfen wird, die geforderte Farbe hat.
Umgekehrt ist es mit dunklen Bildern, weswegen man auch
hier schwarze und weiße Tafeln sehr wohl brauchen
kann. Wie leicht die Doppelbilder sich Farbe mitteilen
lassen, Farbe hervorrufen, wird auch hier wieder auffal-
lend sein.
226. Drittens kann man die primären Bilder auch als
Hauptbilder ansehen und ihnen die sekundären als Neben-
bilder gleichsam anfügen. Ein solches Nebenbild ist eine
Art von Doppelbild, nur daß es sich von dem Hauptbilde
nicht trennen läßt, ob es sich gleich immer von demsel-
ben zu entfernen strebt. Von solchen ist nun bei den
prismatischen Erscheinungen die Rede.
227. Das unbegrenzt durch Refraktion Gesehene zeigt
keine Farbenerscheinung (195). Das Gesehene muß be-
grenzt sein. Es wird daher ein Bild gefordert; dieses Bild
wird durch Refraktion verrückt, aber nicht vollkommen,
nicht rein, nicht scharf verrückt, sondern unvollkommen,
dergestalt, daß ein Nebenbild entstehet.
228. Bei einer jeden Erscheinung der Natur, besonders
aber bei einer bedeutenden, auffallenden, muß man nicht
stehen bleiben, man muß sich nicht an sie heften, nicht
an ihr kleben, sie nicht isoliert betrachten, sondern in
der ganzen Natur umhersehen, wo sich etwas Ähnliches,
etwas Verwandtes zeigt: denn nur durch Zusammenstellen
des Verwandten entsteht nach und nach eine Totalität, die
sich selbst ausspricht und keiner weitern Erklärung bedarf.
229. Wir erinnern uns also hier, daß bei gewissen Fäl-
len Refraktion unleugbare Doppelbilder hervorbringt,
wie es bei dem sogenannten Isländischen Kristalle der
Fall ist. Dergleichen Doppelbilder entstehen aber auch
bei Refraktion durch große Bergkristalle imd sonst, Phä-
nomene, die noch nicht genugsam beobachtet sind.
II. PHYSISCHE FARBEN 97
230. Da nun aber in gedachtem Falle (227) nicht von
Doppel-, sondern von Nebenbildern die Rede ist, so ge-
denken wir einer von uns schon dargelegten, aber noch
nicht vollkommen ausgeführten Erscheinung. Man er-
innere sich jener frühern Erfahrung, daß ein helles Bild
mit einem dunklen Grunde, ein dunkles mit einem hellen
Grunde schon in Absicht auf unsre Retina in einer Art
von Konflikt stehe (16). Das Helle erscheint in diesem
Falle größer, das Dunkle kleiner.
231. Bei genauer Beobachtung dieses Phänomens läßt
sich bemerken, daß die Bilder nicht scharf vom Grunde
abgeschnitten, sondern mit einer Art von grauem, einiger-
maßen gefärbtem Rande, mit einem Nebenbild erschei-
nen. Bringen nun Bilder schon in dem nackten Auge
solche Wirkungen hervor, was wird erst geschehen, wenn
ein dichtes Mittel dazwischen tritt! Nicht das allein, was
uns im höchsten Sinne lebendig erscheint, übt Wirkungen
aus und erleidet sie, sondern auch alles, was nur irgend-
einen Bezug aufeinander hat, ist wirksam aufeinander, und
zwar oft in sehr hohem Maße.
232. Es entstehet also, wenn die Refraktion auf ein Bild
wirkt, an dem Hauptbilde ein Nebenbild, und zwar scheint
es, daß das wahre Bild einigermaßen zurückbleibe und
sich dem Verrücken gleichsam widersetze. Ein Neben-
bild aber in der Richtung, wie das Bild durch Refraktion
über sich selbst und über den Grund hin bewegt wird,
eilt vor, und zwar schmäler oder breiter, wie oben schon
ausgeführt worden (212 — 216).
233. Auch haben wir bemerkt (224), daß Doppelbilder
als halbierte Bilder, als eine Art von durchsichtigem Ge-
spenst erscheinen, so wie sich die Doppelschatten jedes-
mal als Halbschatten zeigen müssen. Diese nehmen die
Farbe leicht an und bringen sie schnell hervor (69), jene
gleichfalls (80). Und eben der Fall tritt auch bei den
Nebenbildern ein, welche zwar von dem Hauptbilde nicht
ab-, aber auch als halbierte Bilder aus demselben hervor-
treten und daher so schnell, so leicht und so energisch
gefärbt erscheinen können.
234. Daß nun die prismatische Farbenerscheinung ein
GOETHE xvn 7.
9 8 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Nebenbild sei, davon kann man sich auf mehr als eine
Weise überzeugen. Es entsteht genau nach der Form des
Hauptbildes. Dieses sei nun gerade oder im Bogen be-
grenzt, gezackt oder wellenförmig: durchaus hält sich das
Nebenbild genau an den Umriß des Hauptbildes.
235. Aber nicht allein die Form des wahren Bildes, son-
dern auch andre Bestimmungen desselben teilen sich dem
Nebenbilde mit. Schneidet sich das Hauptbild scharf
vom Grunde ab, wie Weiß auf Schwarz, so erscheint das
farbige Nebenbild gleichfalls in seiner höchsten Energie.
Es ist lebhaft, deutlich und gewaltig. Am allermächtig-
sten aber ist es, wenn ein leuchtendes Bild sich auf einem
dunkeln Grunde zeigt, wozu man verschiedene Vorrich-
tungen machen kann.
236. Stuft sich aber das Hauptbild schwach von dem
Grunde ab, wie sich graue Bilder gegen Schwarz und
Weiß oder gar gegeneinander verhalten, so ist auch das
Nebenbild schwach und kann bei einer geringen Diffe-
renz von Tinten beinahe unmerkHch werden.
237. So ist es ferner höchst merkwürdig, was an farbigen
Bildern auf hellem, dunklem oder farbigem Grunde be-
obachtet wird. Hier entsteht ein Zusammentritt der Farbe
des Nebenbildes mit der realen Farbe des Hauptbildes,
und es erscheint daher eine zusammengesetzte, entweder
durch Übereinstimmung begünstigte oder durch Wider-
wärtigkeit verkümmerte Farbe.
238. Überhaupt aber ist das Kennzeichen des Doppel-
und Nebenbildes die Halbdurchsichtigkeit. Man denke
sich daher innerhalb eines durchsichtigen Mittels, dessen
innre Anlage, nur halbdurchsichtig, nur durchscheinend
zu werden, schon oben ausgeführt ist (147), man denke
sich innerhalb desselben ein halbdurchsichtiges Schein-
bild, so wird man dieses sogleich für ein trübes Bild an-
sprechen.
239. Und so lassen sich die Farben bei Gelegenheit der
Refraktion aus der Lehre von den trüben Mitteln gar
bequem ableiten. Denn wo der voreilende Saum des
trüben Nebenbildes sich vom Dunklen über das Helle
zieht, erscheint das Gelbe; umgekehrt, wo eine helle '
IL PHYSISCHE FARBEN 99
Grenze über die dunkle Umgebung hinaustritt, erscheint
das Blaue (150. 151).
240. Die voreilende Farbe ist immer die breitere. So
greift die gelbe über das Licht mit einem breiten Saume;
da, wo sie aber an das Dunkle gi-enzt, entsteht, nach der
Lehre der Steigerung und Beschattung, das Gelbrote als
ein schmälerer Rand.
241. An der entgegengesetzten Seite hält sich das ge-
drängte Blau an der Grenze, der vorstrebende Saum
aber, als ein leichtes Trübes über das Schwarze verbrei-
tet, läßt uns die violette Farbe sehen, nach ebenden-
selben Bedingungen, welche oben bei der Lehre von den
trüben Mitteln angegeben worden, und welche sich künf-
tig in mehreren andern Fällen gleichmäßig wirksam zeigen
werden.
242. Da eine Ableitung wie die gegenwärtige sich eigent-
lich vor dem Anschauen des Forschers legitimieren muß,
so verlangen wir von jedem, daß er sich nicht auf eine
flüchtige, sondern gründhche Weise mit dem bisher Vor-
geführten bekannt mache. Hier werden nicht willkürliche
Zeichen, Buchstaben, und was man sonst belieben möchte,
statt der Erscheinungen hingestellt; hier werden nicht
Redensarten überliefert, die man hundertmal wiederholen
kann, ohne etwas dabei zu denken noch jemanden etwas
dadurch denken zu machen, sondern es ist von Erschei-
nungen die Rede, die man vor den Augen des Leibes
und des Geistes gegenwärtig haben muß, um ihre Ab-
kunft, ihre Herleitung sich und andern mit Klarheit ent-
wickeln zu können.
XVI. Abnahme der farbigen Erscheinmig
243. Da man jene vorschreitenden fünf Bedingungen
(210), unter welchen die Farbenerscheinung zunimmt,
nur rückgängig annehmen darf, um die Abnahme des
Phänomens leicht einzusehen und zu bewirken, so wäre
nur noch dasjenige, was dabei das Auge gewahr wird,
kürzlich zu beschreiben und durchzuführen.
244. Auf dem höchsten Punkte wechselseitiger Deckung
I o o DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
der entgegengesetzten Ränder erscheinen die Farben fol-
gendermaßen (216):
Gelbrot Blau
Grün Purpur
Blaurot Gelb.
245. Bei minderer Deckung zeigt sich das Phänomen
folgendermaßen (214. 215):
Gelbrot Blau
Gelb Blaurot
Grün Purpur
Blau Gelbrot
Blaurot Gelb.
Hier erscheinen also die Bilder noch völlig gefärbt; aber
diese Reihen sind nicht als ursprüngliche, stetig sich aus-
einander entwickelnde, stufen- und skalenartige Reihen
anzusehen; sie können und müssen vielmehr in ihre Ele-
mente zerlegt werden, wobei man denn ihre Natur und
Eigenschaft besser kennen lernt.
246. Diese Elemente aber sind (199. 200. 201):
Gelbrot Blau
Gelb Blaurot
Weißes Schwarzes
Blau Gelbrot
Blaurot Gelb.
Hier tritt nun das Hauptbild, das bisher ganz zugedeckt
und gleichsam verloren gewesen, in der Mitte der Er-
scheinung wieder hervor, behauptet sein Recht und läßt
uns die sekundäre Natur der Nebenbilder, die sich als
Ränder und Säume zeigen, völlig erkennen.
247. Es hängt von uns ab, diese Ränder und Säume so
schmal werden zu lassen, als es uns beliebt, ja noch Re-
fraktion übrig zu behalten, ohne daß uns deswegen eine
Farbe an der Grenze erschiene.
Dieses nunmehr genugsam entwickelte farbige Phänomen
lassen wir denn nicht als ein ursprüngliches gelten, son-
dern wir haben es auf ein früheres und einfacheres zu-
rückgeführt und solches aus dem Urphänomen des Lichtes
IL PHYSISCHE FARHEN loi
und der Finsternis, durch die Trübe vermittelt, in Ver-
bindung mit der Lehre von den sekundären Bildern ab-
geleitet, und so gerüstet werden wir die Erscheinungen,
welche graue und farbige Bilder, durch Brechung ver-
rückt, hervorbringen, zuletzt umständlich vortragen und
damit den Abschnitt subjektiver Erscheinungen völlig ab-
schheßen.
XVII. Graue Bilder durch Brechung verrückt
248. Wir haben bisher nur schwarze und weiße Bilder
auf entgegengesetztem Grunde durchs Prisma betrachtet,
weil sich an denselben die farbigen Ränder und Säume
am deutlichsten ausnehmen. Gegenwärtig wiederholen wir
jene Versuche mit grauen Bildern und finden abermals
die bekannten Wirkungen.
249. Nannten wir das Schwarze den Repräsentanten der
Finsternis, das Weiße den Stellvertreter des Lichts (18),
so können wir sagen, daß das Graue den Halbschatten
repräsentiere, welcher mehr oder weniger an Licht tmd
Finsternis teilnimmt und also zwischen beiden innesteht
(36). Zu unserm gegenwärtigen Zwecke rufen wir fol-
gende Phänomene ins Gedächtnis.
250. Graue Bilder erscheinen heller auf schwarzem als
auf weißem Grunde (33) und erscheinen in solchen Fäl-
len als ein Helles auf dem Schwarzen größer, als ein
Dunkles auf dem Weißen kleiner (i 6),
251. Je dunkler das Grau ist, desto mehr erscheint es
als ein schwaches Bild auf Schwarz, als ein starkes Bild
auf Weiß, und umgekehrt; daher gibt Dunkelgrau auf
Schwarz nur schwache, dasselbe auf Weiß starke, Hellgrau
auf Weiß schwache, auf Schwarz starke Nebenbilder.
252. Grau auf Schwarz wird uns durchs Prisma jene
Phänomene zeigen, die wir bisher mit Weiß auf Schwarz
hervorgebracht haben; die Ränder werden nach eben-
der Regel gefärbt, die Säume zeigen sich nur schwächer.
Bringen wir Grau auf Weiß, so erbhcken wir ebendie
Ränder und Säume, welche hervorgebracht wurden, wenn
wir Schwarz auf Weiß durchs Prisma betrachteten.
I o 2 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
253. Verschiedene Schattierungen von Grau, stufenweise
aneinander gesetzt, werden, je nachdem man das Dunk-
lere oben- oder untenhin bringt, entweder nur Blau und
Violett oder nur Rot und Gelb an den Rändern zeigen,
254. Eine Reihe grauer Schattierungen, horizontal an-
einander gestellt, wird, wie sie oben oder unten an eine
schwarze oder weiße Fläche stößt, nach den bekannten
Regeln gefärbt.
255. Auf der zu diesem Abschnitt bestimmten, von jedem
Naturfreund für seinen Apparat zu vergrößernden Tafel
kann man diese Phänomene durchs Prisma mit einem
Blicke gewahr werden.
256. Höchst wichtig aber ist die Beobachtung und Be-
trachtung eines grauen Bildes, welches zwischen einer
schwarzen und einer weißen Fläche dergestalt angebcacht
ist, daß die TeilungsHnie vertikal durch das Bild durch-
geht.
257. An diesem grauen Bilde werden die Farben nach
der bekannten Regel, aber nach dem verschiedenen Ver-
hältnisse des Hellen zum Dunklen auf einer Linie entgegen-
gesetzt erscheinen. Denn indem das Graue zum Schwar-
zen sich als hell zeigt, so hat es oben das Rote und Gelbe,
unten das Blaue imd Violette. Indem es sich zum Weißen
als dunkel verhält, so sieht man oben den blauen und
violetten, unten hingegen den roten und gelben Rand.
Diese Beobachtung wird für die nächste Abteilung höchst
wichtig.
XVIII. Farbige Bilder durch Brechung verrückt
258. Eine farbige große Fläche zeigt innerhalb ihrer
selbst, so wenig als eine schwarze, weiße oder graue,
irgendeine prismatische Farbe, es müßte denn zufällig
oder vorsätzlich auf ihr Hell und Dunkel abwechseln. Es
sind also auch nvu: Beobachtungen durchs Prisma an far-
bigen Flächen anzustellen, insofern sie durch einen Rand
von einer andern verschieden tingierten Fläche abgeson-
dert werden, also auch nur an farbigen Bildern.
259. Es kommen alle Farben, welcher Art sie auch sein
IL PHYSISCHE FARBEN 103
mögen, darin mit dem Grauen iiberein, daß sie dunkler
als Weiß und heller als Schwarz erscheinen. Dieses Schat-
tenhafte der Farbe (o'/.UQ6i') ist schon früher angedeutet
worden (69) und wird uns immer bedeutender werden.
Wenn wir also vorerst farbige Bilder auf schwarze und
weiße Flächen bringen und sie durchs Prisma betrachten,
so werden wir alles, was wir bei grauen Flächen bemerkt
haben, hier abermals finden.
260. Verrücken wir ein farbiges Bild, so entsteht wie
bei farblosen Bildern, nach ebenden Gesetzen, ein Neben-
bild. Dieses Nebenbild behält, was die Farbe betrifft,
seine ursprüngliche Natur bei und wirkt auf der einen
Seite als ein Blaues und Blaurotes, auf der entgegenge-
setzten als ein Gelbes und Gelbrotes. Daher muß der
Fall eintreten, daß die Scheinfarbe des Randes und des
Saumes mit der realen Farbe eines farbigen Bildes homo-
gen sei; es kann aber auch im andern Falle das mit einem
Pigment gefärbte Bild mit dem erscheinenden Rand und
Saum sich heterogen finden. In dem ersten Falle identi-
fiziert sich das Scheinbild mit dem wahren und scheint
dasselbe zu vergrößern, dahingegen in dem zweiten Falle
das wahre Bild durch das Scheinbild verunreinigt, un-
deutlich gemacht und verkleinert werden kann. Wir wol-
len die Fälle durchgehen, wo diese Wirkungen sich am
sonderbarsten zeigen.
261. Man nehme die zu diesen Versuchen vorbereitete
Tafel vor sich und betrachte das rote und blaue Viereck
auf schwarzem Grunde nebeneinander nach der gewöhn-
lichen Weise durchs Prisma, so werden, da beide Farben
heller sind als der Grund, an beiden sowohl oben als
unten gleiche farbige Ränder und Säume entstehen, nur
werden sie dem Auge des Beobachters nicht gleich deut-
hch erscheinen.
262. Das Rote ist verhältnismäßig gegen das Schwarze
viel heller als das Blaue. Die Farben der Ränder werden
also an dem Roten stärker als an dem Blauen erscheinen,
welches hier wie ein Dunkelgraues wirkt, das wenig von
dem Schwarzen unterschieden ist (251).
263. Der obere rote Rand wird sich mit der Zinnober-
1 04 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
färbe des Vierecks identifizieren, und so wird das rote
Viereck hinaufwärts ein wenig vergrößert erscheinen; der
gelbe herabwärtsstrebende Saum aber gibt der roten Fläche
nur einen höhern Glanz und wird erst bei genauerer Auf-
merksamkeit bemerkbar.
264. Dagegen ist der rote Rand und der gelbe Saum mit
dem blauen Viereck heterogen; es wird also an dem Rande
eine schmutzigrote und hereinwärts in das Viereck eine
schmutziggrüne Farbe entstehen, und so wird beim flüch-
tigen Anblick das blaue Viereck von dieser Seite zu ver-
lieren scheinen.
265. An der untern Grenze der beiden Vierecke wird
ein blauer Rand und ein violetter Saum entstehen und
die entgegengesetzte Wirkung hervorbringen. Denn der
blaue Rand, der mit der Zinnoberfläche heterogen ist,
wird das Gelbrote beschmutzen und eine Art von Grün
hervorbringen, so daß das Rote von dieser Seite verkürzt
und hinaufgerückt erscheint und der violette Saum nach
dem Schwarzen zu kaum bemerkt wird.
266. Dagegen wird der blaue Scheinrand sich mit der
blauen Fläche identifizieren, ihr nicht allein nichts neh-
men, sondern vielmehr noch geben, und dieselbe wird
also dadurch und durch den violetten benachbarten Saum
dem Anscheine nach vergrößert und scheinbar herunter-
gerückt werden.
267. Die Wirkung der homogenen und heterogenen Rän-
der, wie ich sie gegenwärtig genau beschrieben habe, ist
so mächtig und so sonderbar, daß einem flüchtigen Be-
schauer beim ersten Anblicke die beiden Vierecke aus ihrer
wechselseitig horizontalen Lage geschoben und im ent-
gegengesetzten Sinne verrückt scheinen, das Rote hin-
aufwärts, das Blaue herabwärts. Doch niemand, der in
einer gewissen Folge zu beobachten. Versuche aneinan-
der zu knüpfen, auseinander herzuleiten versteht, wird
sich von einer solchen Schein Wirkung täuschen lassen.
268. Eine richtige Einsicht in dieses bedeutende Phäno-
men wird aber dadurch erleichtert, daß gewisse scharfe,
ja ängstliche Bedingungen nötig sind, wenn diese Täu-
schung stattfinden soll. Man muß nämlich zu dem roten
IL PHYSISCHE FARBEN 105
Viereck ein mit Zinnober oder dem besten Mennig, zu
dem blauen ein mit Indig recht satt gefärbtes Papier be-
sorgen. Alsdann verbindet sich der blaue und rote pris-
matische Rand da, wo er homogen ist, unmerklich mit
dem Bilde; da, wo er heterogen ist, beschmutzt er die
Farbe des Vierecks, ohne eine sehr deutliche Mittelfarbe
hervorzubringen. Das Rot des Vierecks darf nicht zu sehr
ins Gelbe fallen, sonst wird oben der dunkelrote Schein-
rand zu sehr bemerklich; es muß aber von der andern
Seite genug vom Gelben haben, sonst wird die Verände-
rung durch den gelben Saum zu deutlich. Das Blaue darf
nicht hell sein, sonst wird der rote Rand sichtbar und
der gelbe Saum bringt zu offenbar ein Grün hervor, und
man kann den imtern violetten Saum nicht mehr für die
verrückte Gestalt eines hellblauen Vierecks ansehen oder
ausgeben.
269. Von allem diesem wird künftig umständlicher die
Rede sein, wenn wir vom Apparate zu dieser Abteilung
handeln werden. Jeder Naturforscher bereite sich die Ta-
feln selbst, um dieses Taschenspielerstückchen hervor-
bringen zu können und sich dabei zu überzeugen, daß die
farbigen Ränder selbst in diesem Falle einer geschärften
Aufmerksamkeit nicht entgehen können.
270. Indessen sind andere mannigfaltige Zusammenstel-
lungen, wie sie unsre Tafel zeigt, völlig geeignet, allen
Zweifel über diesen Punkt jedem Aufmerksamen zu be-
nehmen,
271. Man betrachte dagegen ein weißes, neben dem
blauen stehendes Viereck auf schwarzem Grunde, so wer-
den an dem weißen, welches hier an der Stelle des roten
steht, die entgegengesetzten Ränder in ihrer höchsten
Energie sich zeigen. Es erstreckt sich an demselben der
rote Rand fast noch mehr als oben am roten selbst über
die Horizontallinie des blauen hinauf; der untere blaue
Rand aber ist an dem weißen in seiner ganzen Schöne
sichtbar; dagegen verliert er sich in dem blauen Viereck
durch Identifikation. Der violette Saum hinabwärts ist
viel deutlicher an dem weißen als an dem blauen.
272. Man vergleiche nvm die mit Fleiß übereinander ge-
I o6 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
stellten Paare gedachter Vierecke, das rote mit dem wei-
ßen, die beiden blauen Vierecke miteinander, das blaue
mit dem roten, das blaue mit dem weißen, und man wird
die Verhältnisse dieser Flächen zu ihren farbigen Rän-
dern und Säumen deutlich einsehen.
273. Noch auffallender erscheinen die Ränder und ihre
Verhältnisse zu den farbigen Bildern, wenn man die far-
bigen Vierecke und das schwarze auf weißem Grunde be-
trachtet. Denn hier fällt jene Täuschung völlig weg, und
die Wirkungen der Ränder sind so sichtbar, als wir sie
nur in irgendeinem andern Falle bemerkt haben. Man be-
trachte zuerst das blaue und rote Viereck durchs Prisma.
An beiden entsteht der blaue Rand nunmehr oben. Die-
ser, homogen mit dem blauen Bilde, verbindet sich dem-
selben und scheint es in die Höhe zu heben, nur daß der
hellblaue Rand oberwärts zu sehr absticht. Der violette
Saum ist auch herabwärts ins Blaue deutlich genug. Eben-
dieser obere blaue Scheinrand ist nun mit dem roten
Viereck heterogen, er ist in der Gegenwirkung begrififen
und kamn sichtbar. Der violette Saum indessen bringt,
verbunden mit dem Gelbroten des Bildes, eine Pfirsich-
blütfarbe zuwege.
274. Wenn nun aus der angegebenen Ursache die oberen
Ränder dieser Vierecke nicht horizontal erscheinen, so
erscheinen die untern desto gleicher: denn indem beide
Farben, die rote und die blaue, gegen das Weiße gerech-
net, dunkler sind, als sie gegen das Schwarze hell waren,
welches besonders von der letztern gilt, so entsteht unter
beiden der rote Rand mit seinem gelben Saume sehr
deutlich. Er zeigt sich unter dem gelbroten Bilde in sei-
ner ganzen Schönheit und unter dem dunkelblauen bei-
nahe, wie er unter dem schwarzen erschien; wie man be-
merken kann, wenn man abermals die übereinander ge-
setzten Bilder und ihre Ränder und Säume vergleicht.
275. Um nun diesen Versuchen die größte Mannigfaltig-
keit und Deutlichkeit zu geben, sind Vierecke von ver-
schiedenen Farben in der Mitte der Tafel dergestalt an-
gebracht, daß die Grenze des Schwarzen und Weißen
vertikal durch sie durchgeht. Man wird sie, nach jenen
IL PHYSISCHE FARBEN 107
uns überhaupt und besonders bei farbigen Bildern genug-
sam bekannt gewordenen Regeln, an jedem Rand zwie-
fach gefärbt finden, und die Vierecke werden in sich
selbst entzwei gerissen und hinauf- oder herunterwärts ge-
rückt erscheinen. Wir erinnern uns hiebei jenes grauen,
gleichfalls auf der Grenzscheidung des Schwarzen und
Weißen beobachteten Bildes (257).
276. Da nun das Phänomen, das wir vorhin an einem
roten und blauen Viereck auf schwarzem Grunde bis zur
Täuschung gesehen haben, das Hinauf- und Hinabrücken
zweier verschieden gefärbten Bilder uns hier an zwei
Hälften eines und desselben Bildes von einer und der-
selben Farbe sichtbar wird, so werden wir dadurch aber-
mals auf die farbigen Ränder, ihre Säume und auf die
Wirkungen ihrer homogenen und heterogenen Natur hin-
gewiesen, wie sie sich zu den Bildern verhält, an denen
die Erscheinung vorgeht.
Ich überlasse den Beobachtern, die mannigfaltigen Schat-
tierungen der halb auf Schwarz, halb auf Weiß ange-
brachten farbigen Vierecke selbst zu vergleichen, und be-
merke nur noch die widersinnige scheinbare Verzerrung,
da Rot und Gelb auf Schwarz hinaufwärts, auf Weiß her-
unterwärts, Blau auf Schwarz herunterwärts und auf Weiß
hinaufwärts gezogen scheinen, welches doch alles dem
bisher weitläuftig Abgehandelten gemäß ist.
277. Nun stelle der Beobachter die Tafel dergestalt vor
sich, daß die vorgedachten, auf der Grenze des Schwar-
zen und Weißen stehenden Vierecke sich vor ihm in einer
horizontalen Reihe befinden und daß zugleich der schwarze
Teil oben, der weiße aber unten sei. Er betrachte durchs
Prisma jene Vierecke, und er wird bemerken, daß das rote
Viereck durch den Ansatz zweier roten Ränder gewinnt;
er wird bei genauer Aufmerksamkeit den gelben Saum
auf dem roten Bilde bemerken, und der untere gelbe Saum
nach dem Weißen zu wird völlig deutlich sein,
278. Oben an dem gelben Viereck ist der rote Rand sehr
merklich, weil das Gelbe als hell gegen das Sch^warz ge-
nugsam absticht. Der gelbe Saum identifiziert sich mit
der gelben Fläche, nur wird solche etwas schöner da-
I o 8 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEII .
durch; der untere Rand zeigt nur wenig Rot, weil das
helle Gelb gegen das Weiße nicht genugsam absticht.
Der untere gelbe Saum aber ist deutlich genug.
279. An dem blauen Viereck hingegen ist der obere rote
Rand kaum sichtbar; der gelbe Saum bringt henmterwärts
ein schmutziges Grün im Bilde hervor; der untere rote
Rand und der gelbe Saum zeigen sich in lebhaften Far-
ben.
280. Bemerkt man nun in diesen Fällen, daß das rote
Bild durch einen Ansatz auf beiden Seiten zu gewinnen,
das dunkelblaue von einer Seite wenigstens zu verlieren
scheint, so wird man, wenn man die Pappe umkehrt, so
daß der weiße Teil sich oben, der schwarze sich unten
befindet, das umgekehrte Phänomen erblicken.
281. Denn da nunmehr die homogenen Ränder und Säume
an den blauen Vierecken oben und unten entstehen, so
scheinen diese vergrößert, ja ein Teil der Bilder selbst
schöner gefärbt, und nur eine genaue Beobachtung wird
die Ränder und Säume von der Farbe der Fläche selbst
unterscheiden lehren.
282. Das gelbe und rote dagegen werden in dieser
Stellung der Tafel von den heterogenen Rändern einge-
schränkt und die Wirkung der Lokalfarbe verkümmert.
Der obere blaue Rand ist an beiden fast gar nicht sicht-
bar. Der violette Saum zeigt sich als ein schönes Pfir-
sichblüt auf dem roten, als ein sehr blasses auf dem gel-
ben; die beiden imtern Ränder sind grün, an dem roten
schmutzig, lebhaft an dem gelben; den violetten Saum
bemerkt man unter dem roten wenig, mehr unter dem
gelben.
283. Ein jeder Naturfreund mache sich zur Pflicht, mit
allen den vorgetragenen Erscheinungen genau bekannt
zu werden, und halte es nicht für lästig, ein einziges
Phänomen durch so manche bedingende Umstände durch-
zuführen. Ja, diese Erfahrungen lassen sich noch ins Un-
endliche durch Bilder von verschiedenen Farben auf imd
zwischen verschiedenfarbigen Flächen vervielfältigen. Un-
ter allen Umständen aber wird jedem Aufmerksamen deut-
lich werden, daß farbige Vierecke nebeneinander nur des-
II. PHYSISCHE FARBEN 109
wegen durch das Prisma verschoben erscheinen, weil ein
Ansatz von homogenen und heterogenen Rändern eine
Täuschung hervorbringt. Diese ist man nur alsdann zu
verbannen fähig, wenn man eine Reihe von Versuchen
nebeneinander zu stellen und ihre Übereinstimmung dar-
zutun genügsame Geduld hat.
Warum wir aber vorstehende Versuche mit farbigen Bil-
dern, welche auf mehr als eine Weise vorgetragen wer-
den konnten, gerade so und so umständlich dargestellt,
wird in der Folge deutlicher werden. Gedachte Phäno-
mene waren früher zwar nicht unbekannt, aber sehr ver-
kannt, deswegen wir sie zu Erleichterung eines künftigen
historischen Vortrags genau entwickeln mußten.
284. Wir wollen nunmehr zum Schlüsse den Freunden
der Natur eine Vorrichtung anzeigen, durch welche diese
Erscheinungen auf einmal deutlich, ja in ihrem größten
Glänze gesehen werden können.
Man schneide aus einer Pappe fünf ungefähr einen Zoll
große, völlig gleiche Vierecke nebeneinander aus, genau
in horizontaler Linie. Man bringe dahinter fünf farbige
Gläser in der bekannten Ordnung: Orange, Gelb, Grün,
Blau, Violett. Man befestige diese Tafel in einer Öffnung
der Camera obscura, so daß der helle Himmel durch sie
gesehen wird oder daß die Sonne darauf scheint, und
man wird höchst energische Bilder vor sich haben. Man
betrachte sie nun durchs Prisma und beobachte die durch
jene Versuche an gemalten Bildern schon bekannten Phä-
nomene, nämlich die teils begünstigenden, teils verküm-
mernden Ränder und Säume und die dadurch bewirkte
scheinbare Verrückimg der spezifisch gefärbten Bilder aus
der horizontalen Linie.
Das, was der Beobachter hier sehen wird, folgt genugsam
aus dem früher Abgeleiteten, daher wir es auch nicht
einzeln abermals durchführen, um so weniger, als wir auf
diese Erscheinungen zurückzukehren noch öfteren Anlaß
finden werden.
1 1 o DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
XIX. Achromasie und Hyperchromasie
285. In der frühern Zeit, da man noch manches, was in
der Natur regelmäßig und konstant war, für ein bloßes
Abirren, für zufällig hielt, gab man auf die Farben weniger
acht, welche bei Gelegenheit der Refraktion entstehen,
und hielt sie für eine Erscheinung, die sich von beson-
dern Nebenumständen herschreiben möchte.
286. Nachdem man sich aber überzeugt hatte, daß diese
Farbenerscheinung die Refraktion jederzeit begleite, so
war es natürlich, daß man sie auch als innig und einzig
mit der Refraktion verwandt ansah und nicht anders
glaubte, als daß das Maß der Farbenerscheinung sich nach
dem Maße der Brechung richten und beide gleichen Schritt
miteinander halten müßten.
287. Wenn man also nicht gänzlich, doch einigermaßen
das Phänomen einer stärkeren oder schwächeren Brechung
der verschiedenen Dichtigkeit der Mittel zuschrieb, wie
denn auch reinere atmosphärische Luft, mit Dünsten an-
gefüllte, Wasser, Glas nach ihren steigenden Dichtig-
keiten die sogenannte Brechung, die Verrückung des
Bildes vermehren, so mußte man kaum zweifeln, daß
auch in selbiger Maße die Farbenerscheinung sich stei-
gern müsse, und man glaubte völlig gewiß zu sein, daß
bei verschiedenen Mitteln, welche man im Gegensinne
der Brechung zueinander brachte, sich, solange Bre-
chung vorhanden sei, die Farbe zeigen, sobald aber die
Farbe verschwände, auch die Brechung aufgehoben sein
müsse.
288. In späterer Zeit hingegen ward entdeckt, daß dieses
als gleich angenommene Verhältnis ungleich sei, daß zwei
Mittel das Bild gleich weit verrücken und doch sehr un-
gleiche Farbensäume hervorbringen können.
289. Man fand, daß man zu jener physischen Eigenschaft,
welcher man die Refraktion zuschrieb, noch eine che-
mische hinzuzudenken habe (210), wie wir solches künf-
tig, wenn wir uns chemischen Rücksichten nähern, weiter
auszuführen denken, so wie wir die nähern Umstände die-
ser wichtigen Entdeckung in der Geschichte der Farben-
IL PHYSISCHE FARBEN t i i
lehre aufzuzeichnen haben. Gegenwärtig sei folgendes
genug:
290. Es zeigt sich bei Mitteln von gleicher oder wenig-
stens nahezu gleicher Brechungskraft der merkwürdige
Umstand, daß ein Mehr und Weniger der Farbenerschei-
nung durch eine chemische Behandlung hervorgebracht
werden kann; das Mehr wird nämlich durch Säuren, das
Weniger durch Alkalien bestimmt. Bringt man unter eine
gemeine Glasmasse Metalloxyde, so wird die Farbener-
scheinung solcher Gläser, ohne daß die Refraktion merk-
lich verändert werde, sehr erhöht. Daß das Mindere hin-
gegen auf der alkalischen Seite liege, kann leicht vermutet
werden.
291. Diejenigen Glasarten, welche nach der Entdeckung
zuerst angewendet worden, nennen die Engländer Flint-
und Crownglas, und zwar gehört jenem ersten die stärkere,
diesem zweiten die geringere Farbenerscheinung an.
292. Zu unserer gegenwärtigen Darstellung bedienen wir
uns dieser beiden Ausdrücke als Kunstwörter und neh-
men an, daß in beiden die Refraktion gleich sei, das
Flintglas aber die Farbenerscheinung um ein Drittel stär-
ker als das Crownglas hervorbringe, wobei wir unserm
Leser eine gewissermaßen symbolische Zeichnung zur
Hand geben.
293. Man denke sich auf einer schwarzen Tafel, welche
hier des bequemeren Vortrags wegen in Käsen geteilt ist,
zwischen den Parallellinien ab und cd fünf weiße Vier-
ecke. Das Viereck Nr. i stehe vor dem nackten Auge
unverrückt auf seinem Platz.
294. Das Viereck Nr. 2 aber sei durch ein vor das Auge
gehaltenes Prisma von Crownglas g um drei Käsen ver-
rückt und zeige die Farbensäume in einer gewissen Breite;
ferner sei das Viereck Nr. 3 ^urch ein Prisma von Flint-
glas \}i\ gleichfalls um drei Käsen heruntergerückt, derge-
stalt, daß es die farbigen Säume nunmehr um ein Drittel
breiter als Nr. 2 zeige.
295. Ferner stelle man sich vor, das Viereck Nr. 4 sei
eben wie das Nr. 2 durch ein Prisma von Crownglas erst
drei Käsen verrückt gewesen, dann sei es aber durch ein
1 1 2 DER FARBENJ.EHRE DIDAKTISCHER TEIL
entgegengestelltes Prisma h von Flintglas wieder auf
seinen vorigen Fleck, wo man es nun sieht, gehoben
worden.
296. Hier hebt sich nun die Refraktion zwar gegenein-
ander auf; allein da das Prisma h bei der Verrückung
durch drei Käsen um ein Drittel breitere Farbensäume,
als dem Prisma g eigen sind, hervorbringt, so muß bei
aufgehobener Refraktion noch ein Überschuß von Farben-
saum übrigbleiben, und zwar im Sinne der scheinbaren
Bewegung, welche das Prisma h dem Bilde erteilt, imd
folglich umgekehrt, wie wir die Farben an den herabge-
rückten Nummern 2 und 3 erblicken. Dieses Überschie-
ßende der Farbe haben wir Hyperchromasie genannt,
woraus sich denn die Achromasie unmittelbar folgern
läßt.
297. Denn gesetzt, es wäre das Viereck Nr. 5 von seinem
ersten supponierten Platze wie Nr. 2 durch ein Prisma
von Crownglas g um drei Käsen heruntergerückt worden,
so dürfte man nur den Winkel eines Prismas von Flint-
glas h verkleinern, solches im umgekehrten Sinne an das
Prisma g anschließen, um das Viereck Nr. 5 zwei Käsen
scheinbar hinauf zu heben, wobei die Hyperchromasie
des vorigen Falles wegfiele, das Bild nicht ganz an seine
erste Stelle gelangte und doch schon farblos erschiene.
Man sieht auch an den fortpunktierten Linien der zu-
sammengesetzten Prismen unter Nr. 5, daß ein wirkliches
Prisma übrigbleibt und also auch auf diesem Wege, so-
bald man sich die Linien krumm denkt, ein Okularglas
entstehen kann, wodurch denn die achromatischen Fern-
gläser abgeleitet sind.
298. Zu diesen Versuchen, wie wir sie hier vortragen,
ist ein kleines, aus drei verschiedenen Prismen zusammen-
gesetztes Prisma, wie solche in England verfertigt wer-
den, höchst geschickt. Hoffentlich werden künftig unsre
inländischen Künstler mit diesem notwendigen Instrumente
jeden Naturfreund versehen.
IL PHYSISCHE FARBEN 113
XX. Vorzüge der subjektiven Versuche. Übergang zu den
objektiven
299. Wir haben die Farbenerscheinungen, welche sich
bei Gelegenheit der Refraktion sehen lassen, zuerst durch
subjektive Versuche dargestellt und das Ganze in sich
dergestalt abgeschlossen, daß wir auch schon jene Phäno-
mene aus der Lehre von den trüben Mitteln und Doppel-
bildern ableiteten.
300. Da bei Vorträgen, die sich auf die Natur beziehen,
doch alles auf Sehen und Schauen ankommt, so sind diese
Versuche um desto erwünschter, als sie sich leicht imd
bequem anstellen lassen. Jeder Liebhaber kann sich den
Apparat ohne große Umstände und Kosten anschaffen,
ja, wer mit Papparbeiten einigermaßen umzugehen weiß,
einen großen Teil selbst verfertigen. Wenige Tafeln, auf
welchen schwarze, weiße, graue und farbige Bilder auf
hellem und dunkelm Grunde abwechseln, sind dazu hin-
reichend. Man stellt sie unverrückt vor sich hin, be-
trachtet bequem und anhaltend die Erscheinungen an
dem Rande der Bilder; man entfernt sich, man nähert
sich wieder und beobachtet genau den Stufengang des
Phänomens.
301. Ferner lassen sich auch durch geringe Prismen, die
nicht von dem reinsten Glase sind, die Erscheinungen
noch deutlich genug beobachten. Was jedoch wegen die-
ser Glasgerätschaften noch zu wünschen sein möchte, wird
in dem Abschnitt, der den Apparat abhandelt, umständ-
lich zu finden sein.
302. Ein Hauptvorteil dieser Versuche ist sodann, daß
man sie zu jeder Tageszeit anstellen kann, in jedem Zim-
mer, es sei nach einer Weltgegend gerichtet, nach wel-
cher es wolle; man braucht nicht auf Sonnenschein zu
warten, der einem nordischen Beobachter überhaupt nicht
reichlich gewogen ist.
Die objektiven Versuche
303. verlangen hingegen notwendig den Sonnenschein,
der, wenn er sich auch einstellt, nicht immer den wün-
GOETHE XVII 8.
1 1 4 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
sehenswerten Bezug auf den ihm entgegengestellten Ap-
parat haben kann. Bald steht die Sonne zu hoch, bald
zu tief, und doch auch nur kurze Zeit in dem Meridian
des am besten gelegenen Zimmers. Unter dem Beobachten
weicht sie; man muß mit dem Apparat nachrücken, wo-
durch in manchen Fällen die Versuche unsicher werden.
Wenn die Sonne durchs Prisma scheint, so offenbart sie
alle Ungleichheiten, innere Fäden und Bläschen des Gla-
ses, wodurch die Erscheinung verwirrt, getrübt und miß-
färbig gemacht wird,
304. Doch müssen die Versuche beider Arten gleich ge-
nau bekannt sein. Sie scheinen einander entgegengesetzt
und gehen immer miteinander parallel; was die einen
zeigen, zeigen die andern auch, und doch hat jede Art
wieder ihre Eigenheiten, wodurch gewisse Wirkungen der
Natur auf mehr als eine Weise oifenbar werden.
305. Sodann gibt es bedeutende Phänomene, welche
man durch Verbindung der subjektiven und objektiven
Versuche hervorbringt. Nicht weniger gewähren uns die
objektiven den Vorteil, daß wir sie meist durch Linear-
zeichnungen darstellen und die innern Verhältnisse des
Phänomens auf unsern Tafeln vor Augen legen können.
Wir säumen daher nicht, die objektiven Versuche sogleich
dergestalt vorzutragen, daß die Phänomene mit den sub-
jektiv vorgestellten durchaus gleichen Schritt halten; des-
wegen wir auch neben der Zahl eines jeden Paragraphen
die Zahl der früheren in Parenthese unmittelbar anfügen.
Doch setzen wir im ganzen voraus, daß der Leser sich
mit den Tafeln, der Forscher mit dem Apparat bekannt
mache, damit die Zwillingsphänomene, von denen die
Rede ist, auf eine oder die andere Weise dem Liebhaber
vor Augen seien.
XXI. Refraktion ohne Farbenerscheinung
306 (195. 196). Daß die Refraktion ihre Wirkung äußre,
ohne eine Farbenerscheinung hervorzubringen, ist bei ob-
jektiven Versuchen nicht so vollkommen als bei subjek-
tiven darzutun. Wir haben zwar unbegrenzte Räume, nach
IL PHYSISCHE FARBEN 1 1 5
welchen wir durchs Prisma schauen und uns überzeugen
können, daß ohne Grenze keine Farbe entstehe; aber wir
haben kein unbegrenzt Leuchtendes, welches wir könnten
aufs Prisma wirken lassen. Unser Licht kommt uns von
begrenzten Körpern, und die Sonne, welche unsre mei-
sten objektiven prismatischen Erscheinungen hervorbringt,
ist ja selbst nur ein kleines begrenzt leuchtendes Bild.
307. Indessen können wir jede größere Öffnung, durch
welche die Sonne durchscheint, jedes größere Mittel, wo-
durch das Sonnenlicht aufgefangen und aus seiner Rich-
tung gebracht wird, schon insofern als unbegrenzt an-
sehen, indem wir bloß die Mitte der Flächen, nicht aber
ihre Grenzen betrachten.
308 (197). Man stelle ein großes Wasserprisma in die
Sonne, und ein heller Raum wird sich in die Höhe ge-
brochen an einer entgegengesetzten Tafel zeigen und die
Mitte dieses erleuchteten Raumes farblos sein. Ebendas-
selbe erreicht man, wenn man mit Glasprismen, welche
Winkel von wenigen Graden haben, den Versuch anstellt.
Ja, diese Erscheinung zeigt sich selbst bei Glasprismen,
deren brechender Winkel sechzig Grad ist, wenn man nur
die Tafel nahe genug heranbringt.
XXII. Bedingungen der Farbenerscheinung
309 (198). Wenn nun gedachter erleuchteter Raum zwar
gebrochen, von der Stelle gerückt, aber nicht gefärbt er-
scheint, so sieht man jedoch an den horizontalen Grenzen
desselben eine farbige Erscheinung. Daß auch hier die
Farbe bloß durch Verrückung eines Bildes entstehe, ist
umständlicher darzutun.
Das Leuchtende, welches hier wirkt, ist ein Begrenztes,
und die Sonne wirkt hier, indem sie scheint und strahlt,
als ein Bild. Man mache die Öffnung in dem Laden der
Camera obscura so klein, als man kann, immer wird das
ganze Bild der Sonne hereindringen. Das von ihrer Scheibe
herströmende Licht wird sich in der kleinsten Öffnung
kreuzen und den Winkel machen, der ihrem scheinbaren
Diameter gemäß ist. Hier kommt ein Konus mit der Spitze
1 1 6 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
außen an, und inwendig verbreitert sich diese Spitze wie-
der, bringt ein durch eine Tafel aufzufassendes rundes,
sich durch die Entfernung der Tafel auf immer vergrö-
ßerndes Bild hervor, welches Bild nebst allen übrigen
Bildern der äußeren Landschaft auf einer weißen gegen-
gehaltenen Fläche im dunklen Zimmer umgekehrt er-
scheint.
310. Wie wenig also hier von einzelnen Sonnenstrahlen
oder Strahlenbündeln und -büscheln, von Strahlenzylin-
dem, -Stäben, und wie man sich das alles vorstellen mag,
die Rede sein kann, ist auffallend. Zu Bequemlichkeit
gewisser Lineardarstellungen nehme man das Sonnenlicht
als parallel einfallend an; aber man wisse, daß dieses nur
eine Fiktion ist, welche man sich gar wohl erlauben kann
da, wo der zwischen die Fiktion und die wahre Erschei-
nung fallende Bruch unbedeutend ist. Man hüte sich
aber, diese Fiktion wieder zum Phänomen zu machen und
mit einem solchen fingierten Phänomen weiter fort zu
operieren.
311. Man vergrößre nunmehr die Öffnung in dem Fenster-
laden, so weit man will, man mache sie rund oder vier-
eckt, ja man öffne den Laden ganz und lasse die Sonne
durch den völligen Fensterraum in das Zimmer scheinen:
der Raum, den sie erleuchtet, wird immer so viel größer
sein, als der Winkel, den ihr Durchmesser macht, ver-
langt, und also ist auch selbst der ganze durch das größte
Fenster von der Sonne erleuchtete Raum nur das Sonnen-
bild plus der Weite der Öffnung. Wir werden hierauf
zurückzukehren künftig Gelegenheit finden.
312 (199). Fangen wir nun das Sonnenbild durch kon-
vexe Gläser auf, so ziehen wir es gegen den Fokus zu-
sammen. Hier muß nach den oben ausgeführten Regeln
ein gelber Saum und ein gelbroter Rand entstehen, wenn
das Bild auf einem weißen Papiere aufgefangen wird. Weil
aber dieser Versuch blendend und unbequem ist, so macht
er sich am schönsten mit dem Bilde des Vollmonds. Wenn
man dieses durch ein konvexes Glas zusammenzieht, so
erscheint der farbige Rand in der größten Schönheit: denn
der Mond sendet an sich schon ein gemäßigtes Licht, und
II. PHYSISCHE FARBEN 1 1 7
er kann also um desto eher die Farbe, welche aus Mäßi-
gung des Lichts entsteht, hervorbringen, wobei zugleich
das Auge des Beobachters nur leise und angenehm be-
rührt wird.
313 (200). Wenn man ein leuchtendes Bild durch kon-
kave Gläser auffaßt, so wird es vergrößert und also aus-
gedehnt. Hier erscheint das Bild blau begrenzt.
314. Beide entgegengesetzte P>scheinungen kann man
durch ein konvexes Glas sowohl simultan als sukzessiv
hervorbringen, und zwar simultan, wenn man auf das
konvexe Glas in der Mitte eine undurchsichtige Scheibe
klebt und nun das Sonnenbild auffängt. Hier wird nun
sowohl das leuchtende Bild als der in ihm befindliche
schwarze Kern zusammengezogen, und so müssen auch
die entgegengesetzten Farberscheinungen entstehen. Fer-
ner kann man diesen Gegensatz sukzessiv gewahr werden,
wenn man das leuchtende Bild erst bis gegen den Fokus
zusammenzieht, da man denn Gelb und Gelbrot gewahr
wird, dann aber hinter dem Fokus dasselbe sich ausdeh-
nen läßt, da es denn sogleich eine blaue Grenze zeigt.
315 (201). Auch hier gilt, was bei den subjektiven Er-
fahrungen gesagt worden, daß das Blaue und Gelbe sich
an und über dem Weißen zeige und daß beide Farben
einen rötlichen Schein annehmen, insofern sie über das
Schwarze reichen.
316 (202. 203). Diese Grunderscheinungen wiederholen
sich bei allen folgenden objektiven Erfahrungen, so wie
sie die Grundlage der subjektiven ausmachten. Auch die
Operation, welche vorgenommen wird, ist ebendieselbe:
ein heller Rand wird gegen eine dunkle Fläche, eine
dunkle Fläche gegen eine helle Grenze geführt. Die
Grenzen müssen einen Weg machen und sich gleichsam
übereinander drängen, bei diesen Versuchen wie bei
jenen.
317 (204). Lassen wir also das Sonnenbild durch eine
größere oder kleinere Öffnung in die dunkle Kammer,
fangen wir es durch ein Prisma auf, dessen brechender
Winkel hier wie gewöhnlich unten sein mag, so kommt
das leuchtende Bild nicht in gerader Linie nach dem
1 1 8 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Fußboden, sondern es wird an eine vertikal gesetzte Tafel
hinaufgebrochen. Hier ist es Zeit, des Gegensatzes zu
gedenken, in welchem sich die subjektive und objektive
Verrückung des Bildes befindet.
318. Sehen wir durch ein Prisma, dessen brechender
Winkel sich unten befindet, nach einem in der Höhe be-
findlichen Bilde, so wird dieses Bild heruntergerückt, an-
statt daß ein einfallendes leuchtendes Bild von demselben
Prisma in die Höhe geschoben wird. Was wir hier der
Kürze wegen nur historisch angeben, läßt sich aus den
Regeln der Brechimg und Hebung ohne Schwierigkeit ab-
leiten.
319. Indem nun also auf diese Weise das leuchtende
Bild von seiner Stelle gerückt wird, so gehen auch die
Farbensäume nach den früher ausgeführten Regeln ihren
Weg. Der violette Saum geht jederzeit voraus und also
bei objektiven hinaufwärts, wenn er bei subjektiven her-
unterwärts geht.
320 (205). Ebenso überzeuge sich der Beobachter von
der Färbung in der Diagonale, wenn die Verrückung
durch zwei Prismen in dieser Richtung geschieht, wie bei
dem subjektiven Falle deutlich genug angegeben; man
schaffe sich aber hiezu Prismen mit Winkeln von wenigen,
etwa fünfzehn Graden.
321 (206. 207). Daß die Färbung des Bildes auch hier
nach der Richtung seiner Bewegung geschehe, wird man
einsehen, wenn man eine Öffnung im Laden von mäßiger
Größe viereckt macht und das leuchtende Bild durch
das Wasserprisma gehen läßt, erst die Ränder in hori-
zontaler und vertikaler Richtung, sodann in der diago-
nalen.
322 (208). Wobei sich denn abermals zeigen wird, daß
die Grenzen nicht nebeneinander weg, sondern überein-
ander geführt werden müssen.
XXIII. Bedingungen des Zunehmens der Erscheinung
323 (209). Auch hier bringt eine vermehrte Verrückung
des Bildes eine stärkere Farbenerscheinung zuwege.
II. PHYSISCHE FARBEN 1 1 9
324 (210). Diese vermehrte Verrückung aber hat
statt:
i) durch schiefere Richtung des auffallenden leuchtenden
Bildes auf parallele Mittel;
2) durch Veränderung der parallelen Form in eine mehr
oder weniger spitzwinklige;
3) durch verstärktes Maß des Mittels, des parallelen oder
winkelhaften, teils weil das Bild auf diesem Wege stärker
verrückt wird, teils weil eine der Masse angehörige Eigen-
schaft mit zur Wirkung gelangt;
4) durch die Entfernung der Tafel von dem brechenden
Mittel, so daß das heraustretende gefärbte Bild einen
längeren Weg zurücklegt.
5) Zeigt sich eine chemische Eigenschaft unter allen die-
sen Umständen wirksam, welche wir schon unter den Ru-
briken der Achromasie und Hyperchromasie näher ange-
deutet haben.
325 (211). Die objektiven Versuche geben uns den Vor-
teil, daß wir das Werdende des Phänomens, seine suk-
zessive Genese außer uns darstellen und zugleich mit
Linearzeichnungen deutlich machen können, welches bei
subjektiven der Fall nicht ist.
326. Wenn man das aus dem Prisma heraustretende leuch-
tende Bild und seine wachsende Farbenerscheinung auf
einer entgegengehaltenen Tafel stufenweise beobachten
und sich Durchschnitte von diesem Konus mit elliptischer
Base vor Augen stellen kann, so läßt sich auch das Phä-
nomen auf seinem ganzen Wege zum schönsten folgender-
maßen sichtbar machen. Man errege nämlich in der Linie,
in welcher das Bild durch den dunklen Raum geht, eine
weiße feine Staubwolke, welche durch feinen, recht trock-
nen Haarpuder am besten hervorgebracht wird. Die mehr
oder weniger gefärbte Erscheinung wird nun durch die
weißen Atomen aufgefangen und dem Auge in ihrer gan-
zen Breite und Länge dargestellt.
327. Ebenso haben wir Linearzeichnungen bereitet und
solche imter unsre Tafeln aufgenommen, wo die Erschei-
nung von ihrem ersten Ursprünge an dargestellt ist und
an welchen man sich deutlich machen kann, warum das
1 2 o DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
leuchtende Bild durch Prismen so viel stärker als durch
parallele Mittel gefärbt wird.
328 (212). An den beiden entgegengesetzten Grenzen
steht eine entgegengesetzte Erscheinung in einem spitzen
Winkel auf, die sich, wie sie weiter in dem Räume vor-
wärtsgeht, nach Maßgabe dieses Winkels verbreitert. So
strebt in der Richtung, in welcher das leuchtende Bild
verrückt worden, ein violetter Saum in das Dunkle hin-
aus, ein blauer schmalerer Rand bleibt an der Grenze.
Von der andern Seite strebt ein gelber Saum in das Helle
hinein, und ein gelbroter Rand bleibt an der Grenze.
329 (213). Hier ist also die Bewegung des Dunklen
gegen das Helle, des Hellen gegen das Dunkle wohl zu
beachten.
330 (214). Eines großen Bildes Mitte bleibt lange un-
gefärbt, besonders bei Mitteln von minderer Dichtigkeit
und geringerem Maße, bis endlich die entgegengesetzten
Säume und Ränder einander erreichen, da alsdann bei
dem leuchtenden Bild in der Mitte ein Grün entsteht.
331 (215). Wenn nun die objektiven Versuche gewöhn-
lich nur mit dem leuchtenden Sonnenbilde gemacht wur-
den, so ist ein objektiver Versuch mit einem dunklen
Bilde bisher fast gar nicht vorgekommen. Wir haben
hierzu aber auch eine bequeme Vorrichtung angegeben.
Jenes große Wasserprisma nämlich stelle man in die Sonne
und klebe auf die äußere oder innere Seite eine runde Pap-
penscheibe, so wird die farbige Erscheinung abermals
an den Rändern vorgehen, nach jenem bekannten Gesetz
entspringen: die Ränder werden erscheinen, sich in jener
Maße verbreitern und in der Mitte der Purpur entstehen.
Man kann neben das Rund ein Viereck in beliebiger Rich-
tung hinzufügen und sich von dem oben mehrmals Ange-
gebenen und Ausgesprochenen von neuem überzeugen.
332 (216). Nimmt man von dem gedachten Prisma diese
dunklen Bilder wieder hinweg, wobei jedoch die Glas-
tafeln jedesmal sorgfältig zu reinigen sind, und hält einen
schwachen Stab, etwa einen starken Bleistift, vor die
Mitte des horizontalen Prismas, so wird man das völlige
Übereinandergreifen des violetten Saums und des roten
II. PHYSISCHE FARBEN 1 2 1
Randes bewirken und nur die drei Farben, die zwei äußern
und die mittlere, sehen.
333. Schneidet man eine vor das Prisma zu schiebende
Pappe dergestalt aus, daß in der Mitte derselben eine
horizontale längliche Öffnung gebildet wird, und läßt als-
dann das Sonnenlicht hindurchfallen, so wird man die
völlige Vereinigung des gelben Saumes und des blauen
Randes nunmehr über das Helle bewirken und nur Gelb-
rot, Grün und Violett sehen: auf welche Art und Weise,
ist bei Erklärung der Tafeln weiter auseinandergesetzt.
334 (217). Die prismatische Erscheinung ist also keines-
weges fertig und vollendet, indem das leuchtende Bild aus
dem Prisma hervortritt. Man wird alsdann nur erst ihre
Anfänge im Gegensatz gewahr; dann wächst sie, das Ent-
gegengesetzte vereinigt sich und verschränkt sich zuletzt
aufs innigste. Der von einer Tafel aufgefangene Durch-
schnitt dieses Phänomens ist in jeder Entfernung vom
Prisma anders, so daß weder von einer stetigen Folge
der Farben noch von einem durchaus gleichen Maß der-
selben die Rede sein kann, weshalb der Liebhaber und
Beobachter sich an die Natur und unsre naturgemäßen
Tafeln wenden wird, welchen zum Überfluß eine aber-
malige Erklärung sowie eine genügsame Anweisung und
Anleitung zu allen Versuchen hinzugefügt ist.
XXIV. Ableitung der angezeigten Phänomene
335 (218). Wenn wir diese Ableitung schon bei Gelegen-
heit der subjektiven Versuche umständlich vorgetragen,
wenn alles, was dort gegolten hat, auch hier gilt, so be-
darf es keiner weitläufigen Ausführung mehr, um zu zei-
gen, daß dasjenige, was in der Erscheinung völlig par-
allel geht, sich auch aus ebendenselben Quellen ableiten
lasse.
336 (219). Daß wir auch bei objektiven Versuchen mit
Bildern zu tun haben, ist oben umständlich dargetan wor-
den. Die Sonne mag durch die kleinste Ötfnung herein-
scheinen, so dringt doch immer das Bild ihrer ganzen
Scheibe hindurch. Man mng das größte Prisma in das
1 2 2 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
freie Sonnenlicht stellen, so ist es doch immer wieder
das Sonnenbild, das sich an den Rändern der brechenden
Flächen selbst begrenzt und die Nebenbilder dieser Be-
grenzung hervorbringt. Man mag eine vielfach ausge-
schnittene Pappe vor das Wasserprisma schieben, so sind
es doch nur die Bilder aller Art, welche, nachdem sie
durch Brechung von ihrer Stelle gerückt worden, farbige
Ränder und Säume und in denselben durchaus vollkom-
mene Nebenbilder zeigen.
337 (235). Haben uns bei subjektiven Versuchen stark
voneinander abstechende Bilder eine höchst lebhafte Far-
benerscheinung zuwege gebracht, so wird diese bei ob-
jektiven Versuchen noch viel lebhafter und herrlicher sein,
weil das Sonnenbild von der höchsten Energie ist, die
wir kennen, daher auch dessen Nebenbild mächtig und,
ungeachtet seines sekundären getrübten und verdunkelten
Zustandes, noch immer herrlich und glänzend sein muß.
Die vom Sonnenlicht durchs Prisma auf irgendeinen Gegen-
stand geworfenen Farben bringen ein gewaltiges Licht mit
sich, indem sie das höchst energische Urlicht gleichsam
im Hintergrunde haben.
338 (238). Inwiefern wir auch diese Nebenbilder trüb
nennen und sie aus der Lehre von den trüben Mitteln
ableiten dürfen, wird jedem, der uns bis hieher aufmerk-
sam gefolgt, klar sein, besonders aber dem, der sich den
nötigen Apparat verschafft, um die Bestimmtheit und
Lebhaftigkeit, womit trübe Mittel wirken, sich jederzeit
vergegenwärtigen zu können.
XXV. Abnahme der farbigen Erscheinung
339 (243). Haben wir uns bei Darstellung der Abnahme
unserer farbigen Erscheinung in subjektiven Fällen kurz
fassen können, so wird es uns erlaubt sein, hier noch
kürzer zu verfahren, indem wir uns auf jene deutliche
Darstellung berufen. Nur eines mag wegen seiner großen
Bedeutung als ein Hauptmoment des ganzen Vortrags
hier dem Leser zu besonderer Auftnerksamkeit empfohlen
werden.
IL PHYSISCHE FARBEN 123
340 (244—247). Der Abnahme der prismatischen Er-
scheinung muß erst eine Entfaltung derselben voran-
gehen. Aus dem gefärbten Sonnenbilde verschwinden in
gehöriger Entfernung der Tafel vom Prisma zuletzt die
blaue und gelbe Farbe, indem beide übereinander grei-
fen, völlig, und man sieht nur Gelbrot, Grün und Blau-
rot. Nähert man die Tafel dem brechenden Mittel, so
erscheinen Gelb und Blau schon wieder, und man er-
blickt die fünf Farben mit ihren Schattierungen. Rückt
man mit der Tafel noch näher, so treten Gelb und Blau
völlig auseinander, das Grüne verschwindet, und zwi-
schen den gefärbten Rändern und Säumen zeigt sich das
Bild farblos. Je näher man mit der Tafel gegen das
Prisma zurückt, desto schmäler werden gedachte Ränder
und Säume, bis sie endlich an und auf dem Prisma Null
werden.
XXVI. Graue Bilder
341 (248). Wir haben die grauen Bilder als höchst wich-
tig bei subjektiven Versuchen dargestellt. Sie zeigen uns
durch die Schwäche der Nebenbilder, daß ebendiese Ne-
benbilder sich jederzeit von dem Hauptbilde herschrei-
ben. Will man nun die objektiven Versuche auch hier
parallel durchführen, so könnte dieses auf eine bequeme
Weise geschehen, wenn man ein mehr oder weniger matt
geschliffenes Glas vor die Öffnung hielte, durch welche
das Sonnenbild hereinfällt. Es würde dadurch ein ge-
dämpftes Bild hervorgebracht werden, welches nach der
Refraktion viel mattere Farben als das von der Sonnen-
scheibe unmittelbar abgeleitete auf der Tafel zeigen würde,
und so würde auch von dem höchst energischen Sonnen-
bilde nur ein schwaches, der Dämpfung gemäßes Neben-
bild entstehen; wie denn freilich durch diesen Versuch
dasjenige, was uns schon genugsam bekannt ist, nur noch
aber- und abermal bekräftigt wird.
1 2 4 DER farbenlehrp: didaktischer teil
XXVII. Farbige Bilder
342 (260). Es gibt mancherlei Arten, farbige Bilder zum
Behuf objektiver Versuche hervorzubringen. Erstlich kann
man farbiges Glas vor die Öffnung halten, wodurch so-
gleich ein farbiges Bild hervorgebracht wird. Zweitens
kann man das Wasserprisma mit farbigen Liquoren füllen.
Drittens kann man die von einem Prisma schon hervor-
gebrachten emphatischen Farben durch proportionierte
kleine Öffnungen eines Bleches durchlassen und also
kleine Bilder zu einer zweiten Refraktion vorbereiten.
Diese letzte Art ist die beschwerlichste, indem bei dem
beständigen Fortrücken der Sonne ein solches Bild nicht
festgehalten noch in beliebiger Richtung bestätigt wer-
den kann. Die zweite Art hat auch ihre Unbequemlich-
keiten, weil nicht alle farbige Liquoren schön hell und
klar zu bereiten sind. Daher die erste um so mehr den
Vorzug verdient, als die Physiker schon bisher die von
dem Sonnenlicht durchs Prisma hervorgebrachten Far-
ben, diejenigen, welche durch Liquoren und Gläser er-
zeugt werden, und die, welche schon auf Papier oder
Tuch fixiert sind, bei der Demonstration als gleichwirkend
gelten lassen.
343. Da es nun also bloß darauf ankommt, daß das Bild
gefärbt werde, so gewährt uns das schon eingeführte große
Wasserprisma hierzu die beste Gelegenheit; denn indem
man vor seine großen Flächen, welche das Licht unge-
färbt durchlassen, eine Pappe vorschieben kann, in welche
man Öffnungen von verschiedener Figur geschnitten, um
unterschiedene Bilder und also auch unterschiedene Ne-
benbilder hervorzubringen, so darf man nur vor die Öff-
nungen der Pappe farbige Gläser befestigen, um zu be-
obachten, welche Wirkung die Refraktion im objektiven
Sinne auf farbige Bilder hervorbringt.
344. Man bediene sich nämlich jener schon beschriebe-
nen Tafel (284) mit farbigen Gläsern, welche man genau
in der Größe eingerichtet, daß sie in die Falzen des
großen Wasserprismas eingeschoben werden kann. Man
lasse nunmehr die Sonne hindurchscheinen, so wird man
[T. PHYSISCHE FARBEN 125
die hinaufwärts gebrochenen farbigen Bilder jedes nach
seiner Art gesäumt und gerändert sehen, indem sich diese
Säume und Ränder an einigen Bildern ganz deutlich zei-
gen, an andern sich mit der spezifischen Farbe des Glases
vermischen, sie erhöhen oder verkümmern, und jeder-
mann wird sich überzeugen können, daß hier abermals
nur von diesem von uns subjektiv und objektiv so um-
ständlichvorgetragenen einfachen Phänomen die Rede sei.
XXVIII. Achromasie und Hyperchrotnask
345 (285—290). Wie man die hyperchromatischen und
achromatischen Versuche auch objektiv anstellen könne,
dazu brauchen wir nur nach allem, was oben weitläuftig
ausgeführt worden, eine kurze Anleitung zu geben, be-
sonders da wir voraussetzen können, daß jenes erwähnte
zusammengesetzte Prisma sich in den Händen des Natur-
freundes befinde.
346. Man lasse durch ein spitzwinkliges Prisma von we-
nigen Graden, aus Crownglas geschliffen, das Sonnen-
bild dergestalt durchgehen, daß es auf der entgegenge-
setzten Tafel in die Höhe gebrochen werde; die Ränder
werden nach dem bekannten Gesetz gefärbt erscheinen,
das Violette und Blaue nämlich oben und außen, das
Gelbe und Gelbrote unten imd innen. Da nun der bre-
chende Winkel dieses Prismas sich imten befindet, so
setze man ihm ein andres proportioniertes von Flintglas
entgegen, dessen brechender Winkel nach oben gerichtet
sei. Das Sonnenbild werde dadurch wieder an seinen
Platz geführt, wo es denn durch den Überschuß der farb-
erregenden Kraft des herabführenden Prismas von Flint-
glas nach dem Gesetze dieser Herabführung wenig gefärbt
sein, das Blaue und Violette unten und außen, das Gelbe
und Gelbrote oben und innen zeigen wird.
347. Man rücke nun durch ein proportioniertes Prisma
von Crownglas das ganze Bild wieder um weniges in
die Höhe, so wird die Hyperchromasie aufgehoben, das
Sonnenbild vom Platze gerückt und doch farblos er-
scheinen.
1 2 6 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
348. Mit einem aus drei Gläsern zusammengesetzten
achromatischen Objektivglase kann man ebendiese Ver-
suche stufenweise machen, wenn man es sich nicht reuen
läßt, solches aus der Hülse, worein es der Künstler ein-
genietet hat, herauszubrechen. Die beiden konvexen Glä-
ser von Crownglas, indem sie das Bild nach dem Fokus
zusammenziehen, das konkave Glas von FHntglas, indem
es das Sonnenbild hinter sich ausdehnt, zeigen an dem
Rande die hergebrachten Farben. Ein Konvexglas mit
dem Konkavglase zusammengenommen, zeigt die Farben
nach dem Gesetz des letztern. Sind alle drei Gläser zu-
sammengelegt, so mag man das Sonnenbild nach dem
Fokus zusammenziehen oder sich dasselbe hinter dem
Brennpunkte ausdehnen lassen, niemals zeigen sich far-
bige Ränder, und die von dem Künstler intendierte Achro-
masie bewährt sich hier abermals,
349. Da jedoch das Crownglas durchaus eine grünliche
Farbe hat, so daß besonders bei großen und starken Ob-
jektiven etwas von einem grünlichen Schein mit unter-
laufen und sich daneben die geforderte Purpurfarbe unter
gewissen Umständen einstellen mag, welches uns jedoch
bei wiederholten Versuchen mit mehreren Objektiven nicht
vorgekommen, so hat man hierzu die wunderbarsten Er-
klärungen ersonnen und sich, da man theoretisch die Un-
möglichkeit achromatischer Ferngläser zu beweisen ge-
nötigt war, gewissermaßen gefreut, eine solche radikale
Verbesserung leugnen zu können, wovon jedoch nur in
der Geschichte dieser Erfindungen umständlich gehandelt
werden kann.
XXIX. Verbindung objektiver und subjektiver Versuche
350. Wenn wir oben angezeigt haben, daß die objektiv
und subjektiv betrachtete Refraktion im Gegensinne wir-
ken müsse (318), so wird daraus folgen, daß, wenn man
die Versuche verbindet, entgegengesetzte und einander
aufhebende Erscheinungen sich zeigen werden.
351. Durch ein horizontal gestelltes Prisma werde das
Sonnenbild an eine Wand hinaufgeworfen. Ist das Prisma
II. PHYSISCHE FARBEN 127
lang genug, daß der Beobachter zugleich hindurchsehen
kann, so wird er das durch die objektive Refraktion hin-
aufgerückte Bild wieder heruntergerückt und solches an
der Stelle sehen, wo es ohne Refraktion erschienen
wäre.
352. Hierbei zeigt sich ein bedeutendes, aber gleichfalls
aus der Natur der Sache herfließendes Phänomen. Da
nämlich, wie schon so oft erinnert worden, das objektiv
an die Wand geworfene gefärbte Sonnenbild keine fer-
tige noch unveränderliche Erscheinung ist, so wird bei
obgedachter Operation das Bild nicht allein für das Auge
heruntergezogen, sondern auch seiner Ränder und Säume
völlig beraubt und in eine farblose Kreisgestalt zurück-
gebracht.
353. Bedient man sich zu diesem Versuche zweier völHg
gleichen Prismen, so kann man sie erst nebeneinander
stellen, durch das eine das Sonnenbild durchfallen lassen,
durch das andre aber hindurchsehen.
354. Geht der Beschauer mit dem zweiten Prisma nun-
mehr weiter vorwärts, so zieht sich das Bild wieder hin-
auf und wird stufenweise nach dem Gesetz des ersten
Prismas gefärbt. Tritt der Beschauer nun wieder zurück,
bis er das Bild wieder auf den Nullpunkt gebracht hat,
und geht sodann immer weiter von dem Bilde weg, so
bewegt sich das für ihn rund und farblos gewordene Bild
immer weiter herab und färbt sich im entgegengesetzten
Sinne, so daß wir dasselbe Bild, wenn wir zugleich durch
das Prisma hindurch und daran hersehen, nach objektiven
und subjektiven Gesetzen gefärbt erblicken.
355. Wie dieser Versuch zu vermannigfaltigen sei, er-
gibt sich von selbst. Ist der brechende Winkel des Pris-
mas, wodurch das Sonnenbild objektiv in die Höhe ge-
hoben wird, größer als der des Prismas, wodurch der
Beobachter blickt, so muß der Beobachter viel weiter zu-
rücktreten, lun das farbige Bild an der Wand so weit her-
unterzuführen, daß es farblos werde, und umgekehrt.
356. Daß man auf diesem Wege die Achromasie und
Hyperchromasie gleichfalls darstellen könne, fällt in die
Augen, welches wir weiter auseinanderzusetzen und aus-
1 2 8 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
zuführen dem Liebhaber wohl selbst überlassen können,
so wie wir auch andere komplizierte Versuche, wobei man
Prismen und Linsen zugleich anwendet, auch die objek-
tiven und subjektiven Erfahrungen auf mancherlei Weise
durcheinander mischt, erst späterhin darlegen und auf
die einfachen, tms nunmehr genugsam bekannten Phäno-
mene zurückführen werden.
XXX. Übergang
357. Wenn wir auf die bisherige Darstellung und Ab-
leitung der dioptrischen Farben zurücksehen, können wir
keine Reue empfinden, weder daß wir sie so umständ-
lich abgehandelt, noch daß wir sie vor den übrigen phy-
sischen Farben außer der von uns selbst angegebenen
Ordnung vorgetragen haben. Doch gedenken wir hier an
der Stelle des Übergangs unsern Lesern und Mitarbeitern
deshalb einige Rechenschaft zu geben.
358. Sollten wir uns verantworten, daß wir die Lehre
von den dioptrischen Farben, besonders der zweiten
Klasse, vielleicht zu weitläuftig ausgeführt, so hätten wir
Folgendes zu bemerken. Der Vortrag irgendeines Gegen-
standes unsres Wissens kann sich teils auf die innre Not-
wendigkeit der abzuhandelnden Materie, teils aber auch
auf das Bedürfnis der Zeit, in welcher der Vortrag ge-
schieht, beziehen. Bei dem unsrigen waren wir genötigt,
beide Rücksichten immer vor Augen zu haben. Einmai
war es die Absicht, unsre sämtlichen Erfahrungen sowie
unsre Überzeugungen nach einer lange geprüften Methode
vorzulegen; sodann aber mußten wir unser Augenmerk
darauf richten, manche zwar bekannte, aber doch ver-
kannte, besonders auch in falschen Verknüpfungen auf-
gestellte Phänomene in ihrer natürlichen Entwicklung
und wahrhaft-erfahrungsmäßigen Ordnung darzustellen,
damit wir künftig bei polemischer und historischer Be-
handlimg schon eine vollständige Vorarbeit zu leichterer
Übersicht ins Mittel bringen könnten. Daher ist denn
freilich eine größere Umständlichkeit nötig geworden,
welche eigentlich nur dem gegenwärtigen Bedürfnis zum
IL PHYSISCHE FARBEN 129
Opfer gebracht wird. Künftig, wenn man erst das Ein-
fache als einfach, das Zusammengesetzte als zusammen-
gesetzt, das Erste und Obere als ein solches, das Zweite,
Abgeleitete auch als ein solches anerkennen und schauen
wird, dann läßt sich dieser ganze Vortrag ins Engere zu-
sammenziehen, welches, wenn es uns nicht selbst noch
glücken sollte, wir einer heiter-tätigen Mit- und Nach-
welt überlassen.
359. Was ferner die Ordnung der Kapitel überhaupt be-
trifft, so mag man bedenken, daß selbst verwandte Natur-
phänomene in keiner eigentlichen Folge oder stetigen
Reihe sich aneinander schließen, sondern daß sie durch
Tätigkeiten hervorgebracht werden, welche verschränkt
wirken, so daß es gewissermaßen gleichgültig ist, was für
eine Erscheinimg man zuerst und was für eine man zu-
letzt betrachtet, weil es doch nur darauf ankommt, daß
man sich alle möglichst vergegenwärtige, um sie zuletzt
unter einem Gesichtspunkt teils nach ihrer Natur, teils
nach Menschenweise und Bequemlichkeit zusammenzu-
fassen.
360. Doch kann man im gegenwärtigen besondern Falle
behaupten, daß die dioptrischen Farben billig an die
Spitze der physischen gestellt werden, sowohl wegen
ihres auffallenden Glanzes und übrigen Bedeutsamkeit
als auch, weil, um dieselben abzuleiten, manches zur
Sprache kommen mußte, welches uns zunächst große Er-
leichterung gewähren wird.
361. Denn man hat bisher das Licht als eine Art von
Abstraktum, als ein für sich bestehendes und wirkendes,
gewissermaßen sich selbst bedingendes, bei geringen An-
lässen aus sich selbst die Farben hervorbringendes Wesen
angesehen. Von dieser Vorstellungsart jedoch die Natur-
freunde abzulenken, sie aufmerksam zu machen, daß bei
prismatischen und andern Erscheinungen nicht von einem
unbegrenzten bedingenden, sondern von einem begrenz-
ten bedingten Lichte, von einem Lichtbilde, ja von Bil-
dern überhaupt, hellen oder dunklen, die Rede sei: dies
ist die Aufgabe, welche zu lösen, das Ziel, welches zu
erreichen wäre.
GOETHE XVII 9.
1 3 o DER farbb:nlehre didaktischer teil
362. Was bei dioptrischen Fällen, besonders der zweiten
Klasse, nämlich bei Refraktionsfällen vorgeht, ist uns
nunmehr genugsam bekannt und dient uns zur Einleitung
ins Künftige.
363. Die katoptrischen Fälle erinnern uns an die phy-
siologischen, nur daß wir jenen mehr Objektivität zu-
schreiben und sie deshalb unter die physischen zu zählen
uns berechtigt glauben. Wichtig aber ist es, daß wir hier
abermals nicht ein abstraktes Licht, sondern ein Licht-
bild zu beachten finden.
364. Gehen wir zu den paroptischen über, so werden
wir, wenn das Frühere gut gefaßt worden, uns mit Ver-
wundrung und Zufriedenheit abermals im Reiche der Bil-
der finden. Besonders wird uns der Schatten eines Kör-
pers als ein sekundäres, den Körper so genau begleitendes
Bild manchen Aufschluß geben.
365. Doch greifen wir diesen fernem Darstellungen nicht
vor, um, wie bisher geschehen, nach unserer Überzeugung
regelmäßigen Schritt zu halten.
XXXI. Katoptrische Farben
366. Wenn wir von katoptrischen Farben sprechen, so
deuten wir damit an, daß uns Farben bekannt sind, welche
bei Gelegenheit einer Spiegelung erscheinen. Wir setzen
voraus, daß das Licht sowohl als die Fläche, wovon es
zurückstrahlt, sich in einem völlig farblosen Zustand be-
finde. In diesem Sinne gehören diese Erscheinungen
unter die physischen Farben. Sie entstehen bei Gelegen-
heit der Reflexion, wie wir oben die dioptrischen der
zweiten Klasse bei Gelegenheit der Refraktion hervor-
treten sahen. Ohne jedoch weiter im allgemeinen zu ver-
weilen, wenden wir uns gleich zu den besondern Fällen
und zu den Bedingungen, welche nötig sind, daß ge-
dachte Phänomene sich zeigen.
367. Wenn man eine feine Stahlsaite vom Röllchen ab-
nimmt, sie ihrer Elastizität gemäß verworren durchein-
ander laufen läßt und sie an ein Fenster in die Tages-
helle legt, so wird man die Höhen der Kreise und Win-
II. PHYSISCHE FARBEN 131
düngen erhellt, aber weder glänzend noch farbig sehen.
Tritt die Sonne hingegen hervor, so zieht sich diese Hel-
lung auf einen Punkt zusammen, und das Auge erblickt
ein kleines glänzendes Sonnenbild, das, wenn man es
nahe betrachtet, keine Farbe zeigt. Geht man aber zu-
rück und faßt den Abglanz in einiger Entfernung mit den
Augen auf, so sieht man viele kleine, auf die mannigfal-
tigste Weise gefärbte Sonnenbilder, und ob man gleich
Grün und Purpur am meisten zu sehen glaubt, so zeigen
sich doch auch bei genauerer Aufmerksamkeit die übrigen
Farben.
368. Nimmt man eine Lorgnette und sieht dadurch auf
die Erscheinung, so sind die Farben verschwunden so-
wie der ausgedehntere Glanz, in dem sie erscheinen, und
man erblickt nur die kleinen leuchtenden Punkte, die
wiederholten Sonnenbilder. Hieraus erkennt man, daß
die Erfahrung subjektiver Natur ist und daß sich die Er-
scheinung an jene anschließt, die wir unter dem Namen
der strahlenden Höfe eingeführt haben (100).
369. Allein wir können dieses Phänomen auch von der
objektiven Seite zeigen. Man befestige unter eine mäßige
Öffnung in dem Laden der Camera obscura ein weißes
Papier und halte, wenn die Sonne durch die Öffnung
scheint, die verworrene Drahtsaite in das Licht, so daß
sie dem Papiere gegenübersteht. Das Sonnenlicht wird
auf und in die Ringe der Drahtsaite fallen, sich aber
nicht, wie im konzentrierenden menschlichen Auge, auf
einem Punkte zeigen, sondern weil das Papier auf jedem
Teile seiner Fläche den Abglanz des Lichtes aufnehmen
kann, in haarförmigen Streifen, welche zugleich bunt sind,
sehen lassen.
370. Dieser Versuch ist rein katoptrisch: denn da man
sich nicht denken kann, daß das Licht in die Oberfläche
des Stahls hineindringe und etwa darin verändert werde,
so überzeugen wir uns leicht, daß hier bloß von einer
reinen Spiegelung die Rede sei, die sich, insofern sie
subjektiv ist, an die Lehre von den schwach wirkenden
und abklingenden Lichtern anschließt und, insofern sie
objektiv gemacht werden kann, auf ein außer dem Men-
£ 3 2 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
sehen Reales, sogar in den leisesten Erscheinungen hin-
deutet.
371. Wir haben gesehen, daß hier nicht allein ein Licht,
sondern ein energisches Licht, und selbst dieses nicht im
Abstrakten und allgemeinen, sondern ein begrenztes Licht,
ein Lichtbild nötig sei, um diese Wirkung hervorzubrin-
gen. Wir werden uns hiervon bei verwandten Fällen noch
mehr überzeugen.
372. Eine polierte Silberplatte gibt in der Sonne einen
blendenden Schein von sich, aber es wird bei dieser Ge-
legenheit keine Farbe gesehen. Ritzt man hingegen die
Oberfläche leicht, so erscheinen bunte, besonders grüne
und purpurne Farben unter einem gewissen Winkel dem
Auge. Bei ziselierten und guillochierten Metallen tritt
auch dieses Phänomen auffallend hervor; doch läßt sich
durchaus bemerken, daß, wenn es erscheinen soll, irgend-
ein Bild, eine Abwechselung des Dunklen und Hellen bei
der Abspiegelung mitwirken müsse, so daß ein Fenster-
stab, der Ast eines Baumes, ein zufälliges oder mit Vor-
satz aufgestelltes Hindernis eine merkliche Wirkung her-
vorbringt. Auch diese Erscheinung läßt sich in der Camera
obscura objektivieren.
373. Läßt man ein poliertes Silber durch Scheide wasser
dergestalt anfressen, daß das darin befindliche Kupfer
aufgelöst und die Oberfläche gewissermaßen rauh werde,
und läßt alsdann das Sonnenbild sich auf der Platte spie-
geln, so wird es von jedem unendlich kleinen erhöhten
Pimkte einzeln zurückglänzen und die Oberfläche der Platte
in bunten Farben erscheinen. Ebenso wenn man ein schwar-
zes ungeglättetes Papier in die Sonne hält imd aufmerk-
sam darauf blickt, sieht man es in seinen kleinsten Teilen
bunt in den lebhaftesten Farben glänzen.
374. Diese sämtlichen Erfahrungen deuten auf ebendie-
selben Bedingungen hin. In dem ersten Falle scheint das
Lichtbild von einer schmalen Linie zurück, in dem zwei-
ten wahrscheinhch von scharfen Kanten, in dem dritten
von sehr kleinen Punkten. Bei allen wird ein lebhaftes
Licht und eine Begrenzung desselben verlangt. Nicht
weniger wird zu diesen sämtlichen Farberscheinungen er-
II. PHYSISCHE FARBEN 133
fordert, daß sich das Auge in einer proportionierten Ferne
von den reflektierenden Punkten befinde.
375. Stellt man diese Beobachtungen unter dem Mikro-
skop an, so wird die Erscheinung an Kraft und Glanz im-
endlich wachsen: denn man sieht alsdann die kleinsten
Teile der Körper, von der Sonne beschienen, in diesen
Reflexionsfarben schimmern, die, mit den Refraktions-
farben verwandt, sich nun auf die höchste Stufe ihrer
Herrlichkeit erheben. Man bemerkt in solchem Falle
ein wurmförmig Buntes auf der Oberfläche organischer
Körper, wovon das Nähere künftig vorgelegt werden
soll.
376. Übrigens sind die Farben, welche bei der Reflexion
sich zeigen, vorzüglich Purpur und Grün, woraus sich
vermuten läßt, daß besonders die streifige Erscheinung
aus einer zarten Purpurlinie bestehe, welche an ihren bei-
den Seiten teils mit Blau, teils mit Gelb eingefaßt ist.
Treten die Linien sehr nahe zusammen, so muß der Zwi-
schenraum grün erscheinen, ein Phänomen, das uns noch
oft vorkommen wird.
377. In der Natur begegnen uns dergleichen Farben öf-
ters. Die Farben der Spinneweben setzen wir denen, die
von Stahlsaiten Widerscheinen, völlig gleich, ob sich
schon daran nicht so gut als an dem Stahl die Undurch-
dringlichkeit beglaubigen läßt, weswegen man auch diese
Farben mit zu den Refraktionserscheinungen hat ziehen
wollen.
378. Beim Perlemutter werden wir unendlich feine, neben-
einanderliegende organische Fibern und Lamellen gewahr,
von welchen, wie oben beim geritzten Silber, mannigfal-
tige Farben, vorzüglich aber Purpur und Grün entspringen
mögen.
379. Die changeanten Farben der Vogelfedern werden
hier gleichfalls erwähnt, obgleich bei allem Organischen
eine chemische Vorbereitung und eine Aneignung der
Farbe an den Körper gedacht werden kann, wovon bei
Gelegenheit der chemischen Farben weiter die Rede sein
wird.
380. Daß die Erscheinungen der objektiven Höfe auch
1 3 4 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
in der Nähe katoptrischer Phänomene liegen, wird leicht
zugegeben werden, ob wir gleich nicht leugnen, daß auch
Refraktion mit im Spiele sei. Wir wollen hier nur einiges
bemerken, bis wir nach völlig durchlaufenem theoreti-
schen Kreise eine vollkommnere Anwendung des uns als-
dann im allgemeinen Bekannten auf die einzelnen Natur-
erscheinungen zu machen imstande sein werden.
381. Wir gedenken zuerst jenes gelben und roten Kreises
an einer weißen oder graulichen W^and, den wir durch
ein nah gestelltes Licht hervorgebracht (88). Das Licht,
indem es von einem Körper zurückscheint, wird gemäßigt,
das gemäßigte Licht erregt die Empfindung der gelben
und ferner der roten Farbe.
382. Eine solche Kerze erleuchte die Wand lebhaft in
unmittelbarer Nähe. Je weiter der Schein sich verbreitet,
desto schwächer wird er; allein er ist doch immer die
Wirkung der Flamme, die Fortsetzung ihrer Energie, die
ausgedehnte Wirkung ihres Bildes. Man könnte diese
Kreise daher gar wohl Grenzbilder nennen, weil sie die
Grenze der Tätigkeit ausmachen und doch auch nur ein
erweitertes Bild der Flamme darstellen.
383. Wenn der Himmel um die Sonne weiß tmd leuch-
tend ist, indem leichte Dünste die Atmosphäre erfüllen,
wenn Dünste oder Wolken um den Mond schweben, so
spiegelt sich der Abglanz der Scheibe in denselben. Die
Höfe, die wir alsdann erblicken, sind einfach oder dop-
pelt, kleiner oder größer, zuweilen sehr groß, oft farblos,
manchmal farbig.
384. Einen sehr schönen Hof um den Mond sah ich den
15. November 1799 bei hohem Barometerstande und
dennoch wolkigem und dunstigem Himmel. Der Hof war
völlig farbig, und die Kreise folgten sich wie bei subjek-
tiven Höfen ums Licht. Daß er objektiv war, konnte ich
bald einsehen, indem ich das Bild des Mondes zuhielt
und der Hof dennoch vollkommen gesehen wurde.
385. Die verschiedene Größe der Höfe scheint auf die
Nähe oder Ferne des Dunstes von dem Auge des Beob-
achters einen Bezug zu haben.
386. Da leicht angehauchte Fensterscheiben die Leb-
II. PHYSISCHE FARBEN 135
haftigkeit dei subjektiven Höfe vermehren und sie ge-
wissermaßen zu objektiven machen, so ließe sich vielleicht
mit einer einfachen Vorrichtung bei recht rasch kalter Win-
terzeit hiervon die nähere Bestimmung auffinden.
387. Wie sehr wir Ursache haben, auch bei diesen Krei-
sen auf das Bild und dessen Wirkung zu dringen, zeigt
sich bei dem Phänomen der sogenannten Nebensonnen.
Dergleichen Nachbarbilder finden sich immer auf gewis-
sen Punkten der Höfe und Kreise und stellen das wieder
nur begrenzter dar, was in dem ganzen Kreise immer-
fort allgemeiner vorgeht. An die Erscheinung des Regen-
bogens wird sich dieses alles bequemer anschließen.
388. Zum Schlüsse bleibt uns nichts weiter übrig, als
daß wir die Verwandtschaft der katoptrischen Farben mit
den paroptischen einleiten.
Die paroptischen Farben werden wir diejenigen nennen,
welche entstehen, wenn das Licht an einem undurchsich-
tigen farblosen Körper herstrahlt. Wie nahe sie mit den
dioptrischen der zweiten Klasse verwandt sind, wird jeder-
mann leicht einsehen, der mit uns überzeugt ist, daß die
Farben der Refraktion bloß an den Rändern entstehen.
Die Verwandtschaft der katoptrischen und paroptischen
aber wird uns in dem folgenden Kapitel klar werden.
XXXII. Paroptische Farben
389. Die paroptischen Farben wurden bisher periopti-
sche genannt, weil man sich eine Wirkung des Lichts
gleichsam um den Körper herum dachte, die man einer
gewissen Biegbarkeit des Lichtes nach dem Körper hin
und vom Körper ab zuschrieb.
390. Auch diese Farben kann man in objektive und sub-
jektive einteilen, weil auch sie teils außer uns, gleichsam
wie auf der Fläche gemalt, teils in uns unmittelbar auf der
Retina erscheinen. Wir finden bei diesem Kapitel das
vorteilhafteste, die objektiven zuerst zu nehmen, weil die
subjektiven sich so nah an andre, uns schon bekannte Er-
scheinungen anschließen, daß man sie kaum davon zu
trennen vermag.
1 3 6 DP:R FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
391. Die paroptischen Farben werden also genannt, weil,
um sie hervorzubringen, das Licht an einem Rande her-
strahlen muß. Allein nicht immer, wenn das Licht an
einem Rande herstrahlt, erscheinen sie; es sind dazu noch
ganz besondre Nebenbedingungen nötig.
392. Ferner ist zu bemerken, daß hier abermals das Licht
keines weges in abstracto wirke (361), sondern die Sonne
scheint an einem Rande her. Das ganze von dem Son-
nenbild ausströmende Licht wirkt an einer Körpergrenze
vorbei und verursacht Schatten. An diesen Schatten, in-
nerhalb derselben werden wir künftig die Farbe gewahr
werden.
393. Vor allen Dingen aber betrachten wir die hieher
gehörigen Erfahrungen in vollem Lichte. Wir setzen den
Beobachter ins Freie, ehe wir ihn in die Beschränkung
der dunklen Kammer führen.
394. Wer im Sonnenschein in einem Garten oder sonst
auf glatten Wegen wandelt, wird leicht bemerken, daß
sein Schatten nur unten am Fuß, der die Erde betritt,
scharf begrenzt erscheint; weiter hinauf, besonders um
das Haupt, verfließt er sanft in die helle Fläche. Denn
indem das Sonnenlicht nicht allein aus der Mitte der
Sonne herströmt, sondern auch von den beiden Enden
dieses leuchtenden Gestirnes übers Kreuz wirkt, so ent-
steht eine objektive Parallaxe, die an beiden Seiten des
Körpers einen Halbschatten hervorbringt.
395. Wenn der Spaziergänger seine Hand erhebt, so sieht
er an den Fingern deutlich das Auseinanderweichen der
beiden Halbschatten nach außen, die Verschmälerung des
Hauptschattens nach innen, beides Wirkungen des sich
kreuzenden Lichtes.
396. Man kann vor einer glatten Wand diese Versuche
mit Stäben von verschiedener Stärke sowie auch mit
Kugeln wiederholen und vervielfältigen: immer wird man
finden, daß, je weiter der Körper von der Tafel entfernt
wird, desto mehr verbreitet sich der schwache Doppel-
schatten, desto mehr verschmälert sich der starke Haupt-
schatten, bis dieser zuletzt ganz aufgehoben scheint, ja_
die Doppelschatten endlich so schwach werden, daß sie
IL PHYSISCHE FARBEN 137
beinahe verschwinden, wie sie denn in mehrerer Entfer-
nung unbemerkhch sind.
397. Daß dieses von dem sich kreuzenden Lichte her-
rühre, davon kann man sich leicht überzeugen, so wie
denn auch der Schatten eines zugespitzten Körpers zwei
Spitzen deutlich zeigt. Wir dürfen also niemals außer
Augen lassen, daß in diesem Falle das ganze Sonnenbild
wirke, Schatten hervorbringe, sie in Doppelschatten ver-
wandle und endlich sogar aufhebe.
398. Man nehme nunmehr statt der festen Körper aus-
geschnittene Öffnungen von verschiedener bestimmter
Größe nebeneinander und lasse das SonnenHcht auf eine
etwas entfernte Tafel hindurchfallen, so wird man finden,
daß das helle Bild, welches auf der Tafel von der Sonne
hervorgebracht wird, größer sei als die Öffnung, welches
daher kommt, daß der eine Rand der Sonne durch die
entgegengesetzte Seite der Öffnung noch hindurchscheint,
wenn der andre durch sie schon verdeckt ist. Daher
ist das helle Bild an seinen Rändern schwächer be-
leuchtet.
399. Nimmt man viereckte Öffnungen, von welcher Größe
man wolle, so wird das helle Bild auf einer Tafel, die
neun Fuß von den Öffnungen steht, um einen Zoll an
jeder Seite größer sein als die Öffnung, welches mit dem
Winkel des scheinbaren Sonnendiameters ziemlich über-
einkommt.
400. Daß ebendiese Rand er leuchtung nach und nach ab-
nehme, ist ganz natürlich, weil zuletzt nur ein Minimum
des Sonnenlichtes vom Sonnenrande übers Kreuz durch
den Rand der Öffnung einwirken kann.
401. Wir sehen also hier abermals, wie sehr wir Ursache
haben, uns in der Erfahrung vor der Annahme von par-
allelen Strahlen, Strahlenbüscheln und -bündeln und der-
gleichen hypothetischen Wesen zu hüten (309. 310).
402. Wir können uns vielmehr das Scheinen der Sonne
oder irgendeines Lichtes als eine unendliche Abspiegelung
des beschränkten Lichtbildes vorstellen, woraus sich denn
wohl ableiten läßt, wie alle viereckte Öffnungen, durch
welche die Sonne scheint, in gewissen Entfernungen, je
1 3 8 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
nachdem sie größer oder kleiner sind, ein rundes Bild
geben müssen.
403. Obige Versuche kann man durch Öffnungen von
mancherlei Form und Größe wiederholen, und es wird
sich immer dasselbe in verschiedenen Abweichungen zei-
gen; wobei man jedoch immer bemerken wird, daß im
vollen Lichte und bei der einfachen Operation des Her-
scheinens der Sonne an einem Rand keine Farbe sich
sehen lasse.
404. Wir wenden uns daher zu den Versuchen mit dem
gedämpften Lichte, welches nötig ist, damit die Farben-
erscheinung eintrete. Man mache eine kleine Öffnung in
den Laden der dunklen Kammer, man fange das übers
Kreuz eindringende Sonnenbild mit einem weißen Papiere
auf, und man wird, je kleiner die Öflfntmg ist, ein desto
matteres Licht erblicken, und zwar ganz natürlich, weil
die Erleuchtung nicht von der ganzen Sonne, sondern
nur von einzelnen Punkten, nur teilweise gewirkt wird.
405. Betrachtet man dieses matte Sonnenbild genau, so
findet man es gegen seine Ränder zu immer matter und
mit einem gelben Saume begrenzt, der sich deutlich zeigt,
am deutlichsten aber, wenn sich ein Nebel oder eine
durchscheinende Wolke vor die Sonne zieht, ihr Licht
mäßiget und dämpft. Sollten wir uns nicht gleich hiebei
jenes Hofes an der Wand und des Scheins eines nahe
davorstehenden Lichtes erinnern (88)?
406. Betrachtet man jenes oben beschriebene Sonnen-
bild genauer, so sieht man, daß es mit diesem gelben
Saume noch nicht abgetan ist, sondern man bemerkt
noch einen zweiten blaulichen Kreis, wo nicht gar eine
hofartige Wiederholung des Farbensaums. Ist das Zim-
mer recht dunkel, so sieht man, daß der zunächst um die
Sonne erhellte Himmel gleichfalls einwirkt, man sieht
den blauen Himmel, ja sogar die ganze Landschaft auf
dem Papiere und überzeugt sich abermals, daß hier nur
von dem Sonnenbilde die Rede sei.
407. Nimmt man eine etwas größere viereckte Öffnung,
welche durch das Hineinstrahlen der Sonne nicht gleich
rund wird, so kann man die Halbschatten von jedem
IL PHYSISCHE FARBEN 139
Rande, das Zusammentreffen derselben in den Ecken, die
Färbung derselben nach Maßgabe obgeiiieldeter Erschei-
nung der nmden Öffnung genau bemerken.
408. Wir haben nunmehr ein parallaktisch scheinendes
Licht gedämpft, indem wir es durch kleine Öffnungen
scheinen ließen, wir haben ihm aber seine parallaktische
Eigenschaft nicht genommen, so daß es abermals Doppel-
schatten der Körper, wenngleich mit gedämpfter Wirkung,
hervorbringen kann. Diese sind nunmehr diejenigen, auf
welche man bisher aufmerksam gewesen, welche in ver-
schiedenen hellen und dunkeln, farbigen und farblosen
Kreisen aufeinander folgen und vermehrte, ja gewisser-
maßen unzählige Höfe hervorbringen. Sie sind oft ge-
zeichnet und in Kupfer gestochen worden, indem man
Nadeln, Haare und andre schmale Körper in das ge-
dämpfte Licht brachte, die vielfachen hofartigen Doppel-
schatten bemerkte und sie einer Aus- und Einbiegung
des Lichtes zuschrieb und dadurch erklären wollte, wie
der Kernschatten aufgehoben und wie ein Helles an der
Stelle des Dunkeln erscheinen könne.
409. Wir aber halten vorerst daran fest, daß es abermals
parallaktische Doppelschatten sind, welche mit farbigen
Säumen und Höfen begrenzt erscheinen.
410. Wenn man alles dieses nun gesehen, untersucht
und sich deutlich gemacht hat, so kann man zu dem Ver-
suche mit den Messerklingen schreiten, welches nur ein
Aneinanderrücken und parallaktisches Übereinandergrei-
fen der uns schon bekannten Halbschatten und Höfe ge-
nannt werden kann.
41 1. Zuletzt hat man jene Versuche mit Haaren, Nadeln
und Drähten in jenem Halblichte, das die Sonne wirkt, so-
wie im Halblichte, das sich vom blauen Himmel herschreibt
und auf dem Papiere zeigt, anzustellen und zu betrachten,
wodurch man der wahren Ansicht dieser Phänomene sich
immer mehr bemeistern wird.
412. Da nun aber bei diesen Versuchen alles darauf an-
kommt, daß man sich von der parallaktisch en Wirkung
des scheinenden Lichtes überzeuge, so kann man sich das,
worauf es ankommt, durch zwei Lichter deutlicher machen,
1 40 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
wodurch sich die zwei Schatten übereinander führen und
völlig sondern lassen. Bei Tage kann es durch zwei Öff-
nungen am Fensterladen geschehen, bei Nacht durch zwei
Kerzen; ja es gibt manche Zufälligkeiten in Gebäuden
beim Auf- und Zuschlagen von Läden, wo man diese Er-
scheinungen besser beobachten kann als bei dem sorg-
fältigsten Apparate. Jedoch lassen sich alle und jede zum
Versuch erheben, wenn man einen Kasten einrichtet, in
den man oben hineinsehen kann und dessen Türe man
sachte zulehnt, nachdem man vorher ein Doppellicht ein-
fallen lassen. Daß hierbei die von uns unter den physio-
logischen Farben abgehandelten farbigen Schatten sehr
leicht eintreten, läßt sich erwarten.
413. Überhaupt erinnre man sich, was wir über die
Natur der Doppelschatten, Halblichter und dergleichen
früher ausgeführt haben, besonders aber mache man Ver-
suche mit verschiedenen nebeneinander gestellten Schat-
tierungen von Grau, wo jeder Streif an seinem dunklen
Nachbar hell, am hellen dunkel erscheinen wird. Bringt
man abends mit drei oder mehreren Lichtern Schatten
hervor, die sich stufenweise decken, so kann man dieses
Phänomen sehr deutlich gewahr werden, und man wird
sich überzeugen, daß hier der physiologische Fall eintritt,
den wir oben weiter ausgeführt haben (38).
414. Inwiefern nun aber alles, was von Erscheinungen
die paroptischen Farben begleitet, aus der Lehre vom
gemäßigten Lichte, von Halbschatten und von physiolo-
gischer Bestimmung der Retina sich ableiten lasse, oder
ob wir genötigt sein werden, zu gewissen innern Eigen-
schaften des Lichts unsere Zuflucht zu nehmen, wie man
es bisher getan, mag die Zeit lehren. Hier sei es genug,
die Bedingungen angezeigt zu haben, unter welchen die
paroptischen Farben entstehen, so wie wir denn auch
hoffen können, daß unsre Winke auf den Zusammenhang
mit dem bisherigen Vortrag von Freunden der Natur nicht
unbeachtet bleiben werden.
415. Die Verwandtschaft der paroptischen Farben mit
den dioptrischen der zweiten Klasse wird sich auch jeder
Denkende gern ausbilden. Hier wie dort ist von Rändern
IL PHYSISCHE FARBEN 141
die Rede, hier wie dort von einem Lichte, das an dem
Rande herscheint. Wie natürlich ist es also, daß die par-
optischen Wirkmigen durch die dioptrischen erhöht, ver-
stärkt und verherrlicht werden können. Doch kann hier
mu- von den objektiven Refraktionsfällen die Rede sein,
da das leuchtende Bild wirklich durch das Mittel durch-
scheint: denn diese sind eigentlich mit den paroptischen
verwandt. Die subjektiven Refraktionsfälle, da wir die
Bilder durchs Mittel sehen, stehen aber von den paropti-
schen völlig ab und sind auch schon wegen ihrer Rein-
heit von uns gepriesen worden.
416. Wie die paroptischen Farben mit den katoptrischen
zusammenhängen, läßt sich aus dem Gesagten schon ver-
muten: denn da die katoptrischen Farben nur an Ritzen,
Punkten, Stahlsaiten, zarten Fäden sich zeigen, so ist es
ungefähr derselbe Fall, als wenn das Licht an einem
Rande herschiene. Es muß jederzeit von einem Rande
zurückscheinen, damit unser Auge eine Farbe gewahr
werde. Wie auch hier die Beschränkung des leuchtenden
Bildes sowie die Mäßigung des Lichtes zu betrachten sei,
ist oben schon angezeigt worden.
417. Von den subjektiven paroptischen Farben führen
wir nur noch weniges an, weil sie sich teils mit den phy-
siologischen, teils mit den dioptrischen der zweiten Klasse
in Verbindung setzen lassen und sie größtenteils kaum
hieher zu gehören scheinen, ob sie gleich, wenn man ge-
nau aufmerkt, über die ganze Lehre und ihre Verknüp-
fung ein erfreuliches Licht verbreiten.
418. Wenn man ein Lineal dergestalt vor die Augen
hält, daß die Flamme des Lichts über dasselbe hervor-
scheint, so sieht man das Lineal gleichsam eingeschnitten
und schartig an der Stelle, wo das Licht hervorragt. Es
scheint sich dieses aus der ausdehnenden Kraft des Lichtes
auf der Retina ableiten zu lassen (18).
419. Dasselbige Phänomen im Großen zeigt sich beim
Aufgang der Sonne, welche, wenn sie rein, aber nicht
allzu mächtig aufgeht, also daß man sie noch anblicken
kann, jederzeit einen scharfen Einschnitt in den Horizont
macht.
1 4 2 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
420. Wenn man bei grauem Himmel gegen ein Fenster
tritt, so daß das dunkle Kreuz sich gegen denselben ab-
schneidet, wenn man die Augen alsdann auf das horizon-
tale Holz richtet, ferner den Kopf etwas vorzubiegen, zu
blinzen und aufwärts zu sehen anfängt, so wird man bald
unten an dem Holze einen schönen gelbroten Saum, oben
über demselben einen schönen hellblauen entdecken. Je
dunkelgrauer imd gleicher der Himmel, je dämmernder
das Zimmer und folglich je ruhiger das Auge, desto leb-
hafter wird sich die Erscheinung zeigen, ob sie sich gleich
einem aufmerksamen Beobachter auch bei hellem Tage
darstellen wird.
421. Man biege nunmehr den Kopf zurück und blinzle
mit den Augen dergestalt, daß man den horizontalen
Fensterstab unter sich sehe, so wird auch das Phänomen
umgekehrt erscheinen. Man wird nämlich die obere Kante
gelb und die untre blau sehen.
422. In einer dunkeln Kammer stellen sich die Beob-
achtungen am besten an. Wenn man vor die Öffnung,
vorweiche man gewöhnlich das Sonnenmikroskop schraubt,
ein weißes Papier heftet, wird man den untern Rand des
Kreises blau, den obern gelb erblicken, selbst indem man
die Augen ganz offen hat oder sie nur insofern zublinzt,
daß kein Hof sich mehr um das Weiße herum zeigt.
Biegt man den Kopf zurück, so sieht man die Farben
umgekehrt.
423. Diese Phänomene scheinen daher zu entstehen, daß
die Feuchtigkeiten unsres Auges eigentlich nur in der
Mitte, wo das Sehen vorgeht, wirklich achromatisch sind,
daß aber gegen die Peripherie zu und in unnatürlichen
Stellungen, als Auf- und Niederbiegen des Kopfes, wirk-
lich eine chromatische Eigenschaft, besonders wenn scharf
absetzende Bilder betrachtet werden, übrigbleibe. Daher
diese Phänomene zu jenen gehören mögen, welche mit
den dioptrischen der zweiten Klasse verwandt sind.
424. Ähnliche Farben erscheinen, wenn man gegen
schwarze und weiße Bilder durch den Nadelstich einer
Karte sieht. Statt des weißen Bildes kann man auch
den lichten Punkt im Bleche des Ladens der Camera ob-
IL PHYSISCHE FARBEN 143
scura wählen, wenn die Vorrichtung zu den paroptischen
Farben gemacht ist.
425. Wenn man durch eine Röhre durchsieht, deren un-
tre Öffnung verengt oder durch verschiedene Ausschnitte
bedingt ist, erscheinen die Farben gleichfalls.
426. An die paroptischen Erscheinungen aber schließen
sich meines Bedünkens folgende Phänomene näher an.
Wenn man eine Nadelspitze nah voi das Auge hält, so
entsteht in demselben ein Doppelbild. Besonders merk-
würdig ist aber, wenn man durch die zu paroptischen
Versuchen eingerichteten Messerklingen hindurch und
gegen einen grauen Himmel sieht. Man blickt nämlich
wie durch einen Flor, und es zeigen sich im Auge sehr
viele Fäden, welches eigentlich nur die wiederholten Bil-
der der Klingenschärfen sind, davon das eine immer von
dem folgenden sukzessiv oder wohl auch von dem gegen-
über wirkenden parallaktisch bedingt und in eine Faden-
gestalt verwandelt wird,
427. So ist denn auch noch schließlich zu bemerken,
daß, wenn man durch die Klingen nach einem lichten
Punkt im Fensterladen hinsieht, auf der Retina dieselben
farbigen Streifen und Höfe wie auf dem Papiere ent-
stehen.
428. Und so sei dieses Kapitel gegenwärtig um so mehr
geschlossen, als ein Freund übernommen hat, dasselbe
nochmals genau durchzuexperimentieren, von dessen Be-
merkungen wir bei Gelegenheit der Revision der Tafeln
und des Apparats in der Folge weitere Rechenschaft zu
geben hoffen.
XXXIII. Epoptische Farben
429. Haben wir bisher uns- mit solchen Farben abge-
geben, welche zwar sehr lebhaft erscheinen, aber auch
bei aufgehobener Bedingung sogleich wieder verschwin-
den, so machen wir nun die Erfahrung von solchen,
welche zwar auch als vorübergehend beobachtet werden,
aber unter gewissen Umständen sich dergestalt fixieren,
daß sie auch nach aufgehobenen Bedingungen, welche
1 44 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
ihre Erscheinung hervorbrachten, bestehen bleiben und
also den Übergang von den physischen zu den chemi-
schen Farben ausmachen.
430. Sie entspringen durch verschiedene Veranlassungen
auf der Oberfläche eines farblosen Körpers, ursprüng-
lich, ohne Mitteilung, Färbe, Taufe {ßmpif), und wir wer-
den sie nun von ihrer leisesten Erscheinung bis zu ihrer
hartnäckigsten Dauer durch die verschiedenen Bedin-
gungen ihres Entstehens hindurch verfolgen, welche wir zu
leichterer Übersicht hier sogleich summarisch anführen.
43 1 . Erste Bedingung: Berührung zweier glatten Flächen
harter durchsichtiger Körper.
Erster Fall: wenn Glasmassen, Glastafeln, Linsen anein-
ander gedrückt werden.
Zweiter Fall: wenn in einer soliden Glas-, Kristall- oder
Eismasse ein Sprung entsteht.
Dritter Fall: indem sich Lamellen durchsichtiger Steine
voneinander trennen.
Zweite Bedingung: wenn eine Glasfläche oder ein ge-
schliffner Stein angehaucht wird.
Dritte Bedingung: Verbindung von beiden obigen, daß
man nämlich die Glastafel anhaucht, eine andre drauf
legt, die Farben durch den Druck erregt, dann das Glas
abschiebt, da sich denn die Farben nachziehen und mit
dem Hauche verfliegen.
Vierte Bedingung: Blasen verschiedener Flüssigkeiten,
Seife, Schokolade, Bier, Wein, feine Glasblasen.
Fünfte Bedingung: Sehr feine Häutchen und Lamellen
mineralischer und metallischer Auflösungen; das Kalk-
häutchen, die Oberfläche stehender Wasser, besonders
eisenschüssiger; ingleichen Häutchen von Öl auf dem
Wasser, besonders von Firnis auf Scheidewasser.
Sechste Bedingung: wenn Metalle erhitzt werden. An-
laufen des Stahls und andrer Metalle.
Siebente Bedingung: wenn die Oberfläche des Glases
angegriffen wird.
432. Erste Bedingung, erster Fall. Wenn zwei konvexe
Gläser oder ein Konvex- und Planglas, am besten ein
Konvex- imd Hohlglas sich einander berühren, so ent-
II. PHYSISCHE FARBEN 145
stehn konzentrische farbige Kreise. Bei dem gelindesten
Druck zeigt sich sogleich das Phänomen, welches nach
und nach durch verschiedene Stufen geführt werden kann.
Wir beschreiben sogleich die vollendete Erscheinung,
weil wir die verschiedenen Grade, durch welche sie durch-
geht, rückwärts alsdann desto besser werden einsehen
lernen.
433. Die Mitte ist farblos; daselbst, wo die Gläser durch
den stärksten Druck gleichsam zu einem vereinigt sind,
zeigt sich ein dunkelgrauer Punkt, um denselben ein
silberweißer Raum, alsdann folgen in abnehmenden Ent-
fernungen verschiedene isolierte Ringe, welche sämtlich
aus drei Farben, die unmittelbar miteinander verbunden
sind, bestehen. Jeder dieser Ringe, deren etwa drei bis
vier gezählt werden können, ist inwendig gelb, in der
Mitte purpurfarben und auswendig blau. Zwischen zwei
Ringen findet sich ein silberweißer Zwischenraum. Die
letzten Ringe gegen die Peripherie des Phänomens stehen
immer enger zusammen. Sie wechseln mit Purpur und
Grün, ohne einen dazwischen bemerklichen silberweißen
Raum.
434. Wir wollen nunmehr die sukzessive Entstehung des
Phänomens vom gelindesten Druck an beobachten.
435. Beim gelindesten Druck erscheint die Mitte selbst
grün gefärbt. Darauf folgen bis an die Peripherie sämt-
licher konzentrischen Kreise purpurne und grüne Ringe.
Sie sind verhältnismäßig breit, und man sieht keine Spur
eines silberweißen Raums zwischen ihnen. Die grüne
Mitte entsteht durch das Blau eines unentwickelten Zir-
kels, das sich mit dem Gelb des ersten Kreises vermischt.
Alle übrigen Kreise sind bei dieser gelinden Berührung
breit, ihre gelben und blauen Ränder vermischen sich
und bringen das schöne Grün hervor. Der Purpur aber
eines jeden Ringes bleibt rein und unberührt; daher zei-
gen sich sämtliche Kreise von diesen beiden Farben.
436. Ein etwas stärkerer Druck entfernt den ersten Kreis
von dem unentwickelten um etwas weniges und isoliert
ihn, so daß er sich nun ganz vollkommen zeigt. Die
Mitte erscheint nun als ein blauer Punkt: denn das Gelbe
GOETHE XVIl »9.
146 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
des ersten Kreises ist nun durch einen silberweißen Raum
von ihr getrennt. Aus dem Blauen entwickelt sich in dei
Mitte ein Purpur, welcher jederzeit nach außen seinen
zugehörigen blauen Rand behält. Der zweite, dritte Ring,
von innen gerechnet, ist nun schon völlig isoliert. Kom-
men abweichende Fälle vor, so wird man sie aus dem
Gesagten und noch zu Sagenden zu beurteilen wissen.
437. Bei einem stärkern Druck wird die Mitte gelb, sie
ist mit einem purpurfarbenen und blauen Rand um-
geben. Endlich zieht sich auch dieses Gelb völlig aus der
Mitte. Der innerste Kreis ist gebildet, und die gelbe Farbe
umgibt dessen Rand. Nun erscheint die ganze Mitte sil-
berweiß, bis zuletzt bei dem stärksten Druck sich der
dunkle Punkt zeigt und das Phänomen, wie es zu Anfang
beschrieben wurde, vollendet ist.
438. Das Maß der konzentrischen Ringe und ihrer Ent-
fernungen bezieht sich auf die Form der Gläser, welche
zusammengedrückt werden.
439. Wir haben oben bemerkt, daß die farbige Mitte aus
einem unentwickelten Kreise bestehe. Es findet sich aber
oft bei dem gelindesten Druck, daß mehrere unentwickelte
Kreise daselbst gleichsam im Keime liegen, welche nach
und nach vor dem Auge des Beobachters entwickelt wer-
den können.
440. Die Regelmäßigkeit dieser Ringe entspringt aus
der Form des Konvexglases, und der Durchmesser des
Phänomens richtet sich nach dem größern oder kleinern
Kugelschnitt, wornach eine Linse geschlifien ist. Man
schließt daher leicht, daß man durch das Aneinander-
drücken von Plangläsern nur unregelmäßige Erschei-
nungen sehen werde, welche wellenförmig nach Art der
gewässerten Seidenzeuge erscheinen und sich von dem
Punkte des Drucks aus nach allen Enden verbreiten.
Doch ist auf diesem Wege das Phänomen viel herrlicher
als auf jenem und für einen jeden auffallend und reizend.
Stellt man nun den Versuch auf diese Weise an, so wird
man völlig wie bei dem oben beschriebenen bemerken,
daß bei gelindem Druck die grünen und purpurnen Wellen
zum Vorschein kommen, beim stärkeren aber Streifen,
IL PHYSISCHE FARBEN 147
welche blau, purpurn und gelb sind, sich isolieren. In
dem ersten Falle berühren sich ihre Außenseiten, in
dem zweiten sind sie durch einen silberweißen Raum ge-
trennt.
441. Ehe wir nun zur fernem Bestimmung dieses Phä-
nomens übergehen, wollen wir die bequemste Art, dasselbe
hervorzubringen, mitteilen.
Man lege ein großes Konvexglas vor sich auf den Tisch
gegen ein Fenster und auf dasselbe eine Tafel wohlge-
schliflfenen Spiegelglases, ungefähr von der Größe einer
Spielkarte, so wird die bloße Schwere der Tafel sie schon
dergestalt andrücken, daß eins oder das andre der be-
schriebenen Phänomene entsteht, und man wird schon
durch die verschiedene Schwere der Glastafel, durch an-
dre Zufälligkeiten, wie z. B. wenn man die Glastafel auf
die abhängende Seite des Konvexglases führt, wo sie
nicht so stark aufdrückt als in der Mitte, alle von uns
beschriebenen Grade nach und nach hervorbringen kön-
nen.
442. Um das Phänomen zu bemerken, muß man schief
auf die Fläche sehen, auf welcher uns dasselbe erscheint.
Äußerst merkwürdig ist aber, daß, wenn man sich immer
mehr neigt und unter einem spitzeren Winkel nach dem
Phänomen sieht, die Kreise sich nicht allein erweitern,
sondern aus der Mitte sich noch andre Kreise entwickeln,
von denen sich, wenn man perpendikulär auch durch das
stärkste Vergrößerungsglas darauf sah, keine Spur ent-
decken ließ.
443. Wenn das Phänomen gleich in seiner größten Schön-
heit erscheinen soll, so hat man sich der äußersten Rein-
lichkeit zubefleißigen. Macht man den Versuch mit Spiegel-
glasplatten, so tut man wohl, lederne Handschuh anzu-
ziehen. Man kann bequem die innern Flächen, welche
sich auf das genaueste berühren müssen, vor dem Ver-
suche reinigen und die äußern bei dem Versuche selbst
unter dem Drücken rein erhalten.
444. Man sieht aus obigem, daß eine genaue Berührung
zweier glatten Flächen nötig ist. GeschHffene Gläser tun
den besten Dienst. Glasplatten zeigen die schönsten Far-
148 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
ben, wenn sie aneinander festhängen, und aus ebendieser
Ursache soll das Phänomen an Schönheit wachsen, wenn
sie unter die Luftpumpe gelegt werden und man die Luft
auspumpt.
445. Die Erscheinung der farbigen Ringe kann am schön-
sten hervorgebracht werden, wenn man ein konvexes und
konkaves Glas, die nach einerlei Kugelschnitt geschliffen
sind, zusammenbringt. Ich habe die Erscheinung nie-
mals glänzender gesehen als bei dem Objektivglase ei-
nes achromatischen Femrohrs, bei welchem das Crown -
glas mit dem Flintglase sich allzugenau berühren
mochte.
446. Merkwürdig ist die Erscheinung, wenn ungleich-
artige Flächen, z. B. ein geschliffner Kristall an eine
Glasplatte gedrückt wird. Die Erscheinung zeigt sich
keinesweges in großen fließenden Wellen, wie bei der
Verbindung des Glases mit dem Glase, sondern sie ist
klein und zackig und gleichsam unterbrochen, so daß es
scheint, die Fläche des geschliffenen Kristalls, die aus
unendlich kleinen Durchschnitten der Lamellen besteht,
berühre das Glas nicht in einer solchen Kontinuität, als
es von einem andern Glase geschieht.
447. Die Farbenerscheinung verschwindet durch den
stärksten Druck, der die beiden Flächen so innig verbin-
det, daß sie nur einen Körper auszumachen scheinen.
Daher entsteht der dunkle Punkt in der Mitte, weil die
gedrückte Linse auf diesem Punkte kein Licht mehr zu-
rückwirft, sowie ebenderselbe Punkt, wenn man ihn gegen
das Licht sieht, völlig hell und durchsichtig ist. Bei
Nachlassung des Drucks verschwinden die Farben all-
mählich, und völlig, wenn man die Flächen voneinander
schiebt.
448. Ebendiese Erscheinungen kommen noch in zwei
ähnlichen Fällen vor. Wenn ganze durchsichtige Massen
sich voneinander in dem Grade trennen, daß die Flächen
ihrer Teile sich noch hinreichend berühren, so sieht man
dieselben Kreise und Wellen mehr oder weniger. Man
kann sie sehr schön hervorbringen, wenn man eine er-
hitzte Glasmasse ins Wasser taucht, in deren verschie-
IL PHYSISCHE FARBEN 149
denen Rissen und Sprüngen man die Farben in mannig-
faltigen Zeichnungen bequem beobachten kann. Die Na-
tur zeigt uns oft dasselbe Phänomen an gesprungenem
Bergkristall.
449. Häufig aber zeigt sich diese Erscheinung in der
mineralischen Welt an solchen Steinarten, welche ihrer
Natur nach blättrig sind. Diese ursprünglichen Lamellen
sind zwar so innig verbunden, daß Steine dieser Art auch
völlig durchsichtig und farblos erscheinen können; doch
werden die innerlichen Blätter durch manche Zufälle ge-
trennt, ohne daß die Berührung aufgehoben werde, imd
so wird die uns nun genugsam bekannte Erscheinung öf-
ters hervorgebracht, besonders bei Kalkspäten, bei Frauen-
eis, bei der Adularia und mehrem ähnlich gebildeten Mi-
neralien. Es zeigt also eine Unkenntnis der nächsten
Ursachen einer Erscheinung, welche zufällig so oft her-
vorgebracht wird, wenn man sie in der Mineralogie für
so bedeutend hielt und den Exemplaren, welche sie zeig-
ten, einen besondern Wert beilegte.
450. Es bleibt uns nur noch übrig, von der höchst merk-
würdigen Umwendung dieses Phänomens zu sprechen,
wie sie uns von den Naturforschern überliefert worden.
Wenn man nämlich, anstatt die Farben bei reflektiertem
Lichte zu betrachten, sie bei durchfallendem Licht beob-
achtet, so sollen an derselben Stelle die entgegengesetz-
ten, und zwar auf ebendie Weise, wie wir solche oben
physiologisch als Farben, die einander fordern, angegeben
haben, erscheinen. An der Stelle des Blauen soll man
das Gelbe und umgekehrt, an der Stelle des Roten das
Grüne usw. sehen. Die näheren Versuche sollen künftig
angegeben werden, um so mehr, als bei uns über diesen
Punkt noch einige Zweifel obwalten.
451. Verlangte man nun von uns, daß wir über diese
bisher vorgetragenen epoptischen Farben, die unter der
ersten Bedingung erscheinen, etwas Allgemeines aus-
sprechen und diese Phänomene an die frühern physi-
schen Erscheinungen anknüpfen sollten, so würden wir
folgendermaßen zu Werke gehen.
452. Die Gläser, welche zu den Versuchen gebraucht
1 5 o DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
werden, sind als ein empirisch möglichst Durchsichtiges
anzusehen. Sie werden aber nach unsrer Überzeugimg
durch eine innige Berührung, wie sie der Druck verur-
sacht, sogleich auf ihren Oberflächen, jedoch nur auf das
leiseste getrübt. Innerhalb dieser Trübe entstehn so-
gleich die Farben, und zwar enthält jeder Ring das ganze
System: denn indem die beiden entgegengesetzten, das
Gelb und Blau, mit ihren roten Enden verbunden sind,
zeigt sich der Purpur, das Grüne hingegen, wie bei dem
prismatischen Versuch, wenn Gelb und Blau sich er-
reichen.
453. Wie durchaus bei Entstehung der Farbe das ganze
System gefordert wird, haben wir schon früher mehrmals
erfahren, und es hegt auch in der Natur jeder physischen
Erscheinung, es liegt schon in dem Begriff von polari-
scher Entgegensetzung, wodurch eine elementare Einheit
zur Erscheinung kommt.
454. Daß bei durchscheinendem Licht eine andre Farbe
sich zeigt als bei reflektiertem, erinnert uns an jene di-
optrischen Farben der ersten Klasse, die wir auf eben-
diese Weise aus dem Trüben entspringen sahen. Daß
aber auch hier ein Trübes obwalte, daran kann fast kein
Zweifel sein: denn das Ineinandergreifen der glättesten
Glasplatten, welches so stark ist, daß sie fest aneinander
hängen, bringt eine Halbvereinigung hervor, die jeder
von beiden Flächen etwas an Glätte imd Durchsichtig-
keit entzieht. Den völligen Ausschlag aber möchte die
Betrachtung geben, daß in der Mitte, wo die Linse am
festesten auf das andre Glas aufgedrückt und eine voll-
kommene Vereinigung hergestellt wird, eine völlige Durch-
sichtigkeit entstehe, wobei man keine Farbe mehr ge-
wahr wird. Jedoch mag alles dieses seine Bestätigung
erst nach vollendeter allgemeiner Übersicht des Ganzen
erhalten.
455. Zweite Bedingung. Wenn man eine angehauchte
Glasplatte mit dem Finger abwischt und sogleich wieder
anhaucht, sieht man sehr lebhaft durcheinander schwe-
bende Farben, welche, indem der Hauch abläuft, ihren
Ort verändern und zuletzt mit dem Hauche verschwinden.
II. PHYSISCHE FARBB:N 151
Wiederholt man diese Operation, so werden die Farben
lebhafter und schöner und scheinen auch länger als die
ersten Male zu bestehen,
456. So schnell auch dieses Phänomen vorübergeht und
so konfus es zu sein scheint, so glaub ich doch Folgendes
bemerkt zu haben. Im Anfange erscheinen alle Gnind-
farben und ihre Zusammensetzungen. Haucht man stär-
ker, so kann man die Erscheinung in einer Folge ge-
wahr werden. Dabei läßt sich bemerken, daß, wenn der
Hauch im Ablaufen sich von allen Seiten gegen die
Mitte des Glases zieht, die blaue Farbe zuletzt ver-
schwindet.
457. Das Phänomen entsteht am leichtesten zwischen
den zarten Streifen, welche der Strich des Fingers auf
der klaren Fläche zurückläßt, oder es erfordert eine son-
stige, gewissermaßen rauhe Disposition der Oberfläche
des Körpers. Auf manchen Gläsern kann man durch den
bloßen Hauch schon die Farbenerscheinung hervorbrin-
gen, auf andern hingegen ist das Reiben mit dem Finger
nötig; ja ich habe geschliffene Spiegelgläser gefunden,
von welchen die eine Seite, angehaucht, sogleich die Far-
ben lebhaft zeigte, die andre aber nicht. Nach den über-
bliebenen Facetten zu urteilen, war jene ehmals die freie
Seite des Spiegels, diese aber die innere, durch das Queck-
silber bedeckte gewesen.
458. Wie nun diese Versuche sich am besten in der
Kälte anstellen lassen, weil sich die Platte schneller und
reiner anhauchen läßt und der Hauch schneller wieder
abläuft, so kann man auch bei starkem Frost, in der
Kutsche fahrend, das Phänomen im Großen gewahr wer-
den, wenn die Kutschfenster sehr rein geputzt und sämt-
lich aufgezogen sind. Der Hauch der in der Kutsche
sitzenden Personen schlägt auf das zarteste an die Schei-
ben und erregt sogleich das lebhafteste Farbenspiel. In-
wiefern eine regelmäßige Sukzession darin sei, habe ich
nicht bemerken können. Besonders lebhaft aber erschei-
nen die Farben, wenn sie einen dunklen Gegenstand zum
Hintergrunde haben. Dieser Farbenwechsel dauert aber
nicht lange: denn sobald sich der Hauch in stärkere
1 5 2 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Tropfen sammelt oder zu Eisnadeln gefriert, so ist die
Erscheinung alsbald aufgehoben.
459. Dritte Bedingung. Man kann die beiden vorher-
gehenden Versuche des Druckes und Hauches verbinden,
indem man nämlich eine Glasplatte anhaucht und die an-
dre sogleich darauf drückt. Es entstehen alsdann die
Farben wie beim Drucke zweier unangehauchten, nur mit
dem Unterschiede, daß die Feuchtigkeit hie und da einige
Unterbrechung der Wellen verursacht. Schiebt man eine
Glasplatte von der andern weg, so läuft der Hauch far-
big ab.
460. Man könnte jedoch behaupten, daß dieser verbun-
dene Versuch nichts mehr als die einzelnen sage: denn
wie es scheint, so verschwinden die durch den Druck
erregten Farben in dem Maße, wie man die Gläser von-
einander abschiebt, und die behauchten Stellen laufen
alsdann mit ihren eignen Farben ab.
461. Vierte Bedingufig. Farbige Erscheinungen lassen sich
fast an allen Blasen beobachten. Die Seifenblasen sind
die bekanntesten, und ihre Schönheit ist am leichtesten
darzustellen. Doch findet man sie auch beim Weine, Bier,
bei geistigen reinen Liquoren, besonders auch im Schaume
der Schokolade.
462. Wie wir oben einen unendlich schmalen Raum zwi-
schen zwei Flächen, welche sich berühren, erforderten,
so kann man das Häutchen der Seifenblase als ein un-
endlich dünnes Blättchen zwischen zwei elastischen Kör-
pern ansehen: denn die Erscheinung zeigt sich doch ei-
sentlich zwischen der innern, die Blase auftreibenden
Luft und zwischen der atmosphärischen.
463. Die Blase, indem man sie hervorbringt, ist farblos;
dann fangen farbige Züge wie des Marmorpapieres an,
sich sehen zu lassen, die sich endlich über die ganze
Blase verbreiten oder vielmehr um sie herumgetrieben
werden, indem man sie aufbläst.
464. Es gibt verschiedene Arten, die Blase zu machen:
frei, indem man den Strohhalm nur in die Auflösung
taucht und die hängende Blase durch den Atem auftreibt.
Hier ist die Entstehung der Farbenerscheinung schwer
II. PHYSISCHE FARBEN 153
zu beobachten, weil die schnelle Rotation keine genaue
Bemerkung zuläßt und alle Farben durcheinander gehen.
Doch läßt sich bemerken, daß die Farben am Strohhalm
anfangen. Ferner kann man in die Auflösung selbst bla-
sen, jedoch vorsichtig, damit nur eine Blase entstehe.
Sie bleibt, wenn man sie nicht sehr auftreibt, weiß; wenn
aber die Auflösung nicht allzu wäßrig ist, so setzen sich
Kreise um die perpendikulare Achse der Blase, die ge-
wöhnlich grün und purpurn abwechseln, indem sie nah
aneinander stoßen. Zuletzt kann man auch mehrere Bla-
sen nebeneinander hervorbringen, die noch mit der Auf-
lösung zusammenhangen. In diesem Falle entstehen die
Farben an den Wänden, wo zwei Blasen einander platt-
gedrückt haben.
465. An den Blasen des Schokoladenschaums sind die
Farben fast bequemer zu beobachten als an den Seifen-
blasen. Sie sind beständiger, obgleich kleiner. In ihnen
wird durch die Wärme ein Treiben, eine Bewegung her-
vorgebracht und unterhalten, die zur Entwicklung, Suk-
zession und endlich zum Ordnen des Phänomens nötig
zu sein scheinen.
466. Ist die Blase klein oder zwischen andern einge-
schlossen, so treiben sich farbige Züge auf der Ober-
fläche herum, dem marmorierten Papiere ähnlich; man
sieht alle Farben unsres Schemas durcheinander ziehen,
die reinen, gesteigerten, gemischten, alle deutlich hell
und schön. Bei kleinen Blasen dauert das Phänomen
immer fort.
467. Ist die Blase größer oder wird sie nach und nach
isoliert dadurch, daß die andern neben ihr zerspringen,
so bemerkt man bald, daß dieses Treiben und Ziehen
der Farben auf etwas abzwecke. Wir sehen nämlich auf
dem höchsten Punkte der Blase einen kleinen Kreis ent-
stehen, der in der Mitte gelb ist; die übrigen farbigen
Züge bewegen sich noch immer wurmförmig um ihn her.
468. Es dauert nicht lange, so vergrößert sich der Kreis
und sinkt nach allen Seiten hinab. In der Mitte behält
er sein Gelb, nach unten und außen wird er purpurfarben
und bald blau. Unter diesem entsteht wieder ein neuer
1 5 4 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Kreis von ebendieser Farbenfolge. Stehen sie nahe ge-
nug beisammen, so entsteht aus Vermischung der End-
farben ein Grün.
469. Wenn ich drei solcher Hauptkreise zählen konnte,
so war die Mitte farblos, und dieser Raum wurde nach
und nach größer, indem die Kreise mehr niedersanken,
bis zuletzt die Blase zerplatzte.
470. Fünfte Bedingung. Es können auf verschiedene
Weise sehr zarte Häutchen entstehen, an welchen man
ein sehr lebhaftes Farbenspiel entdeckt, indem nämlich
sämtliche Farben entweder in der bekannten Ordnung
oder mehr verworren durcheinander laufend gesehen wer-
den. Das Wasser, in welchem ungelöschter Kalk aufge-
löst worden, überzieht sich bald mit einem farbigen Häut-
chen. Ein gleiches geschieht auf der Oberfläche stehen-
der Wasser, vorzüglich solcher, welche Eisen enthalten.
Die Lamellen des feinen Weinsteins, die sich, besonders
von rotem französischen Weine, in den Bouteillen an-
legen, glänzen von den schönsten Farben, wenn sie auf
sorgfältige Weise losgeweicht und an das Tageslicht ge-
bracht werden. Öltropfen auf Wasser, Branntwein imd
andern Flüssigkeiten bringen auch dergleichen Ringe und
Flämmchen hervor. Der schönste Versuch aber, den man
machen kann, ist folgender. Man gieße nicht allzu star-
kes Scheidewasser in eine flache Schale tmd tropfe mit
einem Pinsel von jenem Firnis darauf, welchen die Kupfer-
stecher brauchen, um während des Ätzens gewisse Stellen
ihrer Platten zu decken. Sogleich entsteht unter lebhafter
Bewegung ein Häutchen, das sich in Kreise ausbreitet
und zugleich die lebhaftesten Farbenerscheinungen her-
vorbringt.
471. Sechste Bedingung. Wenn Metalle erhitzt werden,
so entstehen auf ihrer Oberfläche flüchtig aufeinander-
folgende Farben, welche jedoch nach Belieben festge-
halten werden können.
472. Man erhitze einen polierten Stahl, und er wird in
einem gewissen Grad der Wärme gelb überlaufen. Nimmt
man ihn schnell von den Kohlen weg, so bleibt ihm diese
Farbe.
II. PHYSISCHE FARBEN 155
473. Sobald der Stahl heißer wird, erscheint das Gelbe
dunkler, höher und geht bald in den Purpur hinüber.
Dieser ist schwer festzuhalten, denn er eilt sehr schnell
ins Hochblaue.
474. Dieses schöne Blau ist festzuhalten, wenn man
schnell den Stahl aus der Hitze nimmt und ihn in Asche
steckt. Die blau angelaufnen Stahlarbeiten werden auf
diesem Wege hervorgebracht. Fährt man aber fort, den
Stahl frei über dem Feuer zu halten, so wird er in kur-
zem hellblau, und so bleibt er.
475. Diese Farben ziehen wie ein Hauch über die Stahl-
platte, eine scheint vor der andern zu fliehen; aber ei-
gentlich entwickelt sich immer die folgende aus der vor-
hergehenden.
476. Wenn man ein Federmesser ins Licht hält, so wird
ein farbiger Streif quer über die Klinge entstehen. Der
Teil des Streifes, der am tiefsten in der Flamme war, ist
hellblau, das sich ins Blaurote verliert. Der Purpur steht
in der Mitte, dann folgt Gelbrot und Gelb.
477. Dieses Phänomen leitet sich aus dem vorhergehen-
den ab; denn die Klinge nach dem Stiele zu ist weniger
erhitzt als an der Spitze, welche sich in der Flamme be-
findet, und so müssen alle Farben, die sonst nacheinan-
der entstehen, auf einmal erscheinen, und man kann sie
auf das beste figiert aufbewahren.
478. Robert Boyle gibt diese Farbensukzession folgen-
dermaßen an: a florido flavo ad flavwn saturuni et rube-
scentem i^uem artifices sanguineum vocani)^ inde ad langui-
dum, postea ad saturioreni cyanetim. Dieses wäre ganz gut,
wenn man die Worte languidus und saturior ihre Stellen
verwechseln ließe. Inwiefern die Bemerkung richtig ist,
daß die verschiedenen Farben auf die Grade der folgen-
den Härtung Einfluß haben, lassen wir dahingestellt sein.
Die Farben sind hier nur Anzeichen der verschiedenen
Grade der Hitze.
479. Wenn man Blei kalziniert, wird die Oberfläche erst
i^raulich. Dieses grauliche Pulver wird durch größere
Hitze gelb und sodann orange. Auch das Silber zeigt
bei der Erhitzung Farben. Der Blick des Silbers beim
1 5 6 DER FARBENLEHRE DU )AKTISCHER TEIL
Abtreiben gehört auch hieher. Wenn metallische Gläser
schmelzen, entstehen gleichfalls Farben auf der Ober-
fläche.
480. Siebente Bedingung: wenn die Oberfläche des Gla-
ses angegriffen wird. Das Blindwerden des Glases ist
uns oben schon merkwürdig gewesen. Man bezeichnet
durch diesen Ausdruck, wenn die Oberfläche des Glases
dergestalt angegriffen wird, daß es uns trüb erscheint.
481. Das weiße Glas wird am ersten bhnd, desgleichen
gegossenes und nachher geschliffenes Glas, das blauliche
weniger, das grüne am wenigsten.
482. Eine Glastafel hat zweierlei Seiten, davon man die
eine die Spiegelseite nennt. Es ist die, welche im Ofen
oben liegt, an der man rundliche Erhöhungen bemerken
kann. Sie ist glätter als die andere, die im Ofen unten
liegt und an welcher man manchmal Kritzen bemerkt.
Man nimmt deswegen gern die Spiegelseite in die Zim-
mer, weil sie durch die von innen anschlagende Feuchtig-
keit weniger als die andre angegriffen und das Glas da-
her weniger bhnd wird.
483. Dieses Blindwerden oder Trüben des Glases geht
nach und nach in eine Farbenerscheinung über, die sehr
lebhaft werden kann und bei welcher vielleicht auch eine
gewisse Sukzession oder sonst etwas Ordnungsgemäßes
zu entdecken wäre.
484. Und so hätten wir denn auch die physischen Far-
ben von ihrer leisesten Wirkung an bis dahin geführt,
wo sich diese flüchtigen Erscheinungen an die Körper
festsetzen, und wir wären auf diese Weise an die Grenze
gelangt, wo die chemischen Farben eintreten, ja gewisser-
maßen haben wir diese Grenze schon überschritten; wel-
ches für die Stetigkeit unsres Vortrags ein gutes Vor-
urteil erregen mag. Sollen wir aber noch zu Ende die-
ser Abteilung etwas Allgemeines aussprechen und auf
ihren innern Zusammenhang hindeuten, so fügen wir zu
dem, was wir oben (451 — 454) gesagt haben, noch Fol-
gendes hinzu.
485. Das Anlaufen des Stahls und die verwandten Er-
fahrungen könnte man vielleicht ganz bequem aus der
II. PHYSISCHE FARBEN 157
Lehre von den trüben Mitteln herleiten. Polierter Stahl
wirft mächtig das Licht zurück. Man denke sich das durch
die Hitze bewirkte Anlaufen als eine gelinde Trübe; so-
gleich müßte daher ein Hellgelb erscheinen, welches bei
zunehmender Trübe immer verdichteter, gedrängter und
röter, ja zuletzt purpur- und rubinrot erscheinen muß.
Wäre nun zuletzt diese Farbe auf den höchsten Punkt des
Dunkelwerdens gesteigert und man dächte sich die im-
mer fortwaltende Trübe, so würde diese nunmehr sich
über ein Finsteres verbreiten und zuerst ein Violett, dann
ein Dunkelblau und endlich ein Hellblau hervorbringen
und so die Reihe der Erscheinungen beschließen.
Wir wollen nicht behaupten, daß man mit dieser Erklä-
rungsart völlig auslange, unsre Absicht ist vielmehr, nur
auf den Weg zu deuten, auf welchem zuletzt die alles
umfassende Formel, das eigentliche Wort des Rätsels ge-
funden werden kann.
DRITTE ABTEILUNG. CHEMISCHE
FARBEN
S.
486. C^O nennen wir diejenigen, welche wir an ge-
wissen Körpern erregen, mehr oder weniger
'fixieren, an ihnen steigern, von ihnen wieder
wegnehmen und andern Körpern mitteilen können, denen
wir denn auch deshalb eine gewisse immanente Eigen-
schaft zuschreiben. Die Dauer ist meist ihr Kenn-
zeichen.
487. In diesen Rücksichten bezeichnete man früher die
chemischen Farben mit verschiedenen Beiwörtern. Sie
hießen colores proprü, corporei^ materiales, veri, perma-
nentes, fixi.
488. Wie sich das Bewegliche und Vorübergehende der
physischen Farben nach und nach an den Körpern fixiere,
haben wir in dem Vorhergehenden bemerkt und den Über-
gang eingeleitet.
489. Die Farbe fixiert sich an den Körpern mehr oder
weniger dauerhaft, oberflächlich oder durchdringend.
490. Alle Körper sind der Farbe fähig, entweder daß sie
an ihnen erregt, gesteigert, stufenweise fixiert oder wenig-
stens ihnen mitgeteilt werden kann.
XXXIV. Chemischer Gegensatz
491. Indem wir bei Darstellung der farbigen Erschei-
nung auf einen Gegensatz durchaus aufmerksam zu machen
Ursache hatten, so finden wir, indem wir den Boden der
Chemie betreten, die chemischen Gegensätze uns auf
eine bedeutende Weise begegnend. Wir sprechen hier
zu unsern Zwecken nur von demjenigen, den man unter
dem allgemeinen Namen von Säure und Alkali zu be-
greifen pflegt,
492. Wenn wir den chromatischen Gegensatz nach An-
leitung aller übrigen physischen Gegensätze durch ein
Mehr oder Weniger bezeichnen, der gelben Seite das
Mehr, der blauen das Weniger zuschreiben, so schließen
sich diese beiden Seiten nun auch in chemischen Fällen
an die Seiten des chemisch Entgegengesetzten an. Das
Gelb und Gelbrote widmet sich den Säuren, das Blau
III. CHEMISCHE FARBEN 159
und Blaurote den Alkalien, und so lassen sich die Er-
scheinungen der chemischen Farben, freilich mit noch
manchen andern eintretenden Betrachtungen, auf eine
ziemlich einfache Weise durchführen,
493. Da übrigens die Hauptphänomene der chemischen
Farben bei Säuerungen der Metalle vorkommen, so sieht
man, wie wichtig diese Betrachtung hier an der Spitze
sei. Was übrigens noch weiter zu bedenken eintritt, wer-
den wir unter einzelnen Rubriken näher bemerken, wo-
bei wir jedoch ausdrücklich erklären, daß wir dem Che-
miker nur im allgemeinsten vorzuarbeiten gedenken, ohne
uns in irgendein Besondres, ohne uns in die zartem che-
mischen Aufgaben und Fragen mischen oder sie beant-
worten zu wollen. Unsre Absicht kann nur sein, eine
Skizze zu geben, wie sich allenfalls nach unserer Über-
zeugung die chemische Farbenlehre an die allgemeine
physische anschließen könnte.
XXXV. Ableitung des Weißen
494. Wir haben hiezu schon oben bei Gelegenheit der
dioptrischen Farben der ersten Klasse (155 ff.) einige
Schritte getan. Durchsichtige Körper stehen auf der
höchsten Stufe unorganischer Materialität. Zunächst daran
fügt sich die reine Trübe, und das Weiße kann als die
vollendete reine Trübe angesehen werden.
495. Reines Wasser zu Schnee kristallisiert erscheint
weiß, indem die Durchsichtigkeit der einzelnen Teile
kein durchsichtiges Ganzes macht. Verschiedene Salz-
kristalle, denen das Kristallisationswasser entweicht, er-
scheinen als ein weißes Pulver. Man könnte den zu-
fällig undurchsichtigen Zustand des rein Durchsichtigen
Weiß nennen, so wie ein zermalmtes Glas als ein weißes
Pulver erscheint. Man kann dabei die Aufhebung einer
dynamischen Verbindung und die Darstellung der ato-
mistischen Eigenschaft der Materie in Betracht ziehn.
496. Die bekannten unzerlegten Erden sind in ihrem
reinen Zustand alle weiß. Sie gehen durch natürliche
Kristallisation in Durchsichtigkeit über: Kieselerde in den
1 6o DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Bergkristall, Tonerde in den Glimmer, ßittererde in den
Talk; Kalkerde und Schwererde erscheinen in so man-
cherlei Späten durchsichtig.
497. Da uns bei Färbung mineralischer Körper die Me-
tallkalke vorzüglich begegnen werden, so bemerken wir
noch zum Schlüsse, daß angehende gelinde Säurungen
weiße Kalke darstellen, wie das Blei durch die Essig-
säure in Bleiweiß verwandelt wird.
XXXVI. Ableihmg des Schwarzen
498. Das Schwarze entspringt uns nicht so uranfänglich
wie das Weiße, Wir treffen es im vegetabilischen Reiche
bei Halbverbrennungen an, und die Kohle, der auch übri-
gens höchst merkwürdige Körper, zeigt uns die schwarze
Farbe. Auch wenn Holz, z. B. Bretter, durch Licht, Luft
und Feuchtigkeit seines Brennlichen zum Teil beraubt
wird, so erscheint erst die graue, dann die schwarze
Farbe; wie wir denn auch animalische Teile durch eine
Halbverbrennung in Kohle verwandeln können.
499. Ebenso finden wir auch bei den Metallen, daß oft
eine Halboxydation stattfindet, wenn die schwarze Farbe
erregt werden soll. So werden durch schwache Säuerung
mehrere Metalle, besonders das Eisen, schwarz, durch
Essig, durch gelinde saure Gärungen, z. B, eines Reis-
dekokts usw.
500. Nicht weniger läßt sich vermuten, daß eine Ab-
oder Rücksäuerung die schwarze Farbe hervorbringe.
Dieser Fall ist bei der Entstehung der Tinte, da das in
der starken Schwefelsäure aufgelöste Eisen gelblich wird,
durch die Gallusinfusion aber zum Teil entsäuert, nun-
mehr schwarz erscheint.
XXXVII. Erregung der Farbe
501. Als wir oben in der Abteilung von physischen Far-
ben trübe Mittel behandelten, sahen wir die Farbe eher
als das Weiße und Schwarze. Nun setzen wir ein ge-
wordnes Weißes, ein gewordnes Schwarzes fixiert vor-
III. CHEMISCHE FARBEN i6i
aus und fragen, wie sich an ihm die Farbe erregen
lasse.
502. Auch hier können wir sagen: ein Weißes, das sich
verdunkelt, das sich trübt, wird gelb; das Schwarze, das
sich erhellt, wird blau.
503. Auf der aktiven Seite, unmittelbar am Lichte, am
Hellen, am Weißen, entsteht das Gelbe. Wie leicht ver-
gilbt alles, was weiße Oberflächen hat: das Papier, die
Leinwand, Baumwolle, Seide, Wachs; besonders auch
durchsichtige Liquoren, welche zum Brennen geneigt
sind, werden leicht gelb, d. h. mit andern Worten, sie
gehen leicht in eine gelinde Trübung über.
504. So ist die Erregung auf der passiven Seite amFin-
stern. Dunkeln, Schwarzen sogleich mit der blauen oder
vielmehr mit einer rötlichblauen Erscheinung begleitet.
Eisen, in Schwefelsäure aufgelöst und sehr mit Wasser
diluiert, bringt in einem gegen das Licht gehaltnen Glase,
sobald nur einige Tropfen Gallus dazu kommen, eine
schöne violette Farbe hervor, welche die Eigenschaften
des Rauchtopases, das Orphninon eines verbrannten Pur-
purs, wie sich die Alten ausdrücken, dem Auge dar-
stellt.
505. Ob an den reinen Erden durch chemische Opera-
tionen der Natur und Kunst ohne Beimischung von Me-
tallkalken eine Farbe erregt werden könne, ist eine wich-
tige Frage, die gewöhnlich mit Nein beantwortet wird.
Sie hängt vielleicht mit der Frage zusammen, inwie-
fern sich durch Oxydation den Erden etwas abgewinnen
lasse.
506. Für die Verneinung der Frage spricht allerdings der
Umstand, daß überall, wo man mineralische Farben fin-
det, sich eine Spur von Metall, besonders von Eisen zeigt,
wobei man freilich in Betracht zieht, wie leicht sich das
Eisen oxydiere, wie leicht der Eisenkalk verschiedene
Farben annehme, wie unendlich teilbar derselbe sei und
wie geschwind er seine Farbe mitteile. Demungeachtet
wäre zu wünschen, daß neue Versuche hierüber ange-
stellt und die Zweifel entweder bestärkt oder beseitigt
würden.
GOETHE XVIl II.
1 6 2 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
507. Wie dem auch sein mag, so ist die Rezeptivität der
F>den gegen schon vorhandne Farben sehr groß, wor-
unter sich die Alaunerde besonders auszeichnet.
508. Wenn wir nun zu den Metallen übergehen, welche
sich im unorganischen Reiche beinahe privativ das Recht,
farbig zu erscheinen, zugeeignet haben, so finden wir,
daß sie sich in ihrem reinen, selbsändigen, regulinischen
Zustande schon dadurch von den reinen Erden unter-
scheiden, daß sie sich zu irgendeiner Farbe hinneigen.
509. Wenn das Silber sich dem reinen Weißen am mei-
sten nähert, ja das reine Weiß, erhöht durch metallischen
Glanz, wirklich darstellt, so ziehen Stahl, Zinn, Blei usw.
ins bleiche Blaugraue hinüber, dagegen das Gold sich
zum reinen Gelben erhöht, das Kupfer zum Roten hinan-
rückt, welches unter gewissen Umständen sich fast bis
zum Purpur steigert, durch Zink hingegen wieder zur
gelben Goldfarbe hinabgezogen wird.
510. Zeigen Metalle nun im gediegenen Zustande solche
spezifische Determinationen zu diesem oder jenem Far-
benausdruck, so werden sie durch die Wirkung der Oxy-
dation gewissermaßen in eine gemeinsame Lage versetzt.
Denn die Elementarfarben treten nun rein hervor, und
obgleich dieses und jenes Metall zu dieser oder jener
Farbe eine besondre Bestimmbarkeit zu haben scheint,
so wissen wir doch von einigen, daß sie den ganzen Far-
benkreis durchlaufen können, von andern, daß sie mehr
als eine Farbe darzustellen fähig sind, wobei sich jedoch
das Zinn durch seine Unfärblichkeit auszeichnet. Wir
geben künftig eine Tabelle, inwiefern die verschiedenen
Metalle mehr oder weniger durch die verschiedenen Far-
ben durchgeführt werden können.
511. Daß die reine glatte Oberfläche eines gediegenen
Metalles bei Erhitzung von einem Farbenhauch über-
zogen wird, welcher mit steigender Wärme eine Reihe
von Erscheinungen durchläuft, deutet nach unserer Über-
zeugung auf die Fähigkeit der Metalle, den ganzen Far-
benkreis zu durchlaufen. Am schönsten werden wir dieses
Phänomen am polierten Stahl gewahr, aber Silber, Kupfer,
Messing, Blei, Zinn lassen uns leicht ähnhche Erschei-
III. CHEMISCHE FARBEN 163
nungen sehen. Wahrscheinlich ist hier eine oberfläch-
liche Säurung im Spiele, wie man aus der fortgesetzten
Operation, besonders bei den leichter verkalklichen Me-
tallen schließen kann.
512. Daß ein geglühtes Eisen leichter eine Säurung
durch saure Liquoren erleidet, scheint auch dahin zu
deuten, indem eine Wirkung der andern entgegenkommt.
Noch bemerken wir, daß der Stahl, je nachdem er in
verschiedenen Epochen seiner Farbenerscheinung ge-
härtet wird, einigen Unterschied der Elastizität zeigen
soll, welches ganz naturgemäß ist, indem die verschie-
denen Farbenerscheinungen die verschiedenen Grade der
Hitze andeuten.
513. Geht man über diesen oberflächhchen Hauch, über
dieses Häutchen hinweg, beobachtet man, wie Metalle
in Massen penetrativ gesäuert werden, so erscheint mit
dem ersten Grade Weiß oder Schwarz, wie man beim
Bleiweiß, Eisen und Quecksilber bemerken kann.
514. Fragen wir nun weiter nach eigentlicher Erregung
der Farbe, so finden wir sie auf der Plusseite am häufig-
sten. Das oft erwähnte Anlaufen glatter metallischer
Flächen geht von dem Gelben aus. Das Eisen geht bald
in den gelben Ocker, das Blei aus dem Bleiweiß in den
Massikot, das Quecksilber aus dem Äthiops in den gel-
ben Turbit hinüber. Die Auflösungen des Goldes und
der Piatina in Säuren sind gelb,
515. Die Erregungen auf der Minusseite sind seltner.
Ein wenig gesäuertes Kupfer erscheint blau. Bei Berei-
tung des ßerlinerblau sind Alkalien im Spiele.
516. Überhaupt aber sind diese Farbenerscheinungen von
so beweglicher Art, daß die Chemiker selbst, sobald sie
ins Feinere gehen, sie als trügliche Kennzeichen be-
trachten. Wir aber können zu unsern Zwecken diese Ma-
terie nur im Durchschnitt behandeln und wollen nur so
viel bemerken, daß man vielleicht die metallischen Far-
benerscheinungen, wenigstens zum didaktischen Behuf,
einstweilen ordnen könne, wie sie durch Säurung, Auf-
säurung, Absäurung und Entsäurung entstehen, sich auf
mannigfaltige Weise zeigen und verschwinden.
1 64 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
XXXVIII. Steigerung
517. Die Steigerung erscheint uns als eine In-sich-selbst-
Drängung, Sättigung, Beschattung der Farben. So haben
wir schon oben bei farblosen Mitteln gesehen, daß wir
durch Vermehrung der Trübe einen leuchtenden Gegen-
stand vom leisesten Gelb bis zum höchsten Rubinrot
steigern können. Umgekehrt steigert sich das Blau in
das schönste Violett, wenn wir eine erleuchtete Trübe
vor der Finsternis verdünnen und vermindern (150.
518. Ist die Farbe spezifiziert, so tritt ein Ähnliches her-
vor. Man lasse nämlich Stufengefäße aus weißem Por-
zellan machen und fülle das eine mit einer reinen gelben
Feuchtigkeit, so wird diese von oben herunter bis auf
den Boden stufenweise immer röter und zuletzt orange
erscheinen. In das andre Gefäß gieße man eine blaue
reine Solution: die obersten Stufen werden ein Himmel-
blau, der Grund des Gefäßes ein schönes Violett zeigen.
Stellt man das Gefäß in die Sonne, so ist die Schatten-
seite der obern Stufen auch schon violett. Wirft man mit
der Hand oder einem andern Gegenstande Schatten über
den erleuchteten Teil des Gefäßes, so erscheint dieser
Schatten gleichfalls rötlich.
519. Es ist dieses eine der wichtigsten Erscheinungen in
der Farbenlehre, indem wir ganz greiflich erfahren, daß
ein quantitatives Verhältnis einen qualitativen Eindruck
auf unsre Sinne hervorbringe. Und indem wir schon
früher, bei Gelegenheit der letzten epoptischen Farben
(485), unsre Vermutungen eröffnet, wie man das Anlaufen
des Stahls vielleicht aus der Lehre von trüben Mitteln
herleiten könnte, so bringen wir dieses hier abermals ins
Gedächtnis.
520. Übrigens folgt alle chemische Steigerung unmittel-
bar auf die Erregung. Sie geht unaufhaltsam und stetig
fort, wobei man zu bemerken hat, daß die Steigerung auf
der Plusseite die gewöhnlichste ist. Der gelbe Eisenocker
steigert sich sowohl durchs Feuer als durch andre Ope-
rationen zu einer sehr hohen Röte. Massikot wird in
III. CHEMISCHE FARBEN 165
Mennige, Turbit in Zinnober gesteigert, welcher letz-
tere schon auf eine sehr hohe Stufe des Gelbroten ge-
langt. Eine innige Durchdringung des Metalls durch die
Säure, eine Teilung desselben ins empirisch Unendliche
geht hierbei vor.
521. Die Steigerung auf der Minusseite ist seltner, ob
wir gleich bemerken, daß, je reiner und gedrängter das
Berlinerblau oder das Kobaltglas bereitet wird, es immer
einen rötlichen Schein annimmt und mehr ins Violette
spielt.
522. Für diese unmerkliche Steigerung des Gelben und
Blauen ins Rote haben die Franzosen einen artigen Aus-
druck, indem sie sagen, die Farbe habe einen (kü de rouge^
welches wir durch "einen rötlichen Blick" ausdrücken
könnten.
XXXIX. Kulmination
523. Sie erfolgt bei fortschreitender Steigerung. Das
Rote, worin weder Gelb noch Blau zu entdecken ist,
macht hier den Zenit.
524. Suchen wir ein auffallendes Beispiel einer Kulmi-
nation von der Plusseite her, so finden wir es abermals
beim anlaufenden Stahl, welcher bis in den Purpur-
zenit gelangt und auf diesem Punkte festgehalten werden
kann.
525. Sollen wir die vorhin (516) angegebene Termino-
logie hier anwenden, so würden wir sagen: die erste
Säuerung bringe das Gelbe hervor, die Aufsäurung das
Gelbrote; hier entstehe ein gewisses Summwn^ da denn
eine Absäurung und endlich eine Entsäurung eintrete.
526. Hohe Punkte von Säuerung bringen eine Purpur-
farbe hervor, Gold, aus seiner Auflösung durch Zinnauf-
lösung gefällt, erscheint purpurfarben. Das Oxyd des
Arseniks, mit Schwefel verbunden, bringt eine Rubinfarbe
hervor.
527. Wiefern aber eine Art von Absäurung bei mancher
Kulmination mitwirke, wäre zu untersuchen: denn eine
1 6 6 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Einwirkung der Alkalien auf das Gelbrote scheint auch
die Kulmination hervorzubringen, indem die Farbe gegen
das Minus zu in den Zenit genötigt wird.
528. Aus dem besten ungarischen Zinnober, welcher das
höchste Gelbrot zeigt, bereiten die Holländer eine Farbe,
die man Vermillon nennt. Es ist auch nur ein Zinnober,
der sich aber der Purpurfarbe nähert, und es läßt sich
vermuten, daß man durch Alkalien ihn der Kulmination
näherzubringen sucht.
529. Vegetabilische Säfte sind, auf diese Weise behan-
delt, ein in die Augen fallendes Beispiel. Kurkuma, Or-
kan, Saflor und andre, deren färbendes Wesen man mit
Weingeist ausgezogen und nun Tinkturen von gelber,
gelb- und hyazinthroter Farbe vor sich hat, gehen durch
Beimischung von Alkalien in den Zenit, ja drüber hin-
aus nach dem Blauroten zu.
530. Kein Fall einer Kulmination von der Minusseite
ist mir im mineralischen und vegetabilischen Reiche be-
kannt. In dem animalischen ist der Saft der Purpur-
schnecke merkwürdig, von dessen Steigerung und Kul-
mination von der Minusseite her wir künftig sprechen
werden.
XL. Balancieren
531. Die Beweglichkeit der Farbe ist so groß, daß selbst
diejenigen Pigmente, welche man glaubt spezifiziert zu
haben, sich wieder hin und her wenden lassen. Sie ist
in der Nähe des Kulminationspunktes am merkwürdig-
sten und wird durch wechselsweise Anwendung der Säu-
ren und Alkalien am auffallendsten bewirkt.
532. Die Franzosen bedienen sich, um diese Erscheinung
bei der Färberei auszudrücken, des Wortes virer ^ welches
"von einer Seite nach der andern wenden" heißt, und
drücken dadurch auf eine sehr geschickte Weise dasjenige
aus, was man sonst durch Mischungsverhältnisse zu be-
zeichnen und anzuheben versucht.
533. Hievon ist diejenige Operation, die wir mit dem
Lackmus zu machen pflegen, eine der bekanntesten und
auffallendsten. Lackmus ist ein Farbematerial, das durch'
III. CHEMISCHE FARBEN 167
Alkalien zum Rotblauen spezifiziert worden. Es wird
dieses sehr leicht durch Säuren ins Rotgelbe hinüber-
und durch Alkalien wieder herübergezogen. Inwiefern in
diesem Fall durch zarte Versuche ein Kulminationspunkt
zu entdecken und festzuhalten sei, wird denen, die in
dieser Kunst geübt sind, überlassen, so wie die Färbekunst,
besonders die Scharlachfärberei, von diesem Hin- und
Herwenden mannigfaltige Beispiele zu liefern imstande ist.
XU. Durchwandern des Kreises
534. Die Erregung und Steigerung kommt mehr auf der
Plus- als auf der Minusseite vor. So geht auch die Farbe
bei Durch Wanderung des ganzen Wegs meist von der
Plusseite aus.
535. Eine stetige, in die Augen fallende Durchwande-
rung des Wegs vom Gelben durchs Rote zum Blauen zeigt
sich beim Anlaufen des Stahls.
536. Die Metalle lassen sich durch verschiedene Stufen
und Arten der Oxydation auf verschiedenen Punkten des
Farbenkreises spezifizieren.
537. Da sie auch grün erscheinen, so ist die Frage, ob
man eine stetige Durchwanderung aus dem Gelben durchs
Grüne ins Blaue und umgekehrt in dem Mineralreiche
kennt. Eisenkalk, mit Glas zusammengeschmolzen, bringt
erst eine grüne, bei verstärktem Feuer eine blaue Farbe
hervor.
538. Es ist wohl hier am Platz, von dem Grünen über-
haupt zu sprechen. Es entsteht vor uns vorzüglich im
atomistischen Sinne, und zwar völlig rein, wenn wir Gelb
und Blau zusammenbringen; allein auch schon ein un-
reines beschmutztes Gelb bringt uns den Eindruck des
Grünlichen hervor. Gelb mit Schwarz macht schon Grün;
aber auch dieses leitet sich davon ab, daß Schwarz mit
dem Blauen verwandt ist. Ein unvoUkommnes Gelb wie
das Schwefelgelb gibt uns den Eindruck von einem Grün-
lichen. Ebenso werden wir ein unvollkommenes Blau als
Grün gewahr. Das Grüne der Weinflaschen entsteht, so
scheint es, durch eine unvollkommene Verbindung des
1 6 8 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Eisenkalks mit dem Glase. Bringt man durch größere
Hitze eine vollkommenere Verbindung hervor, so ent-
steht ein schönes blaues Glas.
539. Aus allem diesem scheint so viel hervorzugehen,
daß eine gewisse Kluft zwischen Gelb und Blau in der
Natur sich findet, welche zwar durch Verschränkung und
Vermischung atomistisch gehoben und zum Grünen ver-
knüpft werden kann, daß aber eigentlich die wahre Ver-
mittlung vom Gelben und Blauen nur durch das Rote
geschieht.
540. Was jedoch dem Unorganischen nicht gemäß zu sein
scheint, das werden wir, wenn von organischen Naturen
die Rede ist, möglich finden, indem in diesem letzten
Reiche eine solche Durchwandrung des Kreises vom
Gelben durchs Grüne und Blaue bis zum Purpur wirk-
lich vorkommt.
XLH. Umkehrung
541. Auch eine unmittelbare Umkehrung in den gefor-
derten Gegensatz zeigt sich als eine sehr merkwürdige
Erscheinung, wovon wir gegenwärtig nur Folgendes an-
zugeben wissen.
542. Das mineralische Chamäleon, welches eigentlich
ein Braunsteinoxyd enthält, kann man in seinem ganz
trocknen Zustande als ein grünes Pulver ansehen. Streut
man es in Wasser, so zeigt sich in dem ersten Augen-
blick der Auflösung die grüne Farbe sehr schön; aber sie
verwandelt sich sogleich in die dem Grünen entgegen-
gesetzte Purpurfarbe, ohne daß irgendeine Zwischenstufe
bemerklich wäre.
543. Derselbe Fall ist mit der sympathetischen Tinte,
welche auch als ein rötlicher Liquor angesehen werden
kann, dessen Austrocknung durch Wärme die grüne Farbe
auf dem Papiere zeigt.
544. Eigentlich scheint hier der Konflikt zwischen Trockne
und Feuchtigkeit dieses Phänomen hervorzubringen, wie,
wenn wir uns nicht irren, auch schon von den Scheide-
künstlern angegeben worden. Was sich weiter daraus
III. CHEMISCHE FARBEN 169
ableiten, woran sich diese Phänomene anknüpfen lassen,
darüber können wir von der Zeit hinlänghche Belehrung
erwarten.
XLIII, Fixation
545. So beweglich wir bisher die Farbe, selbst bei ihrer
körperlichen Erscheinung gesehen haben, so fixiert sie
sich doch zuletzt unter gewissen Umständen.
546. Es gibt Körper, welche fähig sind, ganz in Farbestoff
verwandelt zu werden, und hier kann man sagen, die
Farbe fixiere sich in sich selbst, beharre auf einer ge-
wissen Stufe und spezifiziere sich. So entstehen Färbe-
materialien aus allen Reichen, deren besonders das vege-
tabilische eine große Menge darbietet, worunter doch
einige sich besonders auszeichnen und als die Stellver-
treter der andern angesehen werden können, wie auf der
aktiven Seite der Krapp, auf der passiven der Indig.
547. Um diese Materialien bedeutend und zum Gebrauch
vorteilhaft zu machen, gehört, daß die färbende Eigen-
schaft in ihnen innig zusammengedrängt und der färbende
Stoff zu einer unendlichen empirischen Teilbarkeit er-
hoben werde, welches auf allerlei Weise und besonders
bei den genannten durch Gärung und Fäulnis hervorge-
bracht wird.
548. Diese materiellen Farbenstoffe fixieren sich nun
wieder an andern Körpern. So werfen sie sich im Mine-
ralreich an Erden und Metallkalke, sie verbinden sich
durch Schmelzung mit Gläsern und erhalten hier bei
durchscheinendem Licht die höchste Schönheit, so wie
man ihnen eine ewige Dauer zuschreiben kann.
549. Vegetabilische und animalische Körper ergreifen sie
mit mehr oder weniger Gewalt und halten daran mehr
oder weniger fest, teils ihrer-Natur nach, wie denn Gelb
vergänglicher ist als Blau, oder nach der Natur der Un-
terlagen. An vegetabilischen dauern sie weniger als an
animalischen, und selbst innerhalb dieser Reiche gibt es
abermals Verschiedenheit. Flachs- oderbaumwoUnes Garn,
Seide oder Wolle zeigen gar verschiedene Verhältnisse zu
den Färbestoffen.
1 7 o DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
550. Hier tritt nun die wichtige Lehre von den Beizen
hervor, welche als Vermittler zwischen der Farbe und
dem Körper angesehen werden können. Die Färbebücher
sprechen hievon umständlich. Uns sei genug, dahin ge-
deutet zu haben, daß durch diese Operationen die Farbe
eine nur mit dem Körper zu verwüstende Dauer erhält,
ja sogar durch den Gebrauch an Klarheit und Schönheit
wachsen kann.
XLIV. Mischung. Reale
551. Eine jede Mischung setzt eine Spezifikation voraus,
und wir sind daher, wenn wir von Mischung reden, im
atomistischen Felde. Man muß erst gewisse Körper auf
irgendeinem Punkte des Farbenkreises spezifiziert vor sich
sehen, ehe man durch Mischung derselben neue Schat-
tierungen hervorbringen will.
552. Man nehme im allgemeinen Gelb, Blau und Rot
als reine, als Grundfarben fertig an. Rot und Blau wird
Violett, Rot und Gelb Orange, Gelb und Blau Grün her-
vorbringen.
553. Man hat sich sehr bemüht, durch Zahl-, Maß- und
Gewichtsverhältnisse diese Mischungen näher zu be-
stimmen, hat aber dadurch wenig Ersprießliches ge-
leistet.
554. Die Malerei beruht eigentlich auf der Mischimg
solcher spezifizierten, ja individualisierten Farbenkörper
und ihrer unendlichen möglichen Verbindungen, welche
allein durch das zarteste, geübteste Auge empfunden und
unter dessen Urteil bewirkt werden können.
555. Die innige Verbindung dieser Mischungen geschieht
durch die reinste Teilung der Kör;)er durch Reiben,
Schlemmen usw., nicht weniger durch Säfte, welche das
Staubartige zusammenhalten und das Unorganische gleich-
sam organisch verbinden; dergleichen sind die Öle, Harze
usw.
556. Sämtliche Farben zusammengemischt behalten ihren
allgemeinen Charakter als a/ueQÖr, und da sie nicht mehr
nebeneinander gesehen werden, wird keine Totalität, keine
III. CHEMISCHE FARBEN 1 7 1
Harmonie empfanden, und so entsteht das Grau, das, wie
die sichtbare Farbe, immer etwas dunkler als Weiß und
immer etwas heller als Schwarz erscheint.
557. Dieses Grau kann auf verschiedene Weise hervor-
gebracht werden. Einmal, wenn man aus Gelb und Blau
ein Smaragdgrün mischt und alsdann so viel reines Rot
hinzubringt, bis sich alle drei gleichsam neutralisiert ha-
ben. Ferner entsteht gleichfalls ein Grau, wenn man
eine Skala der ursprünglichen und abgeleiteten Farben
in einer gewissen Proportion zusammenstellt und hernach
vermischt.
558. Daß alle Farben zusammengemischt Weiß machen,
ist eine Absurdität, die man nebst andern Absurditäten
schon ein Jahrhundert gläubig und dem Augenschein ent-
gegen zu wiederholen gewohnt ist.
559. Die zusammengemischten Farben tragen ihr Dunk-
les in die Mischung über. Je dunkler die Farben sind,
desto dunkler wird das entstehende Grau, welches zu-
letzt sich dem Schwarzen nähert. Je heller die Farben
sind, desto heller wird das Grau, welches zuletzt sich
dem Weißen nähert.
XLV. Mischung. Schembare
560. Die scheinbare Mischung wird hier um so mehr
gleich mit abgehandelt, als sie in manchem Sinne von
großer Bedeutung ist und man sogar die von uns als real
angegebene Mischung für scheinbar halten könnte. Denn
die Elemente, woraus die zusammengesetzte Farbe ent-
sprungen ist, sind nur zu klein, um einzeln gesehen zu
werden. Gelbes und blaues Pulver zusammengerieben
erscheint dem nackten Auge grün, wenn man durch ein
Vergrößerungsglas noch Gelb -und Blau voneinander ab-
gesondert bemerken kann. So machen auch gelbe und
blaue Streifen in der Entfernung eine grüne Fläche, wel-
ches alles auch von der Vermischung der übrigen spezi-
fizierten Farben gilt.
561. Unter dem Apparat wird künftig auch das Schwung-
rad abgehandelt werden, auf welchem die scheinbare
1 7 2 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Mischung durch Schnelligkeit hervorgebracht wird. Auf
einer Scheibe bringt man verschiedene Farben im Kreise
nebeneinander an, dreht dieselben durch die Gewalt des
Schwunges mit größter Schnelligkeit herum und kann so,
wenn man mehrere Scheiben zubereitet, alle möghchen
Mischungen vor Augen stellen, so wie zuletzt auch die
Mischung aller Farben zum Grau naturgemäß auf oben
angezeigte Weise.
562. Physiologische Farben nehmen gleichfalls Mischung
an. Wenn man z. B. den blauen Schatten (65) auf einem
leicht gelben Papiere hervorbringt, so erscheint derselbe
grün. Ein gleiches gilt von den übrigen Farben, wenn
man die Vorrichtung darnach zu machen weiß.
563. Wenn man die im Auge verweilenden farbigen
Scheinbilder (39 ff.) auf farbige Flächen führt, so ent-
steht auch eine Mischung und Determination des Bil-
des zu einer andern Farbe, die sich aus beiden her-
schreibt,
564. Physische Farben stellen gleichfalls eine Mischung
dar, Hieher gehören die Versuche, wenn man bunte Bil-
der durchs Prisma sieht, wie wir solches oben (258 — 284)
umständlich angegeben haben.
565. Am meisten aber machten sich die Physiker mit
jenen Erscheinungen zu tun, welche entstehen, wenn man
die prismatischen Farben auf gefärbte Flächen wirft.
566. Das, was man dabei gewahr wird, ist sehr einfach.
Erstlich muß man bedenken, daß die prismatischen Far-
ben viel lebhafter sind als die Farben der Fläche, wor-
auf man sie fallen läßt. Zweitens kommt in Betracht, daß
die prismatische Farbe entweder homogen mit der Fläche
oder heterogen sein kann. Im ersten Fall erhöht und
verherrlicht sie solche und wird dadurch verherrlicht, wie
der farbige Stein durch eine gleichgefärbte Folie. Im
entgegengesetzten Falle beschmutzt, stört und zerstört
eine die andere.
567. Man kann diese Versuche durch farbige Gläser wie-
derholen und das Sonnenlicht durch dieselben auf far-
bige Flächen fallen lassen, und durchaus werden ähnliche
Resultate erscheinea
III. CHEMISCHE FARBEN 173
568. Ein gleiches wird bewirkt, wenn der Beobachter
durch farbige Gläser nach gefärbten Gegenständen hin-
sieht, deren Farben sodann nach Beschaffenheit erhöht;
erniedrigt oder aufgehoben werden.
569. Läßt man die prismatischen Farben durch farbige
Gläser durchgehen, so treten die Erscheinungen völlig
analog hervor, wobei mehr oder weniger Energie, mehr
oder weniger Helle und Dunkle, Klarheit und Reinheit
des Glases in Betracht kommt und manchen zarten Un-
terschied hervorbringt, wie jeder genaue Beobachter wird
bemerken können, der diese Phänomene durchzuarbeiten
Lust und Geduld hat.
570. So ist es auch wohl kaum nötig zu erwähnen, daß
mehrere farbige Gläser übereinander, nicht weniger öl-
getränkte, durchscheinende Papiere alle und jede Arten
von Mischung hervorbringen und dem Auge nach Be-
lieben des Experimentierenden darstellen.
571. Schließlich gehören hieher die Lasuren der Maler,
wodurch eine viel geistigere Mischimg entsteht, als durch
die mechanisch- atomistische, deren sie sich gewöhnlich
bedienen, hervotgebracht werden kann.
XLVL Mitteilung^ wirkliche
572. Wenn wir nunmehr auf gedachte Weise uns Farbe-
materialien verschafft haben, so entsteht ferner die Frage,
wie wir solche farblosen Körpern mitteilen können, deren
Beantwortung für das Leben, den Gebrauch, die Be-
nutzung, die Technik von der größten Bedeutung ist.
573. Hier kommt abermals die dunkle Eigenschaft einer
jeden Farbe zur Sprache. Von dem Gelben, das ganz
nah am Weißen liegt, durchs Orange und Mennigfarbe
zum Reinroten und Karmin, durch alle Abstufungen des
Violetten bis in das satteste Blau, das ganz am Schwar-
zen liegt, nimmt die Farbe immer an Dunkelheit zu. Das
Blaue, einmal spezifiziert, läßt sich verdünnen, erhellen,
mit dem Gelben verbinden, wodurch es Grün wird und
sich nach der Lichtseite hinzieht. Keinesweges geschieht
dies aber seiner Natur nach.
1 7 4 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
574. Bei den physiologischen Farben haben wir schon
gesehen, daß sie ein Minus sind als das Licht, indem sie
beim Abklingen des Lichteindrucks entstehen, ja zuletzt
diesen Eindruck ganz als ein Dunkles zurücklassen. Bei
physischen Versuchen belehrt uns schon der Gebrauch
trüber Mittel, die Wirkung trüber Nebenbilder, daß hier
von einem gedämpften Lichte, von einem Übergang ins
Dunkle die Rede sei.
575. Bei der chemischen Entstehung der Pigmente wer-
den wir dasselbe bei der ersten Erregung gewahr. Der
gelbe Hauch, der sich über den Stahl zieht, verdunkelt
schon die glänzende Oberfläche. Bei der Verwandlung
des Bleiweißes in Massikot ist es deutlich, daß das Gelbe
dunkler als Weiß sei.
576. Diese Operation ist von der größten Zartheit und
so auch die Steigerung, welche immer fortwächst, die
Körper, welche bearbeitet werden, immer inniger und
kräftiger färbt und so auf die größte Feinheit der beban-
delten Teile, auf imendliche Teilbarkeit hinweist.
577. Mit den Farben, welche sich gegen das Dunkle hin-
begeben und folglich besonders mit dem Blauen können
wir ganz an das Schwarze hinanrücken; wie uns denn ein
recht vollkommnes Berlinerblau, ein durch Vitriolsäure
behandelter Indig fast als Schwarz erscheint.
578. Hier ist es nun der Ort, einer merkwürdigen Er-
scheinung zu gedenken, daß nämlich Pigmente in ihrem
höchst gesättigten und gedrängten Zustande, besonders
aus dem Pflanzenreiche, als erstgedachter Indig oder auf
seine höchste Stufe geführter Krapp, ihre Farbe nicht mehr
zeigen; vielmehr erscheint auf ihrer Oberfläche ein ent-
schiedener Metallglanz, in welchem die physiologisch ge-
forderte Farbe spielt.
579. Schon jeder gute Indig zeigt eine Kupferfarbe auf
dem Bruch, welches im Handel ein Kennzeichen aus-
macht. Der durch Schwefelsäure bearbeitete aber, wenn
man ihn dick aufstreicht oder eintrocknet, so daß weder
das weiße Papier noch die Porzellanschale durchwirken
kann, läßt eine Farbe sehen, die dem Orange nah kommt.
580. Die hochpurpurfarbne spanische Schminke, wahr-
III. CHEMISCHE FARBEN 1 7 5
scheinlich aus Krapp bereitet, zeigt auf der Oberfläche
einen voUkommnen grünen Metallglanz. Streicht man
beide Farben, die blaue und rote, mit einem Pinsel auf
Porzellan oder Papier auseinander, so hat man sie wie-
der in ihrer Natur, indem das Helle der Unterlage durch
sie hindurchscheint.
581. Farbige Liquoren erscheinen schwarz, wenn kein
Licht durch sie hindurchfällt, wie man sich in parallel-
epipedischen Blechgefäßen mit Glasboden sehr leicht über-
zeugen kann. In einem solchen wird jede durchsichtige
farbige Infusion, wenn man einen schwarzen Grund unter-
legt, schwarz und farblos erscheinen.
582. Macht man die Vorrichtung, daß das Bild einer
Flamme von der untern Fläche zurückstrahlen kann, so
erscheint diese gefärbt. Hebt man das Gefäß in die Höhe
und läßt das Licht auf druntergehaltenes weißes Papier
fallen, so erscheint die Farbe auf diesem. Jede helle Un-
terlage, durch ein solches gefärbtes Mittel gesehen, zeigt
die Farbe desselben.
583. Jede Farbe also, um gesehen zu werden, muß ein
Licht im Hinterhalte haben. Daher kommt es, daß, je
heller und glänzender die Unterlagen sind, desto schöner
erscheinen die Farben. Zieht man Lackfarben auf einen
metallisch glänzenden weißen Grund, wie unsre soge-
nannten Folien verfertigt werden, so zeigt sich die Herr-
lichkeit der Farbe bei diesem zurückwirkenden Licht so
sehr als bei irgendeinem prismatischen Versuche. Ja die
Energie der physischen Farben beruht hauptsächlich dar-
auf, daß mit und hinter ihnen das Licht immerfort wirk-
sam ist.
584. Lichtenberg, der zwar seiner Zeit und Lage nach
der hergebrachten Vorstellung folgen mußte, war doch
ein zu guter Beobachter und zu geistreich, als daß er das,
was ihm vor Augen erschien, nicht hätte bemerken und
nach seiner Weise erklären und zurechtlegen sollen. Er
sagt in der Vorrede zu Delaval: "Auch scheint es mir
aus andern Gründen . . . wahrscheinlich, daß unser Organ,
um eine Farbe zu empfinden, etwas von allem Licht
(weißes) zugleich mit empfinden müsse."
1 7 6 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
585. Sich weiße Unterlagen zu verschaffen, ist das
Hauptgeschäft des Färbers. Farblosen Erden, besonders
dem Alaun, kann jede spezifizierte Farbe leicht mitge-
teilt werden. Besonders aber hat der Färber mit Pro-
dukten der animalischen und der Pflanzenorganisation zu
schaffen.
586. Alles Lebendige strebt zur Farbe, zum Besondern,
zur Spezifikation, zum Effekt, zur Undurchsichtigkeit bis
ins Unendlichfeine. Alles Abgelebte zieht sich nach dem
Weißen, zur Abstraktion, zur Allgemeinheit, zur Verklä-
rung, zur Durchsichtigkeit.
587. Wie dieses durch Technik bewirkt werde, ist in
dem Kapitel von Entziehung der Farbe anzudeuten. Hier
bei der Mitteilung haben wir vorzüglich zu bedenken,
daß Tiere und Vegetabilien im lebendigen Zustande Farbe
an ihnen hervorbringen und solche daher, wenn sie ihnen
völlig entzogen ist, um desto leichter wieder in sich auf-
nehmen.
XLVII. Mitteilung^ scheinbare
588. Die Mitteilung trifft, wie man leicht sehen kann,
mit der Mischung zusammen, sowohl die wahre als die
scheinbare. Wir wiederholen deswegen nicht, was oben
so viel als nötig ausgeführt worden.
589. Doch bemerken wir gegenwärtig umständlicher die
Wichtigkeit einer scheinbaren Mitteilung, welche durch
den Widerschein geschieht. Es ist dieses zwar sehr be-
kannte, doch immer ahndungsvolle Phänomen dem Phy-
siker wie dem Maler von der größten Bedeutung.
590. Man nehme eine jede spezifizierte farbige Fläche,
man stelle sie in die Sonne und lasse den Widerschein
auf andre, farblose Gegenstände fallen. Dieser Widerschein
ist eine Art gemäßigten Lichts, ein Halblicht, ein Halb-
schatten, der außer seiner gedämpften Natur die spezi-
fische Farbe der Fläche mit abspiegelt.
591. Wirkt dieser Widerschein auf lichte Flächen, so
wird er aufgehoben, und man bemerkt die Farbe wenig,
die er mit sich bringt. Wirkt er aber auf Schattenstellen,
so zeigt sich eine gleichsam magische Verbindung mit
III. CHEMISCHE FARBEN 177
dem a/uEQ([i. Der Schatten ist das eigentliche Element
der Farbe, und hier tritt zu demselben eine schattige
Farbe beleuchtend, färbend und belebend, und so ent-
steht eine ebenso mächtige als angenehme Erscheinung,
welche dem Maler, der sie zu benutzen weiß, die herr-
lichsten Dienste leistet. Hier sind die Vorbilder der so-
genannten Reflexe, die in der Geschichte der Kunst erst
später bemerkt werden, und die man seltner als billig
in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit anzuwenden gewußt
hat.
592. Die Scholastiker nannten diese Farben colores no-
tionales und intentionales; wie uns denn überhaupt die
Geschichte zeigen wird, daß jene Schule die Phänomene
schon gut genug beachtete, auch sie gehörig zu sondern
wußte, wennschon die ganze Behandlungsart solcher
Gegenstände von der imsrigen sehr verschieden ist.
XLVIII. Entziehung
593. Den Körpern werden auf mancherlei Weise die
Farben entzogen, sie mögen dieselben von Natur be-
sitzen oder wir mögen ihnen solche mitgeteilt haben. Wir
sind daher imstande, ihnen zu unserm Vorteil zweck-
mäßig die Farbe zu nehmen, aber sie entflieht auch oft
zu unserm Nachteil gegen unsern Willen.
594. Nicht allein die Grunderden sind in ihrem natür-
lichen Zustande weiß, sondern auch vegetabilische und
animalische Stoffe können, ohne daß ihr Gewebe zerstört
wird, in einen weißen Zustand versetzt werden. Da uns
nun zu mancherlei Gebrauch ein reinliches Weiß höchst
nötig und angenehm ist, wie wir uns besonders gern der
leinenen und baumwollenen Zeuge ungefärbt bedienen,
auch seidene Zeuge, das Papier und anderes uns desto
angenehmer sind, je weißer sie gefunden werden, weil
auch ferner, wie wir oben gesehen, das Hauptfundament
der ganzen Färberei weiße Unterlagen sind: so hat sich
die Technik, teils zufällig, teils mit Nachdenken, auf das
Entziehen der Farbe aus diesen Stoffen so emsig gewor-
fen, daß man hierüber unzählige Versuche gemacht und
gar manches Bedeutende entdeckt hat.
GOETHE XVII 12.
1 7 8 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
595. In dieser völligen Entziehung der Farbe Hegt ei-
gentlich die Beschäftigung der Bleichkunst, welche von
mehreren empirischer oder methodischer abgehandelt
worden. Wir geben die Hauptmomente hier nur kürz-
lich an.
596. Das Licht wird als eines der ersten Mittel, die
Farbe den Körpern zu entziehen, angesehen, und zwar
nicht allein das Sonnenlicht, sondern das bloße gewalt-
lose Tageslicht. Denn wie beide Lichter, sowohl das di-
rekte von der Sonne als auch das abgeleitete Himmels-
licht, die Bononischen Phosphoren entzünden, so wirken
auch beide Lichter auf gefärbte Flächen. Es sei nun, daß
das Licht die ihm verwandte Farbe ergreife, sie, die so-
viel Flammenartiges hat, gleichsam entzünde, verbrenne
und das an ihr Spezifizierte wieder in ein Allgemeines
auflöse oder daß eine andre, uns unbekannte Operation
geschehe: genug, das Licht übt eine große Gewalt gegen
farbige Flächen aus und bleicht sie mehr oder weniger.
Doch zeigen auch hier die verschiedenen Farben eine
verschiedene Zerstörlichkeit und Dauer, wie denn das
Gelbe, besonders das aus gewissen Stoffen bereitete, hier
zuerst davonfliegt.
597. Aber nicht allein das Licht, sondern auch die Luft
und besonders das Wasser wirken gewaltig auf die Ent-
ziehung der Farbe. Man will sogar bemerkt haben, daß
wohlbefeuchtete, bei Nacht auf dem Rasen ausgebreitete
Garne besser bleichen als solche, welche, gleichfalls wohl-
befeuchtet, dem Sonnenlicht ausgesetzt werden. Und so
mag sich denn freilich das Wasser auch hier als ein Auf-
lösendes, Vermittlendes, das Zufällige Aufhebendes und
das Besondre insAllgeraeineZurückführendes beweisen.
598. Durch Reagenzien wird auch eine solche Entziehung
bewirkt. Der Weingeist hat eine besondre Neigung, das-
jenige, was die Pflanzen färbt, an sich zu ziehen und sich
damit, oft auf eine sehr beständige Weise, zu färben. Die
Schwefelsäure zeigt sich, besonders gegen Wolle und Seide,
als farbentziehend sehr wirksam, und wem ist nicht der
Gebrauch des Schwefeldampfes da bekannt, wo man etwas
vergilbtes oder beflecktes Weiß herzustellen gedenkt!
111. CHEMISCHE FARBEN 179
599. Die stärksten Säuren sind in der neuren Zeit als
kürzere Bleichmittel angeraten worden.
600. Ebenso wirken im Gegensinne die alkalischen Rea-
genzien, die Laugen an sich, die zu Seife mit Lauge ver-
bundenen Öle und Fettigkeiten usw., wie dieses alles in
den ausdrücklich zu diesem Zwecke verfaßten Schriften
umständlich gefunden wird.
601. Übrigens möchte es wohl der Mühe wert sein, ge-
wisse zarte Versuche zu machen, inwiefern Licht und
Luft auf das Entziehen der Farbe ihre Tätigkeit äußern.
Man könnte vielleicht unter luftleeren, mit gemeiner Luft
oder besondern Luftarten gefüllten Glocken solche Farb-
stoffe dem Licht aussetzen, deren Flüchtigkeit man kennt,
und beobachten, ob sich nicht an das Glas wieder etwas
von der verflüchtigten Farbe ansetzte oder sonst ein Nie-
derschlag sich zeigte und ob alsdann dieses Wiederer-
scheinende dem Unsichtbargewordnen völlig gleich sei
oder ob es eine Veränderung erlitten habe. Geschickte
Experimentatoren ersinnen sich hierzu wohl mancherlei
Vorrichtungen.
602. Wenn wir nun also zuerst die Naturwirkungen be-
trachtet haben, wie wir sie zu unsern Absichten anwen-
den, so ist noch einiges zu sagen von dem, wie sie feind-
lich gegen uns wirken.
603. Die Malerei ist in dem Falle, daß sie die schönsten
Arbeiten des Geistes und der Mühe durch die Zeit auf
mancherlei Weise zerstört sieht. — Man hat daher sich im-
mer viel Mühe gegeben, dauernde Pigmente zu finden
und sie auf eine Weise unter sich sowie mit der Unter-
lage zu vereinigen, daß ihre Dauer dadurch noch mehr
gesichert werde, wie uns hiervon die Technik der Maler-
schulen genugsam unterrichten kann.
604. Auch ist hier der Platz, einer Halbkunst zu ge-
denken, welcher wir in Absicht auf Färberei sehr vieles
schuldig sind: ich meine die Tapetenwirkerei. Indem man
nämhch in den Fall kam, die zartesten Schattierungen
der Gemälde nachzuahmen und daher die verschiedenst
gefärbten Stoffe oft nebeneinander zu bringen, so be-
merkte man bald, daß die Farben nicht alle gleich dauer-
1 8o DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
haft waren, sondern die eine eher als die andre dem ge-
wobenen Bilde entzogen wurde. Es entsprang daher das
eifrigste Bestreben, den sämtlichen Farben imd Schattie-
rungen eine gleiche Dauer zu versichern, welches beson-
ders in Frankreich unter Colbert geschah, dessen Ver-
fügungen über diesen Punkt in der Geschichte der Färbe-
kunst Epoche machen. Die sogenannte Schönfärberei,
welche sich nur zu einer vergänglichen Anmut verpflich-
tete, ward eine besondre Gilde; mit desto größerm Ernst
hingegen suchte man diejenige Technik, welche für die
Dauer stehn sollte, zu begründen.
So wären wir bei Betrachtung des Entziehens, der Flüch-
tigkeit und Vergänglichkeit glänzender Farbenerschei-
nungen wieder auf die Forderung der Dauer zurückge-
kehrt und hätten auch in diesem Sinne unsern Kreis
abermals abgeschlossen.
XLIX. Nomenklatur
605. Nach dem, was wir bisher von dem Entstehen, dem
Fortschreiten und der Verwandtschaft der Farben ausge-
führt, wird sich besser übersehen lassen, welche Nomen-
klatur künftig wünschenswert wäre und was von der bis-
herigen zu halten sei.
606. Die Nomenklatur der Farben ging wie alle Nomen-
klaturen, besonders aber diejenigen, welche sinnliche
Gegenstände bezeichnen, vom Besondem aus ins Allge-
meine und vom Allgemeinen wieder zurück ins Besondre.
Der Name der Spezies ward ein Geschlechtsname, dem
sich wieder das Einzelne unterordnete.
607. Dieser Weg konnte bei der Beweglichkeit und Un-
bestimmtheit des frühem Sprachgebrauchs zurückgelegt
werden, besonders da man in den ersten Zeiten sich auf
ein lebhafteres sinnliches Anschauen verlassen durfte.
Man bezeichnete die Eigenschaften der Gegenstände un-
bestimmt, weil sie jedermann deutlich in der Imagination
festhielt.
608. Der reine Farbenkreis war zwar enge, er schien
aber an unzähligen Gegenständen spezifiziert xind indivi-
m. CHEMISCHE FARBEN i8i
dualisiert und mit Nebenbestimmungen bedingt. Man
sehe die Mannigfaltigkeit der griechischen und römi-
schen Ausdrücke . . ., und man wird mit Vergnügen dabei
gewahr werden, wie beweglich und läßlich die Worte
beinahe durch den ganzen Farbenkreis herum gebraucht
worden.
609. In späteren Zeiten trat durch die mannigfaltigen
Operationen der Färbekunst manche neue Schattierung
ein. Selbst die Modefarben und ihre Benennungen stell-
ten ein unendliches Heer von Farbenindividualitäten dar.
Auch die Farbenterminologie der neuern Sprachen wer-
den wir gelegentlich aufführen, wobei sich denn zeigen
wird, daß man immer auf genauere Bestimmungen aus-
gegangen und ein Fixiertes, Spezifiziertes auch durch die
Sprache festzuhalten und zu vereinzelnen gesucht hat.
610. Was die deutsche Terminologie betrifft, so hat sie
den Vorteil, daß wir vier einsilbige, an ihren Ursprung
nicht mehr erinnernde Namen besitzen, nämlich Gelb,
Blau, Rot, Grün. Sie stellen nur das Allgemeinste der
Farbe der Einbildungskraft dar, ohne auf etwas Spezifi-
sches hinzudeuten.
611. Wollten wir in jeden Zwischenraum zwischen diesen
vieren noch zwei Bestimmungen setzen, als Rotgelb und
Gelbrot, Rotblau und Blaurot, Gelbgrün und Grüngelb,
Blaugrün und Grünblau, so würden wir die Schattierun-
gen des Farbenkreises bestimmt genug ausdrücken, und
wenn wir die Bezeichnungen von Hell und Dunkel hin-
zufügen wollten, ingleichen die Beschmutzungen einiger-
maßen andeuten, wozu uns die gleichfalls einsilbigen
Worte Schwarz, Weiß, Grau und Braun zu Diensten ste-
hen, so würden wir ziemlich auslangen und die vorkom-
menden Erscheinungen ausdrücken, ohne uns zu beküm-
mern, ob sie auf dynamischem oder atomistischem Wege
entstanden sind.
6x2. Man könnte jedoch immer hiebei die spezifischen
und individuellen Ausdrücke vorteilhaft benutzen, so wie
wir uns auch des Worts Orange und Violett bedienten.
.Ingleichen haben wir das Wort Purpur gebraucht, um das
reine, in der Mitte stehende Rot zu bezeichnen, weil der
1 8 2 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Saft der Purpurschnecke, besonders wenn er feine Lein-
wand durchdrungen hat, vorzüglich durch das Sonnen-
licht zu dem höchsten Punkte der Kulmination zu brin-
gen ist.
L. Mineralien
613. Die Farben der Mineralien sind alle chemischer
Natur, und so kann ihre Entstehungsweise aus dem, was
wir von den chemischen Farben gesagt haben, ziemlich
entwickelt werden.
614. Die Farbenbenennungen stehen unter den äußern
Kennzeichen obenan, und man hat sich im Sinne der
neuern Zeit große Mühe gegeben, jede vorkommende Er-
scheinung genau zu bestimmen und festzuhalten; man hat
aber dadurch, wie uns dünkt, neue Schwierigkeiten er-
regt, welche beim Gebrauch manche Unbequemlichkeit
veranlassen.
615. Freilich führt auch dieses, sobald man bedenkt, wie
die Sache entstanden, seine Entschuldigung mit sich.
Der Maler hatte von jeher das Vorrecht, die Farbe zu
handhaben. Die wenigen spezifizierten Farben standen
fest, und dennoch kamen durch künstliche Mischungen
unzählige Schattierungen hervor, welche die Oberfläche
der natürlichen Gegenstände nachahmten. War es daher
ein Wunder, wenn man auch diesen Mischungsweg ein-
schlug und den Künstler aufrief, gefärbte Musterflächen
aufzustellen, nach denen man die natürlichen Gegenstände
beurteilen und bezeichnen könnte.* Man fragte nicht: wie
geht die Natur zu Werke, um diese und jene Farbe auf
ihrem Innern lebendigen Wege hervorzubringen? sondern:
wie belebt der Maler das Tote, um ein dem Lebendigen
ähnliches Scheinbild darzustellen? Man ging also immer
von Mischung aus und kehrte auf Mischung zurück, so
daß man zuletzt das Gemischte wieder zu mischen vor-
nahm, um einige sonderbare Spezifikationen und Indivi-
dualisationen auszudrücken und zu unterscheiden.
616. Übrigens läßt sich bei der gedachten eingeführten
mineralischen Farbenterminologie noch manches erinnern. .
Man hat nämlich die Benennunsfen nicht, wie es doch
III. CHEMISCHE FARBEN 183
meistens möglich gewesen wäre, aus dem Mineralreich,
sondern von allerlei sichtbaren Gegenständen genommen,
da man doch mit größerem Vorteil auf eigenem Grund und
Boden hätte bleiben können. Femer hat man zu viel ein-
zelne spezifische Ausdrücke aufgenommen und, indem
man durch Vermischung dieser Spezifikationen wieder
neue Bestimmungen hervorzubringen suchte, nicht be-
dacht, daß man dadurch vor der Imagination das Bild
und vor dem Verstand den Begriff völlig aufhebe. Zu-
letzt stehen denn auch diese gewissermaßen als Grund-
bestimmungen gebrauchten einzelnen Farbenbenennungen
nicht in der besten Ordnung, wie sie etwa voneinander
sich ableiten, daher denn der Schüler jede Bestimmung
einzeln lernen und sich ein beinahe totes Positives ein-
prägen muß. Die weitere Ausführung dieses Angedeu-
teten stünde hier nicht am rechten Orte.
LI. Pflanzen
617. Man kann die Farben organischer Körper über-
haupt als eine höhere chemische Operation ansehen, wes-
wegen sie auch die Alten durch das Wort "Kochung"
(^reipig) ausgedrückt haben. Alle Elementarfarben sowohl
als die gemischten und abgeleiteten kommen auf der Ober-
fläche organischer Naturen vor, dahingegen das Innere,
man kann nicht sagen unfärbig, doch eigentlich mißfärbig
erscheint, wenn es zutage gebracht wird. Da wir bald an
einem andern Orte von unsern Ansichten über organische
Natur einiges mitzuteilen denken, so stehe nur dasjenige
hier, was früher mit der Farbenlehre in Verbindung ge-
bracht war, indessen wir zu jenen besondern Zwecken
das Weitere vorbereiten. Von den Pflanzen sei also zu-
erst gesprochen.
618. Die Samen, Bulben, Wurzeln, und was überhaupt
vom Lichte ausgeschlossen ist oder unmittelbar von
der Erde sich umgeben befindet, zeigt sich meistenteils
weiß.
619. Die im Finstern aus Samen erzogenen Pflanzen
sind weiß oder ins Gelbe ziehend. Das Licht hingegen.
1 8 4 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
indem es auf ihre Farben wirkt, wirkt zugleich auf ihre
Form.
620. Die Pflanzen, die im Finstern wachsen, setzen sich
von Knoten zu Knoten zwar lange fort, aber die Stengel
zwischen zwei Knoten sind länger als billig; keine Seiten-
zweige werden erzeugt, und die Metamorphose der Pflan-
zen hat nicht statt.
621. Das Licht versetzt sie dagegen sogleich in einen
tätigen Zustand: die Pflanze erscheint grün, und der Gang
der Metamorphose bis zur Begattung geht unaufhaltsam
fort.
622. Wir wissen, daß die Stengelblätter nur Vorberei-
tungen und Vorbedeutungen auf die Blumen- und Frucht-
werkzeuge sind, und so kann man in den Stengelblättern
schon Farben sehen, die von weiten auf die Blume hin-
deuten, wie bei den Amaranten der Fall ist.
623. Es gibt weiße Blumen, deren Blätter sich zur größ-
ten Reinheit durchgearbeitet haben, aber auch farbige,
in denen die schöne Elementarerscheinung hin- und wie-
derspielt. Es gibt deren, die sich nur teilweise vom
Grünen auf eine höhere Stufe losgearbeitet haben.
624. Blumen einerlei Geschlechts, ja einerlei Art finden
sich von allen Farben. Rosen und besonders Malven
z. B. gehen einen großen Teil des Farbenkreises durch,
vom Weißen ins Gelbe, sodann durch das Rotgelbe in
den Purpur und von da in das Dunkelste, was der Pur-
pur, indem er sich dem Blauen nähert, ergreifen kann.
625. Andere fangen schon auf einer höhern Stufe an, wie
z. B. die Mohne, welche von dem Gelbroten ausgehen
und sich in das Violette hinüberziehen.
626. Doch sind auch Farben bei Arten, Gattungen, ja
Familien und Klassen, wo nicht beständig, doch herr-
schend, besonders die gelbe Farbe; die blaue ist über-
haupt seltner.
627. Bei den saftigen Hüllen der Frucht geht etwas Ähn-
liches vor, indem sie sich von der grünen Farbe durch
das Gelbliche und Gelbe bis zu dem höchsten Rot er-
höhen, wobei die Farbe der Schale die Stufen der Reife
andeutet. Einige sind ringsum gefärbt, einige nur an der
III. CHEMISCHE FARBEN 185
Sonnenseite, in welchem letzten Falle man die Steige-
rung des Gelben ins Rote durch größere An- und Über-
einanderdrängung sehr wohl beobachten kann.
628. Auch sind mehrere Früchte innerlich gefärbt, be-
sonders sind purpurrote Säfte gewöhnlich.
629. Wie die Farbe sowohl oberflächlich auf der Blume
als durchdringend in der Frucht sich befindet, so ver-
breitet sie sich auch durch die übrigen Teile, indem sie
die Wurzeln und die Säfte der Stengel färbt, und zwar
mit sehr reicher und mächtiger Farbe.
630. So geht auch die Farbe des Holzes vom Gelben
durch die verschiedenen Stufen des Roten bis ins Pur-
purfarbene und Braune hinüber. Blaue Hölzer sind mir
nicht bekannt, und so zeigt sich schon auf dieser Stufe
der Organisation die aktive Seite mächtig, wenn in dem
allgemeinen Grün der Pflanzen beide Seiten sich balan-
cieren mögen,
631. Wir haben oben gesehen, daß der aus der Erde
dringende Keim sich mehrenteils weiß und gelblich zeigt,
durch Einwirkung von Licht und Luft aber in die grüne
Farbe übergeht. Ein Ähnliches geschieht bei jungen Blät-
tern der Bäume, wie man z. B. an den Birken sehen kann,
deren junge Blätter gelblich sind und beim Auskochen
einen schönen gelben Saft von sich geben. Nachher
werden sie immer grüner, so wie die Blätter von an-
dern Bäumen nach und nach in das Blaugrüne über-
gehen,
632. So scheint auch das Gelbe wesentlicher den Blät-
tern anzugehören als der blaue Anteil: denn dieser ver-
schwindet im Herbste, imd das Gelbe des Blattes scheint
in eine braune Farbe übergegangen. Noch merkwürdiger
aber sind die besonderen Fälle, da die Blätter im Herbste
wieder rein gelb werden und andre sich bis zu dem höch-
sten Rot hinaufsteigern.
633. Übrigens haben einige Pflanzen die Eigenschaft,
durch künsthche Behandlung fast durchaus in ein Farbe-
material verwandelt zu werden, das so fein, wirksam
und unendlich teilbar ist als irgendein anderes. Bei-
spiele sind der Indigo und Krapp, mit denen so viel
1 86 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
geleistet wird. Auch werden Flechten zum Färben be-
nutzt.
634. Diesem Phänomen steht ein anderes unmittelbar
entgegen, daß man nämlich den färbenden Teil der Pflan-
zen ausziehen und gleichsam besonders darstellen kann,
ohne daß ihre Organisation dadurch etwas zu leiden
scheint. Die Farben der Blumen lassen sich durch Wein-
geist ausziehen und tingieren denselben; die Blumen-
blätter dagegen erscheinen weiß.
635. Es gibt verschiedene Bearbeitungen der Blumen
und ihrer Säfte durch Reagenzien. Dieses hat Boyle in
vielen Experimenten geleistet. Man bleicht die Rosen
durch Schwefel und stellt sie durch andre Säuren wieder
her. Durch Tobaksrauch werden die Rosen grün.
LH. Würmer, Insekten, Fische
636. Von den Tieren, welche auf den niedern Stufen
der Organisation verweilen, sei hier vorläufig folgendes
gesagt. Die Würmer, welche sich in der Erde aufhalten,
der Finsternis und der kalten Feuchtigkeit gewidmet sind,
zeigen sich mißfärbig, die Eingeweidewürmer, von war-
mer Feuchtigkeit im Finstern ausgebrütet und genährt,
unfärbig; zu Bestimmung der Farbe scheint ausdrücklich
Licht zu gehören.
637. Diejenigen Geschöpfe, welche im Wasser wohnen,
welches als ein obgleich sehr dichtes Mittel dennoch hin-
reichendes Licht hindurchläßt, erscheinen mehr oder
weniger gefärbt. Die Zoophyten, welche die reinste Kalk-
erde zu beleben scheinen, sind meistenteils weiß; doch
finden wir die Korallen bis zum schönsten Gelbrot hin-
aufgesteigert, welches in andern Wurmgehäusen sich bis
nahe zum Purpur hinanhebt.
638. Die Gehäuse der Schaltiere sind schön gezeichnet
und gefärbt; doch ist zu bemerken, daß weder die Land-
schnecken noch die Schale der Muscheln des süßen
Wassers mit so hohen Farben geziert sind als die des
Meerwassers.
639. Bei Betrachtung der Muschelschalen, besonders der
m. CHEMISCHE FARBEN 187
gewundenen, bemerken wir, daß zu ihrem Entstehen eine
Versammlung unter sich ähnlicher tierischer Organe sich
wachsend vorwärts bewegte und, indem sie sich um eine
Achse drehten, das Gehäuse durch eine Folge von Rie-
fen, Rändern, Rinnen und Erhöhungen nach einem im-
mer sich vergrößernden Maßstab hervorbrachten. Wir
bemerken aber auch zugleich, daß diesen Organen irgend-
ein mannigfaltig färbender Saft beiwohnen mußte, der die
Oberfläche des Gehäuses, wahrscheinlich durch unmittel-
bare Einwirkung des Meerwassers, mit farbigen Linien,
Punkten, Flecken und Schattierungen epochenweis be-
zeichnete und so die Spuren seines steigenden Wachs-
tums auf der Außenseite dauernd hinterließ, indes die
innere meistens weiß oder nur blaß gefärbt angetroffen
wird.
640. Daß in den Muscheln solche Säfte sich befinden,
zeigt uns die Erfahrung auch außerdem genugsam, indem
sie uns dieselben noch in ihrem flüssigen und färbenden
Zustande darbietet, wovon der Saft des Tintenfisches ein
Zeugnis gibt, ein weit stärkeres aber derjenige Purpur-
saft, welcher in mehreren Schnecken gefunden wird, der
von alters her so berühmt ist und in der neuern Zeit auch
wohl benutzt wird. Es gibt nämlich unter den Eingewei-
den mancher Würmer, welche sich in Schalgehäusen auf-
halten, ein gewisses Gefäß, das mit einem roten Safte
gefüllt ist. Dieser enthält ein sehr stark und dauerhaft
färbendes Wesen, so daß man die ganzen Tiere zerknir-
schen, kochen und aus dieser animalischen Brühe doch
noch eine hinreichend färbende Feuchtigkeit herausneh-
men konnte. Es läßt sich aber dieses farbgefüllte Gefäß
auch von dem Tiere absondern, wodurch denn freilich
ein konzentrierterer Saft gewonnen wird.
641. Dieser Saft hat das Eigene, daß er, dem Licht und
der Luft ausgesetzt, erst gelblich, dann grünhch erscheint,
dann ins Blaue, von da ins Violette übergeht, immer aber
ein höheres Rot annimmt und zuletzt durch Einwirkung
der Sonne, besonders wenn er auf Batist aufgetragen
worden, eine reine hohe rote Farbe annimmt.
642. Wir hätten also hier eine Steigerung von der Minus-
1 8 8 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Seite bis zur Kulmination, die wir bei den unorganischen
Fällen nicht leicht gewahr wurden; ja wir können diese
Erscheinung beinahe ein Durchwandern des ganzen Krei-
ses nennen, und wir sind überzeugt, daß durch gehörige
Versuche wirklich die ganze Durch Wanderung des Krei-
ses bewirkt werden könne: denn es ist wohl kein Zweifel,
daß sich durch wohl angewendete Säuren der Purpur
vom Kulminationspunkte herüber nach dem Scharlach
führen ließe.
643. Diese Feuchtigkeit scheint von der einen Seite mit
der Begattung zusammenzuhängen, ja sogar finden sich
Eier, die Anfänge künftiger Schaltiere, welche ein solches
färbendes Wesen enthalten. Von der andern Seite scheint
aber dieser Saft auf das bei höher stehenden Tieren sich
entwickelnde Blut zu deuten. Denn das Blut läßt uns
ähnhche Eigenschaften der Farbe sehen. In seinem ver-
dünntesten Zustande erscheint es uns gelb, verdichtet,
wie es in den Adern sich befindet, rot, und zwar zeigt
das arterielle Blut ein höheres Rot, wahrscheinlich wegen
der Säurung, die ihm beim Atemholen widerfährt; das
venöse Blut geht mehr nach dem Violetten hin und zeigt
durch diese Beweglichkeit auf jenes uns genugsam be-
kannte Steigern und Wandern.
644. Sprechen wir, ehe wir das Element des Wassers
verlassen, noch einiges von den Fischen, deren schup-
pige Oberfläche zu gewissen Farben öfters teils im Gan-
zen, teils streifig, teils fleckenweis spezifiziert ist, noch
öfter ein gewisses Farbenspiel zeigt, das auf die Ver-
wandtschaft der Schuppen mit den Gehäusen der Schal-
tiere, dem Perlemutter, ja selbst der Perle hinweist. Nicht
zu übergehen ist hierbei, daß heißere Himmelsstriche, auch
schon in das Wasser wirksam, die Farben der Fische her-
vorbringen, verschönern und erhöhen.
645. Auf Otahiti bemerkte Forster Fische, deren Ober-
flächen sehr schön spielten, besonders im Augenblick,
da der Fisch starb. Man erinnre sich hierbei des Cha-
mäleons und andrer ähnlichen Erscheinungen, welche,
dereinst zusammengestellt, diese Wirkungen deutlicher er-
kennen lassen.
IIL CHEMISCHE FARBEN 189
646. Noch zuletzt, obgleich außer der Reihe, ist wohl
noch das Farbenspiel gewisser Mollusken zu erwähnen,
sowie die Phosphoreszenz einiger Seegeschöpfe, welche
sich auch in Farben spielend verlieren soll,
647. Wenden wir nunmehr unsre Betrachtung auf die-
jenigen Geschöpfe, welche dem Licht und der Luft und
der trocknen Wärme angehören, so finden wir uns frei-
lich erst recht im lebendigen Farbenreiche. Hier erschei-
nen uns an trefflich organisierten Teilen die Elementar-
farben in ihrer größten Reinheit und Schönheit. Sie
deuten uns aber doch, daß ebendiese Geschöpfe noch
auf einer niedern Stufe der Organisation stehen, eben
weil diese Elementarfarben noch unverarbeitet bei ihnen
hervortreten können. Auch hier scheint die Hitze viel zu
Ausarbeitung dieser Erscheinung beizutragen.
648. Wir finden Insekten, welche als ganz konzentrierter
FarbenstoflF anzusehen sind, worunter besonders die Kok-
kusarten berühmt sind; wobei wir zu bemerken nicht
unterlassen, daß ihre Weise, sich an Vegetabilien anzu-
siedeln, ja in dieselben hineinzunisten, auch zugleich jene
Auswüchse hervorbringt, welche als Beizen zu Befesti-
gung der Farben so große Dienste leisten.
649. Am auffallendsten aber zeigt sich die Farbengewalt,
verbunden mit regelmäßiger Organisation, an denjenigen
Insekten, welche eine vollkommene Metamorphose zu
ihrer Entwicklung bedürfen, an Käfern, vorzüglich aber
an Schmetterlingen.
650. Diese letztern, die man wahrhafte Ausgeburten des
Lichtes und der Luft nennen könnte, zeigen schon in
ihrem Raupenzustand oft die schönsten Farben, welche,
spezifiziert wie sie sind, auf die künftigen Farben des
Schmetterlings deuten, eine Betrachtung, die, wenn sie
künftig weiter verfolgt wird, gewiß in manches Geheim-
nis der Organisation eine erfreuliche Einsicht gewähren
muß.
651. Wenn wir übrigens die Flügel des Schmetterlings
näher betrachten und in seinem netzartigen Gewebe die
Spuren eines Armes entdecken und ferner die Art, wie
dieser gleichsam verflächte Arm durch zarte Federn be-
1 9 o DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
deckt und zum Organ des Fliegens bestimmt worden, so
glaubt-n wir ein Gesetz gewahr zu werden, wonach sich
die große Mannigtaltiglceit der Färbung richtet, welchej
künftig näher zu entwickeln sein wird.
652. Daß auch überhaupt die Hitze auf Größe des Ge-
schöpfes, auf Ausbildung der Form, auf mehrere Herr-
lichkeit der Farben Einfluß habe, bedarf wohl kaum er-
innert zu werden.
LIII. Vögel
653. Je weiter wir nun uns gegen die höhern Organisa-
tionen bewegen, desto mehr haben wir Ursache, flüchtig
und vorübergehend nur einiges hinzustreuen. Denn alles,
was solchen organischen Wesen natürlich begegnet, ist
eine Wirkung von so vielen Prämissen, daß, ohne die-
selben wenigstens angedeutet zu haben, nur etwas Unzu-
längliches und Gewagtes ausgesprochen wird.
654. Wie wir bei den Pflanzen finden, daß ihr Höheres,
die ausgebildeten Blüten und Früchte auf dem Stamme
gleichsam gewurzelt sind und sich von voUkommneren
Säften nähren, als ihnen die Wurzel zuerst zugebracht
hat, wie wir bemerken, daß die Schmarotzerpflanzen, die
das Organische als ihr Element behandeln, an Kräften
und Eigenschaften sich ganz vorzüglich beweisen: so kön-
nen wir auch die Federn der Vögel in einem gewissen
Sinne mit den Pflanzen vergleichen. Die Federn ent-
springen als ein Letztes aus der Oberfläche eines Kör-
pers, der noch viel nach außen herzugeben hat, und sind
deswegen sehr reich ausgestattete Organe.
655. Die Kiele erwachsen nicht allein verhältnismäßig
zu einer ansehnlichen Größe, sondern sie sind durchaus
geästet, wodurch sie eigentlich zu Federn werden, und
manche dieser Ausästungen, Befiederungen sind wieder
subdividiert, wodurch sie abermals an die Pflanzen er-
innern.
656. Die Federn sind sehr verschieden an Form und
Größe, aber sie bleiben immer dasselbe Organ, das sich
nur nach Beschaffenheit des Körperteiles, aus welchem es
entspringt, bildet und umbildet.
III. CHEMISCHE FARBEN 191
657. Mit der Form verwandelt sich auch die Farbe, und
ein gewisses Gesetz leitet sowohl die allgemeine Fär-
bung als auch die besondre, wie wir sie nennen möch-
ten, diejenige nämlich, wodurch die einzelne Feder
scheckig wird. Dieses ist es, woraus alle Zeichnung des
bunten Gefieders entspringt und woraus zuletzt das Pfauen-
auge hervorgeht. Es ist ein Ähnliches mit jenem, das wir
bei Gelegenheit der Metamorphose der Pflanzen früher
entwickelt und welches darzulegen wir die nächste Ge-
legenheit ergreifen werden.
658. Nötigen uns hier Zeit und Umstände, über dieses
organische Gesetz hinauszugehen, so ist doch hier unsre
Pflicht, der chemischen Wirkungen zu gedenken, welche
sich bei Färbung der Federn auf eine uns nun schon hin-
länglich bekannte Weise zu äußern pflegen.
659. Das Gefieder ist allfarbig, doch im ganzen das
gelbe, das sich zum roten steigert, häufiger als das
blaue.
660. Die Einwirkung des Lichts auf die Federn und ihre
Farben ist durchaus bemerklich. So ist z. B. auf der
Brust gewisser Papageien die Feder eigentlich gelb.
Der schuppenartig hervortretende Teil, den das Licht be-
scheint, ist aus dem Gelben ins Rote gesteigert. So sieht
die Brust eines solchen Tiers hochrot aus; wenn man
aber in die Federn bläst, erscheint das Gelbe.
661. So ist durchaus der unbedeckte Teil der Federn
von dem im ruhigen Zustand bedeckten höchlich unter-
schieden, so daß sogar nur der unbedeckte Teil, z. B.
bei Raben, bunte Farben spielt, der bedeckte aber nicht,
nach welcher Anleitung man die Schwanzfedern, wenn
sie diurcheinander geworfen sind, sogleich wieder zu-
rechtlegen kann.
LIV. Säugetiere und Menschen
662. Hier fangen die Elementarfarben an, uns ganz zu
verlassen. Wir sind auf der höchsten Stufe, auf der wir
nur flüchtig verweilen.
663. Das Säugetier steht überhaupt entschieden auf der
1 9 2 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Lebensseite. Alles, was sich an ihm äußert, ist lebendig.
Von dem Innern sprechen wir nicht, also hier nur einiges
von der Oberfläche, Die Haare unterscheiden sich schon
dadurch von den Federn, daß sie der Haut mehr ange-
hören, daß sie einfach, fadenartig, nicht geästet sind. An
den verschiedenen Teilen des Körpers sind sie aber auch
nach Art der Federn kürzer, länger, zarter und stärker,
farblos oder gefärbt, und dies alles nach Gesetzen, welche
sich aussprechen lassen.
664. Weiß und Schwarz, Gelb, Gelbrot und Braun wech-
seln auf mannigfaltige Weise, doch erscheinen sie niemals
auf eine solche Art, daß sie uns an die Elementarfarben er-
innerten. Sie sind alle vielmehr gemischte, durch organische
Kochung bezwungene Farben und bezeichnen mehr oder
weniger die Stufenhöhe des Wesens, dem sie angehören.
665. Eine von den wichtigsten Betrachtungen der Mor-
phologie, insofern sie Oberflächen beobachtet, ist diese,
daß auch bei den vierfüßigen Tieren die Flecken der
Haut auf die innern Teile, über welche sie gezogen ist,
einen Bezug haben. So willkürlich übrigens die Natur
dem flüchtigen Anblick hier zu wirken scheint, so kon-
sequent wird dennoch ein tiefes Gesetz beobachtet, dessen
Entwicklung und Anwendung freilich nur einer genauen
Sorgfalt und treuen Teilnehmung vorbehalten ist.
666. Wenn bei Affen gewisse nackte Teile bunt, mit
Elementarfarben erscheinen, so zeigt dies die weite Ent-
fernung eines solchen Geschöpfs von der Vollkommen-
heit an: denn man kann sagen, je edler ein Geschöpf ist,
je mehr ist alles Stoffartige in ihm verarbeitet; je wesent-
licher seine Oberfläche mit dem Innern zusammenhängt,
desto weniger können auf derselben Elementarfarben er-
scheinen. Denn da, wo alles ein vollkommenes Ganzes
zusammen ausmachen soll, kann sich nicht hier und da
etwas Spezifisches absondern.
667. Von dem Menschen haben wir wenig zu sagen, denn
er trennt sich ganz von der allgemeinen Naturlehre los,
in der wir jetzt eigentHch wandeln. Auf des Menschen
Inneres ist so viel verwandt, daß seine Oberfläche nur
sparsamer begabt werden konnte.
III. CHEMISCHE FARBEN 193
668. Wenn man nimmt, daß schon unter der Haut die
Tiere mit Interkutanmuskeln mehr belastet als begünstigt
sind, wenn man sieht, daß gar manches Überflüssige nach
außen strebt, wie z. B. die großen Ohren und Schwänze,
nicht weniger die Haare, Mähnen, Zotten: so sieht man
wohl, daß die Natur vieles abzugeben und zu verschwen-
den hatte.
669. Dagegen ist die Oberfläche des Menschen glatt und
rein imd läßt bei den vollkommensten außer wenigen
mit Haar mehr gezierten als bedeckten Stellen die schöne
Form sehen; denn, im Vorbeigehen sei es gesagt: ein
Überfluß der Haare an Brust, Armen, Schenkeln deutet
eher auf Schwäche als auf Stärke; wie denn wahrschein-
lich nur die Poeten, durch den Anlaß einer übrigens star-
ken Tiematur verführt, mitunter solche haarige Helden
zu Ehren gebracht haben.
670. Doch haben wir hauptsächlich an diesem Ort von
der Farbe zu reden. Und so ist die Farbe der mensch-
lichen Haut in allen ihren Abweichungen durchaus keine
Elementarfarbe, sondern eine durch organische Kochung
höchst bearbeitete Erscheinung.
671. Daß die Farbe der Haut und Haare auf einen Unter-
schied der Charaktere deute, ist wohl keine Frage, wie
wir ja schon einen bedeutenden Unterschied an blonden
und braunen Menschen gewahr werden, wodurch wir auf
die Vermutung geleitet worden, daß ein oder das andre
organische System vorwaltend eine solche Verschieden-
heit hervorbringe. Ein gleiches läßt sich wohl auf Natio-
nen anwenden, wobei vielleicht zu bemerken wäre, daß
auch gewisse Farben mit gewissen Bildungen zusammen-
treffen, worauf wir schon durch die Mohrenphysiognomien
aufmerksam geworden.
672. Übrigens wäre wohl hier der Ort, der Zweiflerfrage
zu begegnen, ob denn nicht alle Menschenbildung und
-färbe gleich schön und nur durch Gewohnheit und Eigen-
dünkel eine der andern vorgezogen werde. Wir getrauen
uns aber in Gefolg alles dessen, was bisher vorgekom-
men, zu behaupten, daß der weiße Mensch, d. h. der-
jenige, dessen Oberfläche vom Weißen ins Gelbliche,
GOETHE XVII 13.
1 94 DKR FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Bräunliche, Rötliche spielt, kurz dessen Oberfläche am
gleichgültigsten erscheint, am wenigsten sich zu irgend
etwas Besondrem hinneigt, der schönste sei. Und so wird
auch wohl künftig, wenn von der Form die Rede sein
wird, ein solcher Gipfel menschlicher Gestalt sich vor
das Anschauen bringen lassen; nicht als ob diese alte
Streitfrage hierdurch für immer entschieden sein sollte
(denn es gibt Menschen genug, welche Ursache haben,
diese Deutsamkeit des Äußern in Zweifel zu setzen), son-
dern daß dasjenige ausgesprochen werde, was aus einer
Folge von Beobachtung und Urteil einem Sicherheit und
Beruhigung suchenden Gemüte hervorspringt. Und so fü-
gen wir zum Schluß noch einige auf die elementarchemi-
sche Farbenlehre sich beziehende Betrachtungen bei.
LV. Physische und chemische Wirkungen farbiger
Beleuchtung
673. Die physischen und chemischen Wirkungen farb-
loser Beleuchtung sind bekannt, so daß es hier unnötig
sein dürfte, sie weitläuftig auseinanderzusetzen. Das
farblose Licht zeigt sich unter verschiedenen Bedingun-
gen, als Wärme erregend, als ein Leuchten gewissen
Körpern mitteilend, als auf Säurung und Entsäurung wir-
kend. In der Art und Stärke dieser Wirkungen findet sich
wohl mancher Unterschied, aber keine solche Differenz,
die auf einen Gegensatz hinwiese, wie solche bei farbigen
Beleuchtungen erscheint, wovon wir nunmehr kürzlich
Rechenschaft zu geben gedenken.
674. Von der Wirkung farbiger Beleuchtung als wärme-
erregend wissen wir folgendes zu sagen. An einem sehr
sensiblen, sogenannten Luftthermometer beobachte man
die Temperatur des dunklen Zimmers. Bringt man die
Kugel darauf in das direkt hereinscheinende Sonnenlicht,
so ist nichts natürlicher, als daß die Flüssigkeit einen
viel höhern Grad der Wärme anzeige. Schiebt man als-
dann farbige Gläser vor, so folgt auch ganz natürlich, daß
sich der Wärmegrad vermindre, erstlich weil die Wirkung
des direkten Lichts schon durch das Glas etwas gehindert
III. CHEMISCHE FARBEN 195
ist, sodann aber vorzüglich, weil ein farbiges Glas, als ein
Dunkles, ein wenigeres Licht hindurchläßt.
675. Hiebei zeigt sich aber dem aufmerksamen Beob-
achter ein Unterschied der Wärmerregung, je nachdem
diese oder jene Farbe dem Glase eigen ist. Das gelbe
und gelbrote Glas bringt eine höhere Temperatur als das
blaue und blaurote hervor, und zwar ist der Unterschied
von Bedeutung.
676. Will man diesen Versuch mit dem sogenannten
prismatischen Spektrum anstellen, so bemerke man am
Thermometer erst die Temperatur des Zimmers, lasse
alsdann das blaufärbige Licht auf die Kugel fallen, so
wird ein etwas höherer Wärmegrad angezeigt, welcher
immer wächst, wenn man die übrigen Farben nach und
nach auf die Kugel bringt. In der gelbroten ist die
Temperatur am stärksten, noch stärker aber unter dem
Gelbroten,
Macht man die Vorrichtung mit dem Wasserprisma, so
daß man das weiße Licht in der Mitte vollkommen haben
kann, so ist dieses zwar gebrochne, aber noch nicht ge-
färbte Licht das wärmste; die übrigen Farben verhalten
sich hingegen, wie vorher gesagt.
677. Da es hier nur um Andeutung, nicht aber um Ab-
leitung und Erklärung dieser Phänomene zu tun ist, so
bemerken wir nur im Vorbeigehen, daß sich am Spek-
trum unter dem Roten keinesweges das Licht vollkommen
abschneidet, sondern daß immer noch ein gebrochnes,
von seinem Wege abgelenktes, sich hinter dem prisma-
tischen Farbenbilde gleichsam herschleichendes Licht zu
bemerken ist, so daß man bei näherer Betrachtung wohl
kaum nötig haben wird, zu unsichtbaren Strahlen und
deren Brechung seine Zuflucht zu nehmen.
678. Die Mitteilung des Lichtes durch farbige Beleuch-
tung zeigt dieselbige Difierenz. Den Bononischen Phos-
phoren teilt sich das Licht mit durch blaue und violette
Gläser, keinesweges aber durch gelbe und gelbrote; ja
man will sogar bemerkt haben, daß die Phosphoren, wel-
chen man durch violette und blaue Gläser den Glüh-
schein mitgeteilt, wenn man solche nachher unter die
1 96 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
gelben und gelbroten Scheiben gebracht, früher verlö-
schen als die, welche man im dunklen Zimmer ruhig
liegen läßt.
679. Man kann diese Versuche wie die vorhergehenden
auch durch das prismatische Spektrum machen, und es
zeigen sich immer dieselben Resultate.
680. Von der Wirkung farbiger Beleuchtung auf Säurung
und Entsäurung kann man sich folgendermaßen unter-
richten. Man streiche feuchtes, ganz weißes Hornsilber
auf einen Papierstreifen, man lege ihn ins Licht, daß er
einigermaßen grau werde, und schneide ihn alsdenn in
drei Stücke. Das eine lege man in ein Buch als bleiben-
des Muster, das andre unter ein gelbrotes, das dritte unter
ein blaurotes Glas. Dieses letzte Stück wird immer dun-
kelgrauer werden und eine Entsäurung anzeigen. Das
unter dem gelbroten befindliche wird immer heller grau,
tritt also dem ersten Zustand vollkommnerer Säurung
wieder näher. Von beiden kann man sich durch Verglei-
chung mit dem Musterstücke überzeugen.
681. Man hat auch eine schöne Vorrichtung gemacht,
diese Versuche mit dem prismatischen Bilde anzustellen.
Die Resultate sind denen bisher erwähnten gemäß, und
wir werden das Nähere davon späterhin vortragen und
dabei die Arbeiten eines genauen Beobachters benutzen,
der sich bisher mit diesen Versuchen sorgfältig beschäf-
tigte.
LVI. Chemische Wirkung bei der dioptrischen Achromasie
682. Zuerst ersuchen wir unsre Leser, dasjenige wieder
nachzusehen, was wir oben (285 — 298) über diese Ma-
terie vorgetragen, damit es hier keiner weitem Wieder-
holung bedürfe.
683. Man kann also einem Glase die Eigenschaft ge-
ben, daß es, ohne viel stärker zu refrangieren als vor-
her, d. h. ohne das Bild um ein sehr Merkliches weiter
zu verrücken, dennoch viel breitere Farbensäume her-
vorbringt.
684. Diese Eigenschaft wird dem Glase durch Metall-
III. CHEMISCHE FARBEN 197
kalke mitgeteilt. Daher Mennige, mit einem reinen Glase
innig zusammengeschmolzen und vereinigt, diese Wir-
kung hervorbringt. Flintglas (291) ist ein solches mit
Bleikalk bereitetes Glas. Auf diesem Wege ist man weiter
gegangen und hat die sogenannte Spießglanzbutter, die
sich nach einer neuem Bereitung als reine Flüssigkeit
darstellen läßt,, in linsenförmigen und prismatischen Ge-
fäßen benutzt und hat eine sehr starke Farbenerschei-
nung bei mäßiger Refraktion hervorgebracht und die
von uns sogenannte Hyperchromasie sehr lebhaft darge-
stellt.
685. Bedenkt man nun, daß das gemeine Glas, wenig-
stens überwiegend, alkahscher Natur sei, indem es vor-
züglich aus Sand und Laugensalzen zusammengeschmol-
zen wird, so möchte wohl eine Reihe von Versuchen
belehrend sein, welche das Verhältnis völlig alkalischer
Liquoren zu völligen Säuren auseinandersetzten.
686. Wäre nun das Maximum und Minimum gefunden,
so wäre die Frage, ob nicht irgendein brechend Mittel
zu erdenken sei, in welchem die von der Refraktion bei-
nah unabhängig auf- und absteigende Farbenerscheinung
bei Verrückung des Bildes völlig Null werden könnte.
687. Wie sehr wünschenswert wäre es daher für diesen
letzten Punkt sowohl als für unsre ganze dritte Abteilung,
ja für die Farbenlehre überhaupt, daß die mit Bearbei-
tung der Chemie unter immer fortschreitenden neuen
Ansichten beschäftigten Männer auch hier eingreifen und
das, was wir beinahe nur mit rohen Zügen angedeutet, in
das Feinere verfolgen und in einem allgemeinen, der gan-
zen Wissenschaft zusagenden Sinne bearbeiten möchten.
VIERTE ABTEILUNG. ALLGEMEINE AN^
SICHTEN NACH INNEN
688. T '\r 7IR haben bisher die Phänomene fast ge-
\ A / waltsam auseinander gehalten, die sich
V V teils ihrer Natur nach, teils dem Bedürf-
nis unsres Geistes gemäß immer wieder zu vereinigen
strebten. Wir haben sie nach einer gewissen Methode in
drei Abteilungen vorgetragen und die Farben zuerst be-
merkt als flüchtige Wirkung und Gegenwirkung des Auges
selbst, ferner als vorübergehende Wirkung farbloser, durch-
scheinender, durchsichtiger, undurchsichtiger Körper auf
das Licht, besonders auf das Lichtbild; endlich sind wir
zu dem Punkte gelangt, wo wir sie als dauernd, als den
Körpern wirklich einwohnend zuversichtlich ansprechen
konnten.
689. In dieser stetigen Reihe haben wir, soviel es mög-
lich sein wollte, die Erscheinungen zu bestimmen, zu son-
dern und zu ordnen gesucht. Jetzt, da wir nicht mehr
fürchten, sie zu vermischen oder zu verwirren, können wir
unternehmen, erstlich das Allgemeine, was sich von die-
sen Erscheinungen innerhalb des geschlossenen Kreises
prädizieren läßt, anzugeben, zweitens anzudeuten, wie
sich dieser besondre Kreis an die übrigen Glieder ver-
wandter Naturerscheinungen anschließt imd sich mit ihnen
verkettet.
IVü leicht die Farbe entsteht
690. Wir haben beobachtet, daß die Farbe unter man-
cherlei Bedingungen sehr leicht und schnell entstehe.
Die Empfindlichkeit des Auges gegen das Licht, die ge-
setzliche Gegenwirkung der Retina gegen dasselbe brin-
gen augenblicklich ein leichtes Farbenspiel hervor. Jedes
gemäßigte Licht kann als farbig angesehen werden, ja
wir dürfen jedes Licht, insofern es gesehen wird, farbig
nennen. Farbloses Licht, farblose Flächen sind gewisser-
maßen Abstraktionen; in der Erfahrung werden wir sie
kaum gewahr.
691. Wenn das Licht einen farblosen Körper berührt,
von ihm zurückprallt, an ihm her-, durch ihn durchgeht,
IV. ALLGEMEINE ANSICHTEN 199
so erscheinen die Farben sogleich; nur müssen wir hier-
bei bedenken, was so oft von uns urgiert worden, daß
nicht jene Hauptbedingungen der Refraktion, der Re-
flexion usw. hinreichend sind, die Erscheinung hervor-
zubringen. Das Licht wirkt zwar manchmal dabei an und
für sich, öfters aber als ein bestimmtes, begrenztes, als
ein Lichtbild. Die Trübe der Mittel ist oft eine notwen-
dige Bedingung, so wie auch Halb- und Doppelschatten
zu manchen farbigen Erscheinungen erfordert werden.
Durchaus aber entsteht die Farbe augenblicklich und mit
der größten Leichtigkeit. So finden wir denn auch fer-
ner, daß durch Druck, Hauch, Rotation, Wärme, durch
mancherlei Arten von Bewegung und Veränderung an
glatten reinen Körpern sowie an farblosen Liquoren die
Farbe sogleich hervorgebracht werde.
692. In den Bestandteilen der Körper darf nur die ge-
ringste Verändenmg vor sich gehen, es sei nun durch
Mischung mit andern oder durch sonstige Bestimmungen,
so entsteht die Farbe an den Körpern oder verändert
sich an denselben.
Wie energisch die Farbe sei
693. Die physischen Farben und besonders die prisma-
tischen wurden ehemals wegen ihrer besondem Herr-
lichkeit und Energie colores emphatici gtudiVWit. Bei nähe-
rer Betrachtung aber kann man allen Farberscheinungen
eine hohe Emphase zuschreiben, vorausgesetzt, daß sie
unter den reinsten und vollkommensten Bedingungen dar-
gestellt werden.
694. Die dunkle Natur der Farbe, ihre hohe gesättigte
Qualität ist das, wodurch sie den ernsthaften und zu-
gleich reizenden Eindruck hervorbringt, und indem man
sie als eine Bedingung des Lichtes ansehen kann, so kann
sie auch das Licht nicht entbehren als der mitwirkenden
Ursache ihrer Erscheinung, als der Unterlage ihres Er-
scheinens, als einer aufscheinenden und die Farbe mani-
festierenden Gewalt.
2 oo DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Wie entschieden die Farbe sei
695. Entstehen der Farbe und Sichentscheiden ist eins.
Wenn das Licht mit einer allgemeinen Gleichgültigkeit
sich und die Gegenstände darstellt und uns von einer be-
deutungslosen Gegenwart gewiß macht, so zeigt sich die
Farbe jederzeit spezifisch, charakteristisch, bedeutend.
696. Im allgemeinen betrachtet, entscheidet sie sich
nach zwei Seiten. Sie stellt einen Gegensatz dar, den wir
eine Polarität nennen und durch ein + und — recht gut
bezeichnen können.
Plus.
Minus.
Gelb.
Blau.
Wirkung.
Beraubung.
Licht.
Schatten.
Hell.
Dunkel.
Kraft.
Schwäche.
Wärme.
Kälte.
Nähe.
Feme.
Abstoßen.
Anziehen.
Verwandtschaft
Verwandtschaft
mit Säuren.
mit Alkalien.
Mischung der beiden Seiten
697. Wenn man diesen spezifizierten Gegensatz in sich
vermischt, so heben sich die beiderseitigen Eigenschaften
nicht auf; sind sie aber auf den Punkt des Gleichge-
wichts gebracht, daß man keine der beiden besonders
erkennt, so erhält die Mischung wieder etwas Spezifi-
sches fürs Auge, sie erscheint als eine Einheit, bei der
wir an die Zusammensetzung nicht denken. Diese Ein-
heit nennen wir Grün.
698. Wenn nun zwei aus derselben Quelle entspringende
entgegengesetzte Phänomene, indem man sie zusammen-
bringt, sich nicht aufheben, sondern sich zu einem dritten
angenehm Bemerkbaren verbinden, so ist dies schon ein
Phänomen, das auf Übereinstimmung hindeutet. Das
Vollkommnere ist noch zurück.
IV. ALLGEMEINE ANSICHTEN 201
Steigerung ins Rote
699. Das Blaue und Gelbe läßt sich nicht verdichten,
ohne daß zugleich eine andre Erscheinung mit eintrete.
Die Farbe ist in ihrem lichtesten Zustand ein Dunkles,
wird sie verdichtet, so muß sie dunkler werden, aber zu-
gleich erhält sie einen Schein, den wir mit dem Worte
"rötlich" bezeichnen.
700. Dieser Schein wächst immer fort, so daß er auf
der höchsten Stufe der Steigerung prävaliert. Ein ge-
waltsamer Lichteindruck klingt purpurfarben ab. Bei dem
Gelbroten der prismatischen Versuche, das unmittelbar
aus dem Gelben entspringt, denkt man kaum mehr an
das Gelbe.
701. Die Steigerung entsteht schon durch farblose trübe
Mittel, und hier sehen wir die Wirkung in ihrer höch-
sten Reinheit und Allgemeinheit. Farbige spezifizierte
durchsichtige Liquoren zeigen diese Steigerung sehr auf-
fallend in den Stufengefäßen. Diese Steigerung ist un-
aufhaltsam schnell und stetig; sie ist allgemein und kommt
sowohl bei physiologischen als physischen und chemi-
schen Farben vor.
Verbindung der gesteigerten Enden
702. Haben die Enden des einfachen Gegensatzes durch
Mischung ein schönes und angenehmes Phänomen be-
wirkt, so werden die gesteigerten Enden, wenn man sie
verbindet, noch eine anmutigere Farbe hervorbringen; ja
es läßt sich denken, daß hier der höchste Punkt der
ganzen Erscheinung sein werde.
703. Und so ist es auch: denn es entsteht das reine Rot,
das wir oft um seiner hohen Würde willen den Purpur
genannt haben.
704. Es gibt verschiedene Arten, wie der Purpur in der
Erscheinung entsteht: durch Übereinanderführung des
violetten Saums und gelbroten Randes bei prismatischen
Versuchen, durch fortgesetzte Steigerung bei chemischen,
durch den organischen Gegensatz bei physiologischen
Versuchen.
2 o 2 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
705. Als Pigment entsteht er nicht durch Mischung oder
Vereinigung, sondern durch Fixierung einer Körperlich-
keit auf dem hohen kulminierenden Farbenpunkte. Da-
her der Maler Ursache hat, drei Grundfarben anzuneh-
men, indem er aus diesen die übrigen sämtlich zu-
sammensetzt. Der Physiker hingegen nimmt nur zwei
Grundfarben an, aus denen er die übrigen entwickelt
und zusammensetzt.
Vollständigkeit der mannigfaltigen Erscheinung
706. Die mannigfaltigen Erscheinungen, auf ihren ver-
schiedenen Stufen fixiert und nebeneinander betrachtet,
bringen Totalität hervor. Diese Totalität ist Harmonie
fürs Auge.
707. Der Farbenkreis ist vor unsern Augen entstanden,
die mannigfaltigen Verhältnisse des Werdens sind uns
deutlich. Zwei reine ursprüngliche Gegensätze sind das
Fundament des Ganzen. Es zeigt sich sodann eine Stei-
gerung, wodurch sie sich beide einem dritten nähern;
dadurch entsteht auf jeder Seite ein Tiefstes und ein
Höchstes, ein Einfachstes und Bedingtestes, ein Gemein-
stes und ein Edelstes. Sodann kommen zwei Vereinungen
(Vermischungen, Verbindungen, wie man es nennen will)
zur Sprache, einmal der einfachen anfänglichen und so-
dann der gesteigerten Gegensätze.
Übereinstimmung der vollständigen Erscheinung
708. Die Totalität nebeneinander zu sehen, macht einen
harmonischen Eindruck aufs Auge. Man hat hier den
Unterschied zwischen dem physischen Gegensatz und der
harmonischen Entgegenstellung zu bedenken. Der erste
beruht auf der reinen, nackten, ursprünglichen Dualität,
insofern sie als ein Getrenntes angesehen wird; die zweite
beruht auf der abgeleiteten, entwickelten und dargestellten
Totalität.
709. Jede einzelne Gegeneinanderstellung, die harmo-
nisch sein soll, muß Totalität enthalten. Hievon werden
IV. ALLGEMEINE ANSICHTEN 203
wir durch die physiologischen Versuche belehrt. Eine
Entwicklung der sämtlichen möglichen Entgegenstel-
lungen um den ganzen Farbenkreis wird nächstens ge-
leistet.
Wie leicht die Farbe von einer Seite auf die andre zu
wenden
710. Die Beweglichkeit der Farbe haben wir schon bei
der Steigerung und bei der Durchwanderung des Krei-
ses zu bedenken Ursache gehabt; aber auch sogar hin-
über und herüber werfen sie sich notwendig imd ge-
schwind.
711. Physiologische Farben zeigen sich anders auf dunk-
lem als auf hellem Grund. Bei den physikalischen ist
die Verbindung des objektiven und subjektiven Versuchs
höchst merkwürdig. Die epoptischen Farben sollen beim
durchscheinenden Licht und beim aufscheinenden ent-
gegengesetzt sein. Wie die chemischen Farben durch
Feuer und Alkalien umzuwenden, ist seines Orts hin-
länglich gezeigt worden.
Wie leicht die Farbe verschwindet
712. Was seit der schnellen Erregung imd ihrer Ent-
scheidung bisher bedacht worden, die Mischung, die Stei-
gerung, die Verbindung, die Trennung sowie die har-
monische Forderung, alles geschieht mit der größten
Schnelligkeit und Bereitwilligkeit; aber ebenso schnell
verschwindet auch die Farbe wieder gänzlich.
713. Die physiologischen Erscheinungen sind auf keine
Weise festzuhalten, die physischen dauern nur so lange,
als die äußre Bedingung währt, die chemischen selbst
haben eine große BewegHchkeit und sind durch entgegen-
gesetzte Reagenzien herüber- und hinüberzuwerfen, ja
sogar aufzuheben.
2 04 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
JVü fest die Farbe bleibt
714. Die chemischen Farben geben ein Zeugnis sehr
langer Dauer. Die Farben, durch Schmelzung in Gläsern
fixiert, sowie durch Natur in Edelsteinen, trotzen aller
Zeit und Gegenwirkung.
715. Die Färberei fixiert von ihrer Seite die Farben sehr
mächtig. Und Pigmente, welche durch Reagenzien sonst
leicht herüber- und hinübergeführt werden, lassen sich
durch Beizen zur größten Beständigkeit an und in Körper
übertragen.
FÜNFTE ABTEILUNG. NACHBARLICHE
VERHÄLTNISSE
m;
Verhältnis zur Philosophie
716. "^ yj" AN kann von dem Physiker nicht fordern,
daß er Philosoph sei; aber man kann von
.ihm erwarten, daß er so viel philosophi-
sche Bildung habe, um sich gründlich von der Welt zu
unterscheiden und mit ihr wieder im höhern Sinne zu-
sammenzutreten. Er soll sich eine Methode bilden, die
dem Anschauen gemäß ist; er soll sich hüten, das An-
schauen in Begriffe, den BegrifiF in Worte zu verwandeln
und mit diesen Worten, als wärens Gegenstände, umzu-
gehen und zu verfahren; er soll von den Bemühungen des
Philosophen Kenntnis haben, um die Phänomene bis an
die philosophische Region hinanzuführen.
717. Man kann von dem Philosophen nicht verlangen,
daß er Physiker sei, und dennoch ist seine Einwirkung
auf den physischen Kreis so notwendig und so wün-
schenswert. Dazu bedarf er nicht des Einzelnen, sondern
nur der Einsicht in jene Endpunkte, wo das Einzelne zu-
sammentrifft.
718. Wir haben früher (175 ff.) dieser wichtigen Betrach-
tung im Vorbeigehen erwähnt und sprechen sie hier, als
am schicklichen Orte, nochmals aus. Das Schlimmste, was
der Physik sowie mancher andern Wissenschaft wider-
fahren kann, ist, daß man das Abgeleitete für das Ur-
sprüngliche hält und, da man das Ursprüngliche aus Ab-
geleitetem nicht ableiten kann, das Ursprüngliche aus
dem Abgeleiteten zu erklären sucht. Dadurch entsteht
eine unendliche Verwirrung, ein Wortkram und eine fort-
dauernde Bemühimg, Ausflüchte zu suchen und zu finden,
wo das Wahre nur irgend hervortritt und mächtig wer-
den will.
719. Indem sich der Beobachter, der Naturforscher auf
diese Weise abquält, weil die Erscheinungen der Mei-
nung jederzeit widersprechen, so kann der Philosoph mit
einem falschen Resultate in seiner Sphäre noch immer
operieren, indem kein Resultat so falsch ist, daß es nicht
2 o6 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
als Form ohne allen Gehalt auf irgendeine Weise gelten
könnte.
720. Kann dagegen der Physiker zur Erkenntnis des-
jenigen gelangen, was wir ein Urphänomen genannt ha-
ben, so ist er geborgen und der Philosoph mit ihm. Er:
denn er überzeugt sich, daß er an die Grenze seiner
Wissenschaft gelangt sei, daß er sich auf der empirischen
Höhe befinde, wo er rückwärts die Erfahrung in allen
ihren Stufen überschauen und vorwärts in das Reich der
Theorie, wo nicht eintreten, doch einblicken könne. Der
Philosoph ist geborgen: denn er nimmt aus des Physikers
Hand ein Letztes, das bei ihm nun ein Erstes wird. Er
bekümmert sich nun mit Recht nicht mehr um die Er-
scheinung, wenn man darunter das Abgeleitete versteht,
wie man es entweder schon wissenschaftlich zusammen-
gestellt findet oder wie es gar in empirischen Fällen zer-
streut und verworren vor die Sinne tritt. Will er ja auch
diesen Weg durchlaufen und einen Blick ins Einzelne
nicht verschmähen, so tut er es mit Bequemlichkeit, an-
statt daß er bei anderer Behandlung sich entweder zu lange
in den Zwischenregionen aufhält oder sie nur flüchtig
durchstreift, ohne sie genau kennen zu lernen.
721. In diesem Sinne die Farbenlehre dem Philosophen
zu nähern, war des Verfassers Wunsch, und wenn ihm
solches in der Ausführung selbst aus mancherlei Ursachen
nicht gelungen sein sollte, so wird er bei Revision seiner
Arbeit, bei Rekapitulation des Vorgetragenen sowie in
dem polemischen und historischen Teile dieses Ziel im-
mer im Auge haben und später, wo manches deutlicher
wird auszusprechen sein, auf diese Betrachtung zurück-
kehren.
Verhältnis zur Mathematik
722. Man kann von dem Physiker, welcher die Natur-
lehre in ihrem ganzen Umfange behandeln will, ver-
langen, daß er Mathematiker sei. In den mittleren Zei-
ten war die Mathematik das vorzüglichste unter den
Organen, durch welche man sich der Geheimnisse der
Natur zu bemächtigen hofl:te, und noch ist in gewissen
V. NACHBARLICHE VERHÄLTNISSE 207
Teilen der Naturlehre die Meßkunst, wie billig, herr-
schend.
723. Der Verfasser kann sich keiner Kultur von dieser
Seite rühmen und verweilt auch deshalb nur in den von
der Meßkunst unabhängigen Regionen, die sich in der
neuem Zeit weit und breit aufgetan haben.
724. Wer bekennt nicht, daß die Mathematik als eins
der herrlichsten menschlichen Organe der Physik von
einer Seite sehr vieles genutzt! Daß sie aber durch fal-
sche Anwendung ihrer Behandlungsweise dieser Wissen-
schaft gar manches geschadet, läßt sich auch nicht wohl
leugnen, und man findfets hier und da notdürftig einge-
standen.
725. Die Farbenlehre besonders hat sehr viel gelitten,
und ihre Fortschritte sind äußerst gehindert worden, daß
man sie mit der übrigen Optik, weiche der Meßkunst
nicht entbehren kann, vermengte, da sie doch eigentlich
von jener ganz abgesondert betrachtet werden kann.
726. Dazu kam noch das Übel, daß ein großer Mathe-
matiker über den physischen Ursprung der Farben eine
ganz falsche Vorstellung bei sich festsetzte und durch
seine großen Verdienste als Meßkünstler die Fehler, die
er als Naturforscher begangen, vor einer in Vorurteilen
stets befangnen Welt auf lange Zeit sanktionierte.
727. Der Verfasser des Gegenwärtigen hat die Farben-
lehre durchaus von der Matliematik entfernt zu halten
gesucht, ob sich gleich gewisse Punkte deutlich genug
ergeben, wo die Beihülfe der Meßkunst wünschenswert
sein würde. Wären die vorurteilsfreien Mathematiker,
mit denen er umzugehen das Glück hatte und hat, nicht
durch andre Geschäfte abgehalten gewesen, um mit ihm
gemeine Sache machen zu können, so würde der Behand-
lung von dieser Seite einiges Verdienst nicht fehlen.
Aber so mag denn auch dieser Mangel zum Vorteil ge-
reichen, indem es nunmehr des geistreichen Mathemati-
kers Geschäft werden kann, selbst aufzusuchen, wo denn
die Farbenlehre seiner Hülfe bedarf und wie er zur Voll-
endung dieses Teils der Naturwissenschaft das Seinige
beitragen kann.
2 o 8 DER FA RBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
728. Überhaupt wäre es zu wünschen, daß die Deut-
schen, die so vieles Gute leisten, indem sie sich das
Gute fremder Nationen aneignen, sich nach und nach ge-
wöhnten, in Gesellschaft zu arbeiten. Wir leben zwar in
einer diesem Wunsche gerade entgegengesetzten Epoche.
Jeder will nicht nur original in seinen Ansichten, son-
dern auch im Gange seines Lebens imd Tuns von den
Bemühungen anderer unabhängig, wo nicht sein, doch,
daß er es sei, sich überreden. Man bemerkt sehr oft, daß
Männer, die freilich manches geleistet, nur sich selbst,
ihre eigenen Schriften, Journale und Kompendien zitie-
ren, anstatt daß es für den einzelnen und für die Welt
viel vorteilhafter wäre, wenn mehrere zu gemeinsamer
Arbeit gerufen würden. Das Betragen unserer Nachbarn,
der Franzosen, ist hierin musterhaft, wie man z. B. in
der Vorrede Cuviers zu seinem '^Tableau iUmentaire de
rhistoire naturelle des animaux'^ mit Vergnügen sehen
wird.
729. Wer die Wissenschaften imd ihren Gang mit treuem
Auge beobachtet hat, wird sogar die Frage aufwerfen:
ob es denn vorteilhaft sei, so manche, obgleich ver-
wandte Beschäftigungen und Bemühungen in einer Per-
son zu vereinigen, und ob es nicht bei der Beschränkt-
heit der menschlichen Natur gemäßer sei, z. B. den auf-
suchenden und findenden von dem behandelnden und an-
wendenden Manne zu unterscheiden, Haben sich doch
die himmelbeobachtenden und stemaufsuchenden Astro-
nomen von den bahnberechnenden, das Ganze umfassen-
den und näher bestimmenden in der neuern Zeit gewis-
sermaßen getrennt. Die Geschichte der Farbenlehre wird
uns zu diesen Betrachtungen öfter zurückführen.
Verhältnis zur Technik des Färbers
730. Sind wir bei unsern Arbeiten dem Mathematiker
aus dem Wege gegangen, so haben wir dagegen gesucht,
der Technik des Färbers zu begegnen. Und obgleich die-
jenige Abteilung, welche die Farben in chemischer Rück-
sicht abhandelt, nicht die vollständigste und umstand-
V. NACHBARLICHE VERHÄLTNISSE 209
iichste ist, so wird doch sowohl darin als in dem, was
wir Allgemeines von den Farben ausgesprochen, der
Färber weit mehr seine Rechnung finden als bei der bis-
herigen Theorie, die ihn ohne allen Trost ließ.
731. Merkwürdig ist es, in diesem Sinne die Anleitungen
zur Färbekunst zu betrachten. Wie der katholische Christ,
wenn er in seinen Tempel tritt, sich mit Weihwasser be-
sprengt und vor dem Hochwürdigen die Kniee beugt und
vielleicht alsdann ohne sonderliche Andacht seine An-
gelegenheiten mit Freunden bespricht oder Liebesaben-
teuern nachgeht, so fangen die sämtlichen Färbelehren
mit einer respektvollen Erwähnung der Theorie gezie-
mend an, ohne daß sich auch nachher nur eine Spur
fände, daß etwas aus dieser Theorie herflösse, daß diese
Theorie irgend etwas erleuchte, erläutere und zu prak-
tischen Handgriffen irgendeinen Vorteil gewähre.
732. Dagegen finden sich Männer, welche den Umfang
des praktischen Färbewesens wohl eingesehen, in dem
Falle, sich mit der herkömmlichen Theorie zu entzweien,
ihre Blößen mehr oder weniger zu entdecken und ein der
Natur und Erfahrung gemäßeres Allgemeines aufzusuchen.
Wenn uns in der Geschichte die Namen Castel und Gü-
lich begegnen, so werden wir hierüber weitläuftiger zu
handeln Ursache haben; wobei sich zugleich Gelegenheit
finden wird zu zeigen, wie eine fortgesetzte Empirie, in-
dem sie in allem Zufälligen umhergreift, den Kreis, in
den sie gebannt ist, wirklich ausläuft und sich als ein
hohes Vollendetes dem Theoretiker, wenn er klare Augen
und ein redliches Gemüt hat, zu seiner großen Bequem-
lichkeit überliefert.
Verhältnis zur Physiologie und Pathologie
733. Wenn wir in der Abteilung, welche die Farben in
physiologischer und pathologischer Rücksicht betrachtet,
fast nur allgemein bekannte Phänomene überliefert, so
werden dagegen einige neue Ansichten dem Physiologen
nicht unwillkommen sein. Besonders hoffen wir seine Zu-
friedenheit dadurch erreicht zu haben, daß wir gewisse
GOETHE XVII 14.
2 1 o DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
Phänomene, welche isoliert standen, zu ihren ähnlichen
und gleichen gebracht und ihm dadurch gewissermaßen
vorgearbeitet haben.
734. Was den pathologischen Anhang betriflft, so ist er
freilich unzulänglich und inkohärent. Wir besitzen aber
die vortrefflichsten Männer, die nicht allein in diesem
Fache höchst erfahren und kenntnisreich sind, sondern
auch zugleich wegen eines so gebildeten Geistes verehrt
werden, daß es ihnen wenig Mühe machen kann, diese
Rubriken umzuschreiben und das, was ich angedeutet,
vollständig auszuführen und zugleich an die höheren Ein-
sichten in den Organismus anzuschließen.
Verhältnis zur Naturgeschichte
735. Insofern wir hoffen können, daß die Naturgeschichte
auch nach und nach sich in eine Ableitung der Natur-
erscheinungen aus höhern Phänomenen umbilden wird,
so glaubt der Verfasser auch hierzu einiges angedeutet
und vorbereitet zu haben. Indem die Farbe in ihrer
größten Mannigfaltigkeit sich auf der Oberfläche leben-
diger Wesen dem Auge darstellt, so ist sie ein wichtiger
Teil der äußeren Zeichen, wodurch wir gewahr werden,
was im Innern vorgeht.
736. Zwar ist ihr von einer Seite wegen ihrer Unbe-
stimmtheit und Versatilität nicht allzuviel zu trauen, doch
wird ebendiese Beweglichkeit, insofern sie sich uns als
eine konstante Erscheinung zeigt, wieder ein Kriterion des
beweglichen Lebens, und der Verfasser wünscht nichts
mehr, als daß ihm Frist gegönnt sei, das, was er hierüber
wahrgenommen, in einer Folge, zu der hier der Ort nicht
war, weitläuftiger auseinanderzusetzen.
Verhältnis zur allgemeinen Physik
737. Der Zustand, in welchem sich die allgemeine Phy-
sik gegenwärtig befindet, scheint auch unserer Arbeit be-
sonders günstig, indem die Naturlehre durch rastlose,
mannigfaltige Behandlung sich nach und nach zu einer
V. NACHBARLICHE VERHÄLTNISSE 2 1 1
solchen Höhe erhoben hat, daß es nicht unmöglich scheint,
die grenzenlose Empirie an einen methodischen Mittel-
punkt heranzuziehen,
738. Dessen, was zu weit von unserm besondern Kreise
abliegt, nicht zu gedenken, so finden sich die Formeln,
durch die man die elementaren Naturerscheinungen, wo
nicht dogmatisch, doch wenigstens zum didaktischen Be-
hufe ausspricht, durchaus auf dem Wege, daß man sieht,
man werde durch die Übereinstimmung der Zeichen
bald auch notwendig zur Übereinstimmung im Sinne ge-
langen.
739. Treue Beobachter der Natur, wenn sie auch sonst
noch so verschieden denken, werden doch darin mitein-
ander übereinkommen, daß alles, was erscheinen, was
uns als ein Phänomen begegnen solle, müsse entweder
eine ursprüngliche Entzweiung, die einer Vereinigung
fähig ist, oder eine ursprüngliche Einheit, die zur Ent-
zweiung gelangen könne, andeuten und sich auf eine
solche Weise darstellen. Das Geeinte zu entzweien, das
Entzweite zu einigen, ist das Leben der Natur; dies ist
die ewige Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und
Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir
leben, weben und sind.
740. Daß dasjenige, was wir hier als Zahl, als Eins und
Zwei aussprechen, ein höheres Geschäft sei, versteht sich
von selbst, so wie die Erscheinung eines Dritten, Vier-
ten sich ferner Entwickelnden immer in einem höhern
Sinne zunehmen, besonders aber allen diesen Ausdrücken
eine echte Anschauung unterzulegen ist.
741. Das Eisen kennen wir als einen besondern, von
andern unterschiedenen Körper; aber es ist ein gleich-
gültiges, uns nur in manchem Bezug imd zu manchem
Gebrauch merkwürdiges Wesen. Wie wenig aber bedarf
es, und die Gleichgültigkeit dieses Körpers ist aufgeho-
ben! Eine Entzweiung geht vor, die, indem sie sich wie-
der zu vereinigen strebt und sich selbst aufsucht, einen
gleichsam magischen Bezug auf ihresgleichen gewinnt
und diese Entzweiung, die doch nur wieder eine Ver-
einigung ist, durch ihr ganzes Geschlecht fortsetzt. Hier
2 1 2 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
kennen wir das gleichgültige Wesen, das Eisen; wir sehen
die Entzweiung an ihm entstehen, sich fortpflanzen und
verschwinden und sich leicht wieder aufs neue erregen:
nach unserer Meinung ein Urphänomen, das unmittel-
bar an der Idee steht und nichts Irdisches über sich er-
kennt.
742. Mit der Elektrizität verhält es sich wieder auf eine
eigne Weise. Das Elektrische, als ein Gleichgültiges,
kennen wir nicht. Es ist für uns ein Nichts, ein Null, ein
Nullpunkt, ein Gleichgültigkeitspunkt, der aber in allen
erscheinenden Wesen liegt und zugleich der Quellpunkt
ist, aus dem bei dem geringsten Anlaß eine Doppeler-
scheinung hervortritt, welche nur insofern erscheint, als
sie wieder verschwindet. Die Bedingungen, unter wel-
chen jenes Hervortreten erregt wird, sind nach Beschaf-
fenheit der besondern Körper unendlich verschieden.
Von dem gröbsten mechanischen Reiben sehr unterschie-
dener Körper aneinander bis zu dem leisesten Nebenein-
andersein zweier völlig gleichen, nur durch weniger als
einen Hauch anders determinierten Körper ist die Er-
scheinung rege und gegenwärtig, ja auffallend und mäch-
tig, und zwar dergestalt bestimmt und geeignet, daß wir
die Formeln der Polarität, des Plus und Minus, als Nord
und Süd, als Glas und Harz schicklich und naturgemäß
anwenden.
743. Diese Erscheinung, ob sie gleich der Oberfläche be-
sonders folgt, ist doch keinesweges oberflächlich. Sie wirkt
aufdieBestimmung körperlicher Eigenschaften und schUeßt
sich an die große Doppelerscheinung, welche sich in der
Chemie so herrschend zeigt, an Oxydation und Desoxy-
dation, unmittelbar wirkend an.
744. In diese Reihe, in diesen Kreis, in diesen Kranz
von Phänomenen auch die Erscheinungen der Farbe her-
anzubringen und einzuschließen, war das Ziel unseres Be-
strebens. Was uns nicht gelungen ist, werden andre
leisten. Wir fanden einen uranfänglichen ungeheuren
Gegensatz von Licht und Finsternis, den man allgemei-
ner durch Licht und Nichtlicht ausdrücken kann; wir
suchten denselben zu vermitteln und dadurch die sieht-
V. NACHBARLICHE VERHÄLTNISSE 213
bare Welt aus Licht, Schatten und Farbe herauszubilden,
wobei wir uns zu Entwickelung der Phänomene verschie-
dener Formeln bedienten, wie sie uns in der Lehre des
Magnetismus, der Elektrizität, des Chemismus überliefert
werden. Wir mußten aber weiter gehen, weil wir uns in
einer höhern Region befanden und mannigfaltigere Ver-
hältnisse auszudrücken hatten.
745. Wenn sich Elektrizität und Galvanität in ihrer All-
gemeinheit von dem Besondern der magnetischen Er-
scheinungen abtrennt und erhebt, so kann man sagen,
daß die Farbe, obgleich unter eben den Gesetzen stehend,
sich doch viel höher erhebe und, indem sie für den edlen
Sinn des Auges wirksam ist, auch ihre Natur zu ihrem
Vorteile dartue. Man vergleiche das Mannigfaltige, das
aus einer Steigerung des Gelben und Blauen zum Roten,
aus der Verknüpfung dieser beiden höheren Enden zum
Purpur, aus der Vermischung der beiden niedern Enden
zum Grün entsteht. Welch ein ungleich mannigfaltigeres
Schema entspringt hier nicht, als dasjenige ist, worin sich
Magnetismus und Elektrizität begreifen lassen! Auch
stehen diese letzteren Erscheinungen auf einer niedern
Stufe, so daß sie zwar die aligemeine Welt durchdringen
und beleben, sich aber zum Menschen im höheren Sinne
nicht heraufbegeben können, um von ihm ästhetisch be-
nutzt zu werden. Das allgemeine einfache physische
Schema muß erst in sich selbst erhöht und vermannig-
faltigt werden, um zu höheren Zwecken zu dienen.
746. Man rufe in diesem Sinne zurück, was durchaus
von uns bisher sowohl im allgemeinen als besondern von
der Farbe prädiziert worden, und man wird sich selbst
dasjenige, was hier nur leicht angedeutet ist, ausführen
und entwickeln. Man wird dem Wissen, der Wissenschaft,
dem Handwerk und der Kunst Glück wünschen, wenn es
möglich wäre, das schöne Kapitel der Farbenlehre aus
seiner atomistischen Beschränktheit und Abgesondertheit,
in die es bisher verwiesen, dem allgemeinen dynamischen
Flusse des Lebens und. Wirkens wiederzugeben, dessen
sich die jetzige Zeit erfreut. Diese Empfindungen wer-
den bei uns noch lebhafter werden, wenn uns die Ge-
2 1 4 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
schichte so manchen wackern und einsichtsvollen Mann
vorführen wird, dem es nicht gelang, von seinen Über-
zeugungen seine Zeitgenossen zu durchdringen.
Verhältnis zur Tonlehre
14']. Ehe wir nunmehr zu den sinnlich- sittlichen und
daraus entspringenden ästhetischen Wirkungen der Farbe
übergehen, ist es der Ort, auch von ihrem Verhältnisse
zu dem Ton einiges zu sagen.
Daß ein gewisses Verhältnis der Farbe zum Ton statt-
finde, hat man von jeher gefühlt, wie die öftern Ver-
gleichungen, welche teils vorübergehend, teils umständ-
lich genug angestellt worden, beweisen. Der Fehler, den
man hiebei begangen, beruhet nur auf Folgendem.
748. Vergleichen lassen sich Farbe und Ton unterein-
ander auf keine Weise; aber beide lassen sich auf eine
höhere Formel beziehen, aus einer höhern Formel beide,
jedoch jedes für sich, ableiten. Wie zwei Flüsse, die auf
einem Berge entspringen, aber unter ganz verschiedenen
Bedingungen in zwei ganz entgegengesetzte Weltgegen-
den laufen, so daß auf dem beiderseitigen ganzen Wege
keine einzelne Stelle der andern verglichen werden kann,
so sind auch Farbe und Ton. Beide sind allgemeine ele-
mentare Wirkungen, nach dem allgemeinen Gesetz des
Trennens und Zusammenstrebens, des Auf- imd Ab-
schwankens, des Hin- und Widerwägens wirkend, doch
nach ganz verschiedenen Seiten, auf verschiedene Weise,
auf verschiedene Zwischenelemente, für verschiedene
Sinne.
749. Möchte jemand die Art und Weise, wie wir die
Farbenlehre an die allgemeine Naturlehre angeknüpft,
recht fassen und dasjenige, was uns entgangen und ab-
gegangen, durch Glück und Genialität ersetzen, so würde
die Tonlehre nach tmserer Überzeugung an die allge-
meine Physik vollkommen anzuschließen sein, da sie jetzt
innerhalb derselben gleichsam nur historisch abgesondert
steht.
750. Aber eben darin läge die größte Schwierigkeit, die
V. NACHBARLICHE VERHÄLTNISSE 215
für uns gewordene positive, auf seltsamen empirischen,
zufälligen, mathematischen, ästhetischen, geniahschen
Wegen entsprungene Musik zugunsten einer physikali-
schen Behandlung zu zerstören und in ihre ersten phy-
sischen Elemente aufzulösen. Vielleicht wäre auch hierzu,
auf dem Punkte, wo Wissenschaft und Kunst sich befin-
den, nach so manchen schönen Vorarbeiten Zeit und Ge-
legenheit.
Schlußbetrachtung über Sprache und Terminologie
751. Man bedenkt niemals genug, daß eine Sprache ei-
gentlich nur symbolisch, nur bildlich sei und die Gegen-
stände niemals unmittelbar, sondern nur im Widerscheine
ausdrücke. Dieses ist besonders der Fall, wenn von We-
sen die Rede ist, welche an die Erfahrung nur heran-
treten und die m>an mehr Tätigkeiten als Gegenstände
nennen kann, dergleichen im Reiche der Naturlehre im-
merfort in Bewegung sind. Sie lassen sich nicht festhalten,
und doch soll man von ihnen reden; man sucht daher alle
Arten von Formeln auf, um ihnen wenigstens gleichnis-
weise beizukommen.
752. Metaphysische Formeln haben eine große Breite
und Tiefe; jedoch sie würdig auszufüllen, wird ein reicher
Gehalt erfordert, sonst bleiben sie hohl.' Mathematische
Formeln lassen sich in vielen Fällen sehr bequem und
glücklich anwenden; aber es bleibt ihnen immer etwas
Steifes und Ungelenkes, und wir fühlen bald ihre Unzu-
länglichkeit, weil wir, selbst in Elementarfällen, sehr früh
ein Inkommensurables gewahr werden; ferner sind sie
auch nur innerhalb eines gewissen Kreises besonders
hiezu gebildeter Geister verständlich. Mechanische For-
meln sprechen mehr zu dem gemeinen Sinn; aber sie
sind auch gemeiner und behalten immer etwas Rohes.
Sie verwandeln das Lebendige in ein Totes; sie töten
das innre Leben, um von außen ein unzulängliches her-
anzubringen. Korpuskularformeln sind ihnen nahe ver-
wandt; das Bewegliche wird starr durch sie, Vorstellung
imd Ausdruck ungeschlacht. Dagegen erscheinen die
2 1 6 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
moralischen Formeln, welche freilich zartere Verhältnisse
ausdrücken, als bloße Gleichnisse und verlieren sich denn
auch wohl zuletzt in Spiele des Witzes.
753. Könnte man sich jedoch aller dieser Arten der
Vorstellung und des Ausdrucks mit Bewußtsein bedienen
und in einer mannigfaltigen Sprache seine Betrachtungen
über Natiu-phänoraene überliefern, hielte man sich von
Einseitigkeit frei und faßte einen lebendigen Sinn in einen
lebendigen Ausdruck, so ließe sich manches Erfreuliche
mitteilen.
754. Jedoch wie schwer ist es, das Zeichen nicht an die
Stelle der Sache zu setzen, das Wesen immer lebendig
vor sich zu haben und es nicht durch das Wort zu töten.
Dabei sind wir in den neuern Zeiten in eine noch größere
Gefahr geraten, indem wir aus allem Erkenn- und Wiß-
baren Ausdrücke und Terminologien herübergenommen
haben, um unsre Anschauungen der einfacheren Natur
auszudrücken. Astronomie, Kosmologie, Geologie, Natur-
geschichte, ja Religion und Mystik werden zu Hülfe ge-
rufen, und wie oft wird nicht das Allgemeine durch ein
Besonderes, das Elementare durch ein Abgeleitetes mehr
zugedeckt und verdunkelt als aufgehellt und näher ge-
bracht! Wir kennen das Bedürfnis recht gut, wodurch
eine solche Sprache entstanden ist und sich ausbreitet,
wir wissen aucK, daß sie sich in einem gewissen Sinne
unentbehrlich macht: allein nur ein mäßiger, anspruchs-
loser Gebrauch mit Überzeugung und Bewußtsein kann
Vorteil bringen.
755. Am wünschenswertesten wäre jedoch, daß man die
Sprache, wodurch man die Einzelnheiten eines gewissen
Kreises bezeichnen will, aus dem Kreise selbst nähme,
die einfachste Erscheinung als Grundformel behandelte
und die mannigfaltigem von daher ableitete und ent-
wickelte.
756.- Die Notwendigkeit und Schicklichkeit einer solchen
Zeichensprache, wo das Grundzeichen die Erscheinung
selbst ausdrückt, hat man recht gut gefühlt, indem man
die Formel der Polarität, dem Magneten abgeborgt, auf
Elektrizität usw. hinübergeführt hat. Das Plus und Minus,
V. NACHBARLICHE VERHÄLTNISSE 217
was an dessen Stelle gesetzt werden kann, hat bei so
vielen Phänomenen eine schickliche Anwendung gefun-
den; ja der Tonkünstler ist, wahrscheinlich ohne sich um
jene andern Fächer zu bekümmern, durch die Natur ver-
anlaßt worden, die Hauptdifferenz der Tonarten durch
Majeur und Mineur auszudrücken.
757. So haben auch wir seit langer Zeit den Ausdruck
der Polarität in die Farbenlehre einzuführen gewünscht;
mit welchem Rechte und in welchem Sinne, mag die
gegenwärtige Arbeit ausweisen. Vielleicht finden wir
künftig Raum, durch eine solche Behandlung und Sym-
bolik, welche ihr Anschauen jederzeit mit sich führen
müßte, die elementaren Naturphänomene nach unsrer
Weise aneinander zu knüpfen und dadurch dasjenige deut-
licher zu machen, was hier nur im allgemeinen und viel-
leicht nicht bestimmt genug ausgesprochen worden.
SECHSTE ABTEILUNG. SINNLICH^SITT.
LICHE WIRKUNG DER FARBE
Di
758. "1 \ A die Farbe in der Reihe der uranfänglichen
|Naturerscheinungen einen so hohen Platz
behauptet, indem sie den ihr angewiesenen
einfachen Kreis mit entschiedener Mannigfaltigkeit aus-
füllt, so werden wir uns nicht wundern, wenn wir erfah-
ren, daß sie auf den Sinn des Auges, dem sie vorzüglich
zugeeignet ist, und durch dessen Vermittelung auf das
Gemüt in ihren allgemeinsten elementaren Erscheinun-
gen, ohne Bezug auf Beschaffenheit oder Form eines
Materials, an dessen Oberfläche wir sie gewahr werden,
einzeln eine spezifische, in Zusammenstellung eine teils
harmonische, teils charakteristische, oft auch unharmo-
nische, immer aber eine entschiedene und bedeutende
Wirkung hervorbringe, die sich unmittelbar an das Sitt-
liche anschließt. Deshalb denn Farbe, als ein Element
derKimst betrachtet, zu den höchsten ästhetischen Zwecken
mitwirkend genutzt werden kann.
759. Die Menschen empfinden im allgemeinen eine große
Freude an der Farbe. Das Auge bedarf ihrer, wie es des
Lichtes bedarf. Man erinnre sich der Erquickung, wenn
an einem trüben Tage die Sonne auf einen einzelnen Teil
der Gegend scheint und die Farben daselbst sichtbar
macht. Daß man den farbigen Edelsteinen Heilkräfte zu-
schrieb, mag aus dem tiefen Gefühl dieses unaussprech-
lichen Behagens entstanden sein.
760. Die Farben, die wir an den Körpern erblicken, sind
nicht etwa dem Auge ein völlig Fremdes, wodurch es
erst zu dieser Empfindung gleichsam gestempelt würde.
Nein, dieses Organ ist immer in der Disposition, selbst
Farben hervorzubringen, und genießt einer angenehmen
Empfindung, wenn etwas der eignen Natur Gemäßes ihm
von außen gebracht wird, wenn seine Bestimmbarkeit
nach einer gewissen Seite hin bedeutend bestimmt wird.
761. Aus der Idee des Gegensatzes der Erscheinung,
aus der Kenntnis, die wir von den besondern Bestim-
mungen desselben erlangt haben, können wir schließen,
daß die einzelnen Farbeindrücke nicht verwechselt wer-
VI. SINNLICH- SITTLICHE WIRKUNG 2 1 9
den können, daß sie spezifisch wirken und entschieden
spezifische Zustände in dem lebendigen Organ hervor-
bringen müssen.
762. Eben auch so in dem Gemüt. Die Erfahrung lehrt
uns, daß die einzelnen Farben besondre Gemütsstim-
mungen geben. Von einem geistreichen Franzosen wird
erzählt: il pritendoit que son ton de coiiversation avec Ma-
dame itoit changi. depuis qu^elle avoit changi en cramoisi le
tneuble de son cabinet qtii itoit bleu.
763. Diese einzelnen bedeutenden Wirkungen vollkom-
men zu empfinden, muß man das Auge ganz mit einer
Farbe umgeben, z. B. in einem einfarbigen Zimmer sich
befinden, durch ein farbiges Glas sehen. Man identifiziert
sich alsdann mit der Farbe; sie stimmt Auge und Geist
mit sich unisono.
764. Die Farben von der Plusseite sind Gelb, Rotgelb
(Orange), Gelbrot (Mennig, Zinnober). Sie stimmen reg-
sam, lebhaft, strebend.
Gelb
765. Es ist die nächste Farbe am Licht. Sie entsteht
durch die gehndeste Mäßigung desselben, es sei durch
trübe Mittel oder durch schwache Zurückwerfung von
weißen Flächen. Bei den prismatischen Versuchen er-
streckt sie sich allein breit in den lichten Raum und kann
dort, wenn die beiden Pole noch abgesondert vonein-
ander stehen, ehe sie sich mit dem Blauen zum Grünen
vermischt, in ihrer schönsten Reinheit gesehen werden.
Wie das chemische Gelb sich an und über dem Weißen
entwickelt, ist gehörigen Orts umständlich vorgetragen
worden.
766. Sie fuhrt in ihrer höchsten Reinheit immer die Na-
tur des Hellen mit sich und besitzt eine heitere, muntere,
sanft reizende Eigenschaft.
767. In diesem Grade ist sie als Umgebung, es sei als
Kleid, Vorhang, Tapete, angenehm. Das Gold in seinem
ganz ungemischten Zustande gibt uns, besonders wenn
2 2 o DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
der Glanz hinzukommt, einen neuen und hohen Begriff
von dieser Farbe; so wie ein starkes Gelb, wenn es auf
glänzender Seide, z, B. auf Atlas, erscheint, eine präch-
tige und edle Wirkung tut.
768. So ist es der Erfahrung gemäß, daß das Gelbe einen
durchaus warmen und behaglichen Eindruck mache. Da-
her es auch in der Malerei der beleuchteten und wirk-
samen Seite zukommt.
769. Diesen erwärmenden Effekt kann man am lebhaf-
testen bemerken, wenn man durch ein gelbes Glas, be-
sonders in grauen Wintertagen, eine Landschaft ansieht.
Das Auge wird erfreut, das Herz ausgedehnt, das Ge-
müt erheitert; eine unmittelbare Wärme scheint uns an-
zuwehen.
770. Wenn nun diese Farbe, in ihrer Reinheit und hel-
lem Zustande angenehm und erfreulich, in ihrer ganzen
Kraft aber etwas Heiteres und Edles hat, so ist sie da-
gegen äußerst empfindlich imd macht eine sehr unange-
nehme Wirkung, wenn sie beschmutzt oder einigermaßen
ins Minus gezogen wird. So hat die Farbe des Schwefels,
die ins Grüne fällt, etwas Unangenehmes.
771. Wenn die gelbe Farbe unreinen und unedlen Ober-
flächen mitgeteilt wird, wie dem gemeinen Tuch, dem
Filz und dergleichen, worauf sie nicht mit ganzer Energie
erscheint, entsteht eine solche unangenehme Wirkung.
Durch eine geringe und unmerkliche Bewegung wird der
schöne Eindruck des Feuers und Goldes in die Empfin-
dung des Kotigen verwandelt und die Farbe der Ehre
und Wonne zur Farbe der Schande, des Absehens und
Mißbehagens umgekehrt. Daher mögen die gelben Hüte
der Bankerottierer, die gelben Ringe auf den Mänteln
der Juden entstanden sein; ja die sogenannte Hahnrei -
färbe ist eigentlich nur ein schmutziges Gelb.
Rotgelb
772. Da sich keine Farbe als stillstehend betrachten
läßt, so kann man das Gelbe sehr leicht durch Verdich-
tung und Verdunklung ins RötHche steigern und erheben.
VI. SINNLICH- SITTLICHE WIRKUNG 2 2 1
Uie Farbe wächst an Energie und erscheint im Rotgelben
mächtiger und herrlicher.
773. Alles, was wir vom Gelben gesagt haben, gilt auch
hier, nur im höhern Grade. Das Rotgelbe gibt eigentlich
dem Auge das Gefühl von Wärme und Wonne, indem es
die Farbe der höhern Glut sowie den mildern Abglanz
der untergehenden Sonne repräsentiert. Deswegen ist sie
auch bei Umgebungen angenehm und als Kleidung in
mehr oder minderm Grade erfreulich oder herrlich. Ein
kleiner Blick ins Rote gibt dem Gelben gleich ein ander
Ansehn, und wenn Engländer und Deutsche sich noch
an blaßgelben hellen Lederfarben genügen lassen, so liebt
der Franzose, wie Pater Castel schon bemerkt, das ins
Rot gesteigerte Gelb; wie ihn überhaupt an Farben alles
freut, was sich auf der aktiven Seite befindet.
Gelbrot
774. Wie das reine Gelb sehr leicht in das Rotgelbe
hinübergeht, so ist die Steigerung dieses letzten ins
Gelbrote nicht aufzuhalten. Das angenehme heitre Ge-
fühl, das uns das Rotgelbe noch gewährt, steigert sich
bis zum unerträglich Gewaltsamen im hohen Gelb-
roten.
775. Die aktive Seite ist hier in ihrer höchsten Energie,
und es ist kein Wunder, daß energische, gesunde, rohe
Menschen sich besonders an dieser Farbe erfreuen. Man
hat die Neigung zu derselben bei wilden Völkern durch-
aus bemerkt. Und wenn Kinder, sich selbst überlassen,
zu illuminieren anfangen, so werden sie Zinnober und
Mennig nicht schonen.
776. Man darf eine vollkommen gelbrote Fläche stan
ansehen, so scheint sich die F'arbe wirklich ins Organ zu
bohren. Sie bringt eine unglaubliche Erschütterung her-
vor und behält diese Wirkung bei einem ziemlichen Grade
von Dunkelheit.
Die Erscheinung eines gelbroten Tuches beunruhigt und
erzürnt die Tiere. Auch habe ich gebildete Menschen
gekannt, denen es unerträglich fiel, wenn ihnen an
2 2 2 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL \
einem sonst grauen Tage jemand im Scharlachrock be-
gegnete.
777, Die Farben von der Minusseite sind Blau, Rotblau
und Blaurot. Sie stimmen zu einer unruhigen, weichen
und sehnenden Empfindung.
Blau
1l2>. So wie Gelb immer ein Licht mit sich führt, so
kann man sagen, daß Blau immer etwas Dunkles mit sich
führe.
779. Diese Farbe macht für das Auge eine sonderbare
und fast unaussprechliche Wirkung. Sie ist als Farbe eine
Energie; allein sie steht auf der negativen Seite und ist
in ihrer höchsten Reinheit gleichsam ein reizendes Nichts.
Es ist etwas Widersprechendes von Reiz und Ruhe im
Anblick.
780. Wie wir den hohen Himmel, die fernen Berge blau
sehen, so scheint eine blaue Fläche auch vor uns zurück-
zuweichen.
781. Wie wir einen angenehmen Gegenstand, der vor
uns flieht, gern verfolgen, so sehen wir das Blaue gern
an, nicht weil es auf uns dringt, sondern weil es uns nach
sich zieht.
782. Das Blaue gibt uns ein Gefühl von Kälte, so wie es
uns auch an Schatten erinnert. Wie es vom Schwarzen
abgeleitet sei, ist uns bekannt.
783. Zimmer, die rein blau austapeziert sind, erscheinen
gewissermaßen weit, aber eigentlich leer und kalt.
784. Blaues Glas zeigt die Gegenstände im traurigen
Licht.
785. Es ist nicht unangenehm, wenn das Blau einiger-
maßen vom Plus partizipiert. Das Meergrün ist vielmehr
eine liebliche Farbe.
Rotblau
786. Wie wir das Gelbe sehr bald in einer Steigerung
gefunden haben, so bemerken wir auch bei dem Blauen
dieselbe Eigenschaft.
VI. SINNLICH - SITFLICHE W IRKUNG 223
787. Das Blaue steigert sich sehr sanft ins Rote und er-
hält dadurch etwas Wirksames, ob es sich gleich auf der
passiven Seite befindet. Sein Reiz ist aber von ganz an-
drer Art als der des Rotgelben: er belebt nicht sowohl,
als daß er unruhig macht.
788. So wie die Steigerung selbst unaufhaltsam ist, so
wünscht man auch mit dieser Farbe immer fortzugehen,
nicht aber, wie beim Rotgelben, immer tätig vorwärts zu
schreiten, sondern einen Punkt zu finden, wo man aus-
ruhen könnte.
789. Sehr verdünnt kennen wir die Farbe unter dem
Namen Lila; aber auch so hat sie etwas Lebhaftes ohne
Fröhlichkeit.
Blaurot
790. Jene Unruhe nimmt bei der weiterschreitenden Stei-
gerung zu, und man kann wohl behaupten, daß eine Ta-
pete von einem ganz reinen gesättigten Blaurot eine Art
von unerträglicher Gegenwart sein müsse. Deswegen es
auch, wenn es als Kleidung, Band oder sonstiger Zierat
vorkommt, sehr verdünnt und hell angewendet wird, da
es denn seiner bezeichneten Natur nach einen ganz be-
sondem Reiz ausübt.
791. Indem die hohe Geistlichkeit diese unruhige Farbe
sich angeeignet hat, so dürfte man wohl sagen, daß sie
auf den unruhigen Stafi'eln einer immer vordringenden
Steigerung unaufhaltsam zu dem Kardinalpurpur hinauf-
strebe.
Rot
792. Man entferne bei dieser Benennung alles, was im
Roten einen Eindruck von Gelb oder Blau machen könnte.
Man denke sich ein ganz reines Rot, einen vollkomme-
nen, auf einer weißen Porzellanschale aufgetrockneten
Karmin. Wir haben diese Farbe ihrer hohen Würde
wegen manchmal Purpur genannt, ob wir gleichwohl
wissen, daß der Purpur der Alten sich mehr nach der
blauen Seite hinzog.
793. Wer die prismatische Entstehung des Purpurs kennt,
2 2 4 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
der wird nicht paradox finden, wenn wir behaupten, daß
diese Farbe teils actu, teils potentia alle andern Farben
enthalte.
794. Wenn wir beim Gelben und Blauen eine strebende
Steigerung ins Rote gesehen und dabei unsre Gefühle
bemerkt haben, so läßt sich denken, daß nun in der Ver-
einigung der gesteigerten Pole eine eigentliche Beruhi-
gung, die wir eine ideale Befriedigung nennen möchten,
stattfinden könne. Und so entsteht bei physischen Phä-
nomenen diese höchste aller Farbenerscheinungen aus
dem Zusammentreten zweier entgegengesetzten Enden,
die sich zu einer Vereinigung nach und nach selbst vor-
bereitet haben.
795. Als Pigment hingegen erscheint sie uns als ein
Fertiges und als das vollkommenste Rot in der Coche-
nille; welches Material jedoch durch chemische Behand-
lung bald ins Plus, bald ins Minus zu führen ist und allen-
falls im besten Karmin als völlig im Gleichgewicht stehend
angesehen werden kann.
796. Die Wirkung dieser Farbe ist so einzig wie ihre
Natur. Sie gibt einen Eindruck sowohl von Ernst und
Würde als von Huld und Anmut. Jenes leistet sie in
ihrem dunklen verdichteten, dieses in ihrem hellen ver-
dünnten Zustande. Und so kann sich die Würde des Al-
ters und die Liebenswürdigkeit der Jugend in eine Farbe
kleiden.
797. Von der Eifersucht der Regenten auf den Purpur
erzählt uns die Geschichte manches. Eine Umgebung von
dieser Farbe ist immer ernst und prächtig.
798. Das Purpurglas zeigt eine wohlerleuchtete Land-
schaft in furchtbarem Lichte. So müßte der Farbeton
über Erd und Himmel am Tage des Gerichts ausge-
breitet sein.
799. Da die beiden Materialien, deren sich die Färberei
zur Hervorbringimg dieser Farbe vorzüglich bedient, der
Kermes und die Cochenille, sich mehr oder weniger zum
Plus und Minus neigen, auch sich durch Behandlung mit
Säuren und Alkalien herüber- und hinüberführen lassen,
so ist zu bemerken, daß die Franzosen sich auf der wirk-
VI. SINxNLICH-SITTLICHE WIRKUNG 223
samen Seite halten, wie der französische Scharlach zeigt,
welcher ins Gelbe zieht, die Italiener hingegen auf der
passiven Seite verharren, so daß ihr Scharlach eine
Ahnung von Blau behält.
800. Durch eine ähnliche alkalische Behandlung ent-
steht das Karmesin, eine Farbe, die den Franzosen sehr
verhaßt sein muß, da sie die Ausdrücke sot en cramoisi^
mUhant efi cratnoisi als das Äußerste des Abgeschmackten
und Bösen bezeichnen.
Grün
801. Wenn man Gelb und Blau, welche wir als die er-
sten und einfachsten Farben ansehen, gleich bei ihrem
ersten Erscheinen auf der ersten Stufe ihrer Wirkung zu-
sammenbringt, so entsteht diejenige Farbe, welche wir
Grün nennen.
802. Unser Auge findet in derselben eine reale Befrie-
digung. Wenn beide Mutterfarben sich in der Mischung
genau das Gleichgewicht halten, dergestalt daß keine vor
der andern bemerklich ist, so ruht das Auge und das Ge-
müt auf diesem Gemischten wie auf einem Einfachen.
Man will nicht weiter, und man kann nicht weiter. Des-
wegen für Zimmer, in denen man sich immer befindet,
die grüne Farbe zur Tapete meist gewählt wird,
Totalität und Harmonie
803. Wir haben bisher zum Behuf unsres Vortrages an-
genommen, daß das Auge genötigt werden könne, sich
mit irgendeiner einzelnen Farbe zu identifizieren; allein
dies möchte wohl nur auf einen Augenblick möglich
sein.
804. Denn wenn wir uns von einer Farbe umgeben sehen,
welche die Empfindung ihrer Eigenschaft in unserm Auge
erregt und uns durch ihre Gegenwart nötigt, mit ihr in
einem identischen Zustande zu verharren, so ist es eine
gezwungene Lage, in welcher das Organ ungern ver-
weilt.
ÜOEXHE XVa 15.
2 2 6 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
805. Wenn das Auge die Farbe erblickt, so wird es
gleich in Tätigkeit gesetzt, und es ist seiner Natur ge-
mäß, auf der Stelle eine andre, so unbewußt als notwen-
dig, hervorzubringen, welche mit der gegebenen die To-
talität des ganzen Farbenkreises enthält. Eine einzelne
Farbe erregt in dem Auge durch eine spezifische Emp-
findung das Streben nach Allgemeinheit.
806. Um nun diese Totalität gewahr zu werden, um sich
selbst zu befriedigen, sucht es neben jedem farbigen
Raum einen farblosen, um die geforderte Farbe an dem-
selben hervorzubringen.
807. Hier liegt also das Grundgesetz aller Harmonie
der Farben, wovon sich jeder durch eigene Erfahrung
überzeugen kann, indem er sich mit den Versuchen, die
wir in der Abteilung der physiologischen Farben ange-
zeigt, genau bekannt macht.
808. Wird nun die Farbentotalität von außen dem Auge
als Objekt gebracht, so ist sie ihm erfreulich, weil ihm
die Summe seiner eignen Tätigkeit als Realität entgegen-
kommt. Es sei also zuerst von diesen harmonischen Zu-
sammenstellungen die Rede.
809. Um sich davon auf das leichteste zu imterrichten,
denke man sich in dem von uns angegebenen Farbenkreise
einen beweglichen Diameter und führe denselben im gan-
zen Kreise herum, so werden die beiden Enden nach
und nach die sich fordernden Farben bezeichnen, welche
sich denn freilich zuletzt auf drei einfache Gegensätze
zurückfuhren lassen.
810. Gelb fordert Rotblau,
Blau fordert Rotgelb,
Purpur fordert Grün
und umgekehrt. *
811. Wie der von uns supponierte Zeiger von der Mitte j
der von uns naturmäßig geordneten Farben wegrückt, j
ebenso rückt er mit dem andern Ende in der entgegen-
gesetzten Abstufung weiter, und es läßt sich durch eine j
solche Vorrichtung zu einer jeden fordernden Farbe die
geforderte bequem bezeichnen. Sich hiezu einen Far-
benkreis zu bilden, der nicht wie der unsre abgesetzt.
VI. SINNLICH- SITTLICHE WIRKUNG 227
sondern in einem stetigen Fortschritte die Farben und
ihre Übergänge zeigte, würde nicht unnütz sein: denn wir
stehen hier auf einem sehr wichtigen Punkt, der alle unsre
Aufmerksamkeit verdient.
812. Wurden wir vorher bei dem Beschauen einzelner
Farben gewissermaßen pathologisch affiziert, indem wir,
zu einzelnen Empfindungen fortgerissen, uns bald lebhaft
und strebend, bald weich und sehnend, bald zum Edlen
emporgehoben, bald zum Gemeinen herabgezogen fühl-
ten, so führt uns das Bedürfnis nach Totalität, welches
unserm Organ eingeboren ist, aus dieser Beschränkung
heraus; es setzt sich selbst in Freiheit, indem es den Gegen-
satz des ihm aufgedrungenen Einzelnen und somit eine
befriedigende Ganzheit hervorbringt.
813. So einfach also diese eigentlich harmonischen Gegen-
sätze sind, welche uns in dem engen Kreise gegeben wer-
den, so wichtig ist der Wink, daß uns die Natur durch
Totalität zur Freiheit heraufzuheben angelegt ist und daß
wir diesmal eine Naturerscheinung zum ästhetischen Ge-
brauch unmittelbar überliefert erhalten.
814. Indem wir also aussprechen können, daß der Far-
benkreis, wie wir ihn angegeben, auch schon dem Stoff
nach eine angenehme Empfindung hervorbringe, ist es der
Ort, zu gedenken, daß man bisher den Regenbogen mit
Unrecht als ein Beispiel der Farbentotalität angenommen:
denn es fehlt demselben die Hauptfarbe, das reine Rot,
der Purpur, welcher nicht entstehen kann, da sich bei die-
ser Erscheinung so wenig als bei dem hergebrachten pris-
matischen Bilde das Gelbrot und Blaurot zu erreichen ver-
mögen.
815. Überhaupt zeigt uns die Natur kein allgemeines
Phänomen, wo die Farbentotalität völlig beisammen wäre.
Durch Versuche läßt sich eiij solches in seiner vollkomm-
nen Schönheit hervorbringen. Wie sich aber die völlige
Erscheinung im Kreise zusammenstellt, machen wir uns
am besten durch Pigmente auf Papier begreiflich, bis wir,
bei natürlichen Anlagen und nach mancher Erfahrung und
Übung, uns endlich von der Idee dieser Harmonie völlig
penetriert und sie uns im Geiste gegenwärtig fühlen.
2 2 8 1 )1<:R FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TKI I .
Charakteristische Zusammeristelhingen
8 1 6 . Außer diesen rein harmonischen, aus sich selbst ent-
springenden Zusammenstellungen, welche immer Totalität
mit sich führen, gibt es noch andre, welche durch Willkür
hervorgebracht werden und die wir dadurch am leichte-
sten bezeichnen, daß sie in unserm Farbenkreise nicht
nach Diametern, sondern nach Chorden aufzufinden sind,
und zwar zuerst dergestalt, daß eine Mittelfarbe über-
sprungen wird.
817. Wir nennen diese Zusammenstellungen charakte-
ristisch, weil sie sämtlich etwas Bedeutendes haben, das
sich uns mit einem gewissen Ausdruck aufdringt, aber uns
nicht befriedigt, indem jedes Charakteristische nur da-
durch entsteht, daß es als ein Teil aus einem Ganzen
heraustritt, mit welchem es ein Verhältnis hat, ohne sich
darin aufzulösen.
818. Da wir die Farben in ihrer Entstehung sowie deren
harmonische Verhältnisse kennen, so läßt sich erwarten,
daß auch die Charaktere der willkürlichen Zusammen-
stellungen von der verschiedensten Bedeutung sein wer-
den. Wir wollen sie einzeln durchgehen.
Gelb und Blau
819. Dieses ist die einfachste von solchen Zusammen-
stellungen. Man kann sagen, es sei zu wenig in ihr: denn
da ihr jede Spur von Rot fehlt, so geht ihr zu viel von
der Totalität ab. In diesem Sinne kann man sie arm und,
da die beiden Pole auf ihrer niedrigsten Stufe stehn, ge-
mein nennen. Doch hat sie den Vorteil, daß sie zunächst
am Grünen und also an der realen Befriedigung steht.
Gelb und Purpur
820. Hat etwas Einseitiges, aber Heiteres und Prächtiges.
Man sieht die beiden Enden der tätigen Seite nebenein-
ander, ohne daß das stetige Werden ausgedrückt sei.
Da man aus ihrer Mischung durch Pigmente das Gelbrote
erwarten kann, so stehn sie gewissermaßen anstatt dieser
Farbe.
VI. SINNLICH -SITTLICHE WIRKUNG 229
Blau und Purpur
821. Die beiden Enden der passiven Seite mit dem Über-
gewicht des obern Endes nach dem aktiven zu. Da durch
Mischung beider das Blaurote entsteht, so wird der Effekt
dieser ZusammensteUung sich auch gedachter Farbe nähern,
Gelbrot und Blaurot
822. Haben, zusammengestellt, als die gesteigerten En-
den der beiden Seiten etwas Erregendes, Hohes. Sie
geben uns die Vorahnung des Purpurs, der bei physikali-
schen Versuchen aus ihrer Vereinigung entsteht.
823. Diese vier Zusammenstellungen haben also das Ge-
meinsame, daß sie, vermischt, die Zwischenfarben unseres
Farbenkreises hervorbringen würden; wie sie auch schon
tun, wenn die Zusammenstellung aus kleinen Teilen be-
steht und aus der Ferne betrachtet wird. Eine Fläche mit
schmalen blau- imd gelben Streifen erscheint in einiger
Entfernung grün.
824. Wenn nun aber das Auge Blau und Gelb neben-
einander sieht, so befindet es sich in der sonderbaren Be-
mühung, immer Grün hervorbringen zu wollen, ohne da-
mit zustande zu kommen und ohne also im Einzelnen
Ruhe oder im Ganzen Gefühl der Totalität bewirken zu
können,
825. Man sieht also, daß wir nicht mit Unrecht diese
Zusammenstellungen charakteristisch genannt haben, so
wie denn auch der Charakter einer jeden sich auf den
Charakter der einzelnen Farben, woraus sie zusammen-
gestellt ist, beziehen muß.
Charakterlose Zusammenstellungen
826. Wir wenden uns nun zu der letzten Art der Zu-
sammenstellungen, welche sich aus dem Kreise leicht
herausfinden lassen. Es sind nämlich diejenigen, welche
durch kleinere Chorden angedeutet werden, wenn man
nicht eine ganze Mittelfarbe, sondern nur den Übergang
aus einer in die andere überspringt.
827. Man kann diese Zusammenstellungen wohl die cha-
2 3 o DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHfi:R TEIL
rakterlosen nennen, indem sie zu nahe aneinander liegen,
als daß ihr Eindruck bedeutsam werden könnte. Doch
behaupten die meisten immer noch ein gewisses Recht,
da sie ein Fortschreiten andeuten, dessen Verhältnis aber
kaum fühlbar werden kann.
828. So drücken Gelb und Gelbrot, Gelbrot und Purpur,
Blau und Blaurot, Blaurot und Purpur die nächsten Stufen
der Steigerung und Kulmination aus und können in ge-
wissen Verhältnissen der Massen keine üble Wirkung
tun.
829. Gelb und Grün hat immer etwas Gemein-Heiteres,
Blau und Grün aber immer etwas Gemein-Widerliches;
deswegen unsre guten Vorfahren diese letzte Zusammen-
stellung auch Narrenfarbe genannt haben.
Bezug der Zusammenstellungen zu Hell und Dunkel
830. Diese Zusammenstellungen können sehr vermannig-
faltigt werden, indem man beide Farben hell, beide Far-
ben dunkel, eine Farbe hell, die andre dunkel zusammen-
bringen kann; wobei jedoch, was im allgemeinen gegolten
hat, in jedem besondern Falle gelten muß. Von dem un-
endlich Mannigfaltigen, was dabei stattfindet, erwähnen
wir nur F^olgendes.
831. Die aktive Seite, mit dem Schwarzen zusammenge-
stellt, gewinnt an Energie; die passive verliert. Die ak-
tive, mit dem Weißen und Hellen zusammengebracht, ver-
liert an Kraft; die passive gewinnt an Heiterkeit. Purpur
und Grün mit Schwarz sieht dunkel und düster, mit Weiß
hingegen erfreulich aus.
832. Hierzu kommt nun noch, daß alle Farben mehr oder
weniger beschmutzt, bis auf einen gewissen Grad unkennt-
lich gemacht und so teils unter sich selbst, teils mit rei-
nen Farben zusammengestellt werden können, wodurch
zwar die Verhältnisse unendlich variiert werden, wobei
aber doch alles gilt, was von den reinen gegolten hat.
Historische Betrachtungen
833. Wenn in dem Vorhergehenden die Grundsätze der
Farbenharmonie vorcretragen worden, so wird es nicht
VI. SINNLICH- SriTLICHE WIRKUNG 231
zweckwidrig sein, wenn wir das dort Ausgesprochene in
Verbindung mit Erfahrungen und Beispielen nochmals
wiederholen.
834. Jene Grundsätze waren aus der menschlichen Natur
und aus den anerkannten Verhältnissen der Farbenerschei-
nungen abgeleitet. In der Erfahrung begegnet uns man-
ches, was jenen Grundsätzen gemäß, manches, was ihnen
widersprechend ist.
835. Naturmenschen, rohe Völker, Kinder haben große
Neigung zur Farbe in ihrer höchsten Energie und also
besonders zu dem Gelbroten. Sie haben auch eine Nei-
gung ziun Bunten. Das Bunte aber entsteht, wenn die Far-
ben in ihrer höchsten Energie ohne harmonisches Gleich-
gewicht zusammengestellt worden. Findet sich aber dieses
Gleichgewicht durch Instinkt oder zufällig beobachtet, so
entsteht eine angenehme Wirkung. Ich erinnere mich,
daß ein hessischer Offizier, der aus Amerika kam, sein Ge-
sicht nach Art der Wilden mit reinen Farben bemalte,
wodurch eine Art von Totalität entstand, die keine unan-
genehme Wirkung tat.
836. Die Völker des südlichen Europas tragen zu Klei-
dern sehr lebhafte Farben. Die Seidenwaren, welche sie
leichten Kaufs haben, begünstigen diese Neigung. Auch
sind besonders die Frauen mit ihren lebhaftesten Miedern
und Bändern immer mit der Gegend in Harmonie, indem
sie nicht imstande sind, den Glanz des Himmels und der
Erde zu überscheinen,
837. Die Geschichte der Färberei belehrt uns, daß bei
den Trachten der Nationen gewisse technische Bequem-
lichkeiten und Vorteile sehr großen Einfluß hatten. So
sieht man die Deutschen viel in Blau gehen, weil es eine
dauerhafte Farbe des Tuches ist, auch in manchen Gegen-
den alle Landleute in grünem Zwillich, weil dieser ge-
dachte Farbe gut annimmt. Möchte ein Reisender hierauf
achten, so würden ihm bald angenehme und lehrreiche
Beobachtungen gelingen.
838. Farben, wie sie Stimmungen hervorbringen, fügen
sich auch zu Stimmungen und Zuständen. Lebhafte Na-
tionen, z. B, die Franzosen, lieben die gesteigerten Farben,
2 3 2 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
besonders der aktiven Seite; gemäßigte, als Engländer und
Deutsche, das Stroh- oder Ledergelb, wozu sie Dunkel-
blau tragen. Nach Würde strebende Nationen, als Italiener
und Spanier, ziehen die rote Farbe ihrer Mäntel auf die
passive Seite hinüber.
839. Man bezieht bei Kleidungen den Charakter der Farbe
auf den Charakter der Person. So kann man das Verhält-
nis der einzelnen Farben und Zusammenstellungen zu Ge-
sichtsfarbe, Alter und Stand beobachten.
840. Die weibliche Jugend hält auf Rosenfarb und Meer-
grün, das Alter auf Violett und Dunkelgrün. Die Blondine
hat zu Violett und Hellgelb, die Brünette zu Blau und
Gelbrot Neigung, und sämtlich mit Recht.
Die römischen Kaiser waren auf den Purpur höchst eifer-
süchtig. Die Kleidung des chinesischen Kaisers ist Orange,
mit Purpur gestickt. Zitronengelb dürfen auch seine Be-
dienten mid die Geistlichen tragen.
841. Gebildete Menschen haben einige Abneigung vor
Farben. Es kann dieses teils aus Schwäche des Organs,
teils aus Unsicherheit des Geschmacks geschehen, die sich
gern in das völlige Nichts flüchtet. Die Frauen gehen nun-
mehr fast durchgängig weiß und die Männer schwarz.
842. Überhaupt aber steht hier eine Beobachtung nicht
am unrechten Platze, daß der Mensch, so gern er sich
auszeichnet, sich auch ebenso gern unter seinesgleichen
verlieren mag.
843. Die schwarze Farbe sollte den venezianischen Edel-
mann an eine republikanische Gleichheit erinnern.
844. Inwiefern der trübe nordische Himmel die Farben
nach und nach vertrieben hat, ließe sich vielleicht auch
noch untersuchen.
845. Man ist freilich bei dem Gebrauch der ganzen Far-
ben sehr eingeschränkt, dahingegen die beschmutzten,
getöteten, sogenannten Modefarben unendlich viele ab-
weichende Grade imd Schattierungen zeigen, wovon die
meisten nicht ohne Anmut sind.
846. Zu bemerken ist noch, daß die Frauenzimmer bei
ganzen Farben in Gefahr kommen, eine nicht ganz leb-
hafte Gesichtsfarbe noch unscheinbarer zu machen; wie
VI. SINNLICH -SriTLICHE WIRKUNG 233
sie denn überhaupt genötigt sind, sobald sie einer glän-
zenden Umgebung das Gleichgewicht halten sollen, ihre
Gesichtsfarbe durch Schminke zu erhöhen.
847. Hier wäre nun noch eine artige Arbeit zu machen
übrig, nämlich eine Beurteilung der Uniformen, Livreen,
Kokarden und andrer Abzeichen nach den oben aufge-
stellten Grundsätzen. Man könnte im allgemeinen sagen,
daß solche Kleidungen oder Abzeichen keine harmoni-
schen Farben haben dürfen. Die Uniformen sollten Cha-
rakter und Würde haben; die Livreen können gemein und
ins Auge fallend sein. An Beispielen von guter und schlech-
ter Art würde es nicht fehlen, da der Farbenkreis eng und
schon oft genug durchprobiert worden ist.
Ästhetische Wirkung
848. Aus der sinnlichen und sittlichen Wirkung der Far-
ben, sowohl einzeln als in Zusammenstellung, wie wir sie
bisher vorgetragen haben, wird nun für den Künstler die
ästhetische Wirkung abgeleitet. Wir wollen auch darüber
die nötigsten Winke geben, wenn wir vorher die allge-
meine Bedingung malerischer Darstellung, Licht und Schat-
ten, abgehandelt, woran sich die Farbenerscheinung un-
mittelbar anschließt.
Helldunkel
849. Das Helldunkel, clair-obscur, nennen wir die Er-
scheinung körperlicher Gegenstände, wenn an denselben
nur die Wirkung des Lichtes und Schattens betrachtet
wird.
850. Im engern Sinne wird auch manchmal eine Schatten-
partie, welche durch Reflexe beleuchtet wird, so genannt;
doch wir brauchen hier das Wort in seinem ersten, allge-
meinern Sinne.
851. Die Trennung des Helldunkels von aller Farben-
erscheinung ist möglich und nötig. Der Künstler wird das
Rätsel der Darstellung eher lösen, wenn er sich zuerst
das Helldunkel unabhängig von Farben denkt und dasselbe
in seinem ganzen Umfange kennen lernt
2 34 I^ER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
852. Das Helldunkel macht den Körper als Körper er-
scheinen, indem uns Licht und Schatten von der Dichtig-
keit belehrt.
853. Es kommt dabei in Betracht das höchste Licht, die
Mitteltinte, der Schatten, und bei dem letzten wieder der
eigene Schatten des Körpers, der auf andre Körper ge-
worfene Schatten, der erhellte Schatten oder Reflex.
854. Zum natürlichsten Beispiel für das Helldunkel wäre
die Kugel günstig, um sich einen allgemeinen Begriff zu
bilden, aber nicht hinlänglich zum ästhetischen Gebrauch,
Die verfließende Einheit einer solchen Rundung führt zum
Nebulistischen. Um Kunstwirkungen zu erzwecken, müs-
sen an ihr Flächen hervorgebracht werden, damit die Teile
der Schatten- und Lichtseite sich mehr in sich selbst ab-
sondern.
855. Die Italiener nennen dieses il piazzoso; man könnte
es im Deutschen das Flächenhafte nennen. Wenn nun
also die Kugel ein vollkommenes Beispiel des natürlichen
Helldunkels wäre, so würde ein Vieleck ein Beispiel des
künstlichen sein, wo alle Arten von Lichtern, Halblich-
tern, Schatten und Reflexen bemerklich wären,
856. Die Traube ist als ein gutes Beispiel eines male-
rischen Ganzen im Helldunkel anerkannt, um so mehr,
als sie ihrer Form nach eine vorzügliche Gruppe darzu-
stellen imstande ist; aber sie ist bloß für den Meister
tauglich, der das, was er auszuüben versteht, in ihr zu
sehen weiß.
857. Um den ersten Begriff faßlich zu machen, der selbst
von einem Vieleck immer noch schwer zu abstrahieren
ist, schlagen wir einen Kubus vor, dessen drei gesehene
Seiten das Licht, die Mitteltinte und den Schatten abge-
sondert nebeneinander vorstellen.
858. Jedoch um zum Helldunkel einer zusammengesetz-
tem Figur überzugehen, wählen wir das Beispiel eines
aufgeschlagenen Buches, welches uns einer größern Man-
nigfaltigkeit näherbringt.
859. Die antiken Statuen aus der schönen Zeit findet man
zu solchen Wirkungen höchst zweckmäßig gearbeitet. Die
Lichtpartien sind einfach behandelt, die Schattenseiten
VI. SINNLICH-SITTLICHE WIRKUNG 235
desto mehr unterbrochen, damit sie für mannigfaltige Re-
flexe empfänglich würden; wobei man sich des Beispiels
vom Vieleck erinnern kann.
860. Beispiele antiker Malerei geben hierzu die Herkü-
lanischen Gemälde und die Aldobrandinische Hochzeit.
861. Moderne Beispiele finden sich in einzelnen Figuren
Raffaels, an ganzen Gemälden Correggios, der nieder-
ländischen Schule, besonders des Rubens.
Streben zur Farbe
862. Ein Kunstwerk schwarz und weiß kann in der Ma-
lerei selten vorkommen. Einige Arbeiten von Polydor
geben uns davon Beispiele, sowie unsre Kupferstiche und
geschabten Blätter. Diese Arten, insofern sie sich mit For-
men und Haltung beschäftigen, sind schätzenswert; allein
sie haben wenig Gefälliges fürs Auge, indem sie nur durch
eine gewaltsame Abstraktion entstehen.
863. Wenn sich der Künstler seinem Gefühl überläßt, so
meldet sich etwas Farbiges gleich. Sobald das Schwarze
ins Blauliche fällt, entsteht eine Forderung des Gelben,
das denn der Künstler instinktmäßig verteilt luid, teils
rein in den Lichtern, teils gerötet und beschmutzt als Braun
in den Reflexen, zu Belebung des Ganzen anbringt, wie
es ihm am rätlichsten zu sein scheint.
864. Alle Arten von Camai'eu, oder Färb in Farbe, laufen
doch am Ende dahin hinaus, daß ein geforderter Gegen-
satz oder irgendeine farbige Wirkung angebracht wird. So
hat Polydor in seinen schwarz- und weißen Freskogemälden
ein gelbes Gefäß oder sonst etwas derart eingeführt.
865. Überhaupt strebten die Menschen in der Kunst in-
stinktmäßig jederzeit nach Farbe. Man darf nur täglich
beobachten, wie Zeichenlustige von Tusche oder schwar-
zer Kreide auf weiß Papier zu farbigem Papier sich stei-
gern, dann verschiedene Kreiden anwenden und endlich
ins Pastell übergehen. Man sah in unsern Zeiten Gesich-
ter, mit Silberstift gezeichnet, durch rote Bäckchen belebt
und mit farbigen Kleidern angetan, ja Silhouetten in bun-
ten Uniformen. Paolo Uccello malte farbige Landschafter
zu farblosen Figuren.
2 3 6 DKR FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
866. Selbst die Bildhauerei der Alten konnte diesem Trieb
nicht widerstehen. Die Ägypter strichen ihre Basreliefs
an. Den Statuen gab man Augen von farbigen Steinen.
Zu marmornen Köpfen und Extremitäten fügte man por-
phyrne Gewänder, so wie man bunte Kalksinter zum
Sturze der Brustbilder nahm. Die Jesuiten verfehlten nicht,
ihren heiligen Aloysius in Rom auf diese Weise zusammen-
zusetzen, und die neuste Bildhauerei unterscheidet das
Fleisch durch eine Tinktur von den Gewändern.
Haltung
867. Wenn die Linearperspektive die Ab.stufung der Ge-
genstände in scheinbarer Größe durch Entfernung zeigt,
so läßt uns die Luftperspektive die Abstufung der Gegen-
stände in mehr oder minderer Deutlichkeit durch Entfer-
nung sehen.
868. Ob wir zwar entfernte Gegenstände nach der Natur
unsres Auges nicht so deutlich sehen als nähere, so ruht
doch die Laftperspektive eigentlich auf dem wichtigen
Satz, daß alle durchsichtigen Mittel einigermaßen trübe
sind.
869. Die Atmosphäre ist also immer mehr oder weniger
trüb. Besonders zeigt sie diese Eigenschaft in den süd-
lichen Gegenden bei hohem Barometerstand, trocknem
Wetter und wolkenlosem Himmel, wo man eine sehr merk-
hche Abstufung wenig auseinander stehender Gegenstände
beobachten kann.
870. Im allgemeinen ist diese Erscheinimg jedermann
bekannt; der Maler hingegen sieht die Abstufung bei den
geringsten Abständen oder glaubt sie zu sehen. Er stellt
sie praktisch dar, indem er die Teile eines Körpers, z. B.
eines völlig vorwärts gekehrten Gesichtes, voneinander
abstuft. Hiebei behauptet Beleuchtung ihre Rechte. Diese
kommt von der Seite in Betracht, sowie die Haltung von
vorn nach der Tiefe zu.
Kolorit
871. Indeuo wir nunmehr zur Farbengebung übergehen
setzen wir voraus, daß der Maler überhaupt mit dem Ent -
VI. SlNiNLlCH-SriTLlCHE \VlRKüNG 237
wurf unserer Farbenlehre bekannt sei und sich gewisse
Kapitel und Rubriken, die ihn vorzüglich berühren, wohl
zu eigen gemacht habe: denn so wird er sich imstande
befinden, das Theoretische sowohl als das Praktische, im
Erkennen der Natur und im Anwenden auf die Kunst,
mit Leichtigkeit zu behandeln.
Kolorit des Orts
872. Die erste Erscheinung des Kolorits tritt in der Na-
tur gleich mit der Haltung ein: denn die Luftperspektive
beruht auf der Lehre von den trüben Mitteln. Wir sehen
den Himmel, die entfernten Gegenstände, ja die nahen
Schatten blau. Zugleich erscheint uns das Leuchtende und
Beleuchtete stufenweise gelb bis zur Purpurfarbe. In man-
chen Fällen tritt sogleich die physiologische Forderung
der Farben ein, und eine ganz farblose Landschaft wird
durch diese mit- und gegeneinander wirkenden Bestim-
mungen vor unserm Auge völlig farbig erscheinen.
Kolorit der Gegenstände
873. Lokalfarben sind die allgemeinen Elementarfarben,
aber nach den Eigenschaften der Körper und ihrer Ober-
flächen, an denen wir sie gewahr werden, spezifiziert.
Diese Spezifikation geht bis ins unendliche.
874. Es ist ein großer Unterschied, ob man gefärbte Seide
oder Wolle vor sich hat. Jede Art des Bereitens und We-
bens bringt schon Abweichungen hervor. Rauhigkeit,
Glätte, Glanz kommen in Betrachtung.
875. Es ist daher ein der Kunst sehr schädliches Vorur-
teil, daß der gute Maler keine Rücksicht auf den Stoff der
Gewänder nehmen, sondern nur immer gleichsam ab-
strakte Falten malen müsse. Wird nicht hierdurch alle
charakteristische Abwechslung aufgehoben, und ist das
Porträt von Leo X. deshalb weniger trefflich, weil auf
diesem Bilde Samt, Atlas und Mohr nebeneinander nach-
geahmt ward.^
876. Bei Naturprodukten erscheinen die Farben mehr
oder weniger modifiziert, spezifiziert, ja individualisiert;
238 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
welches bei Steinen und Pflanzen, bei den Federn der
Vögel und den Haaren der Tiere wohl zu beobachten ist.
877. Die Hauptkunst des Malers bleibt immer, daß er die
Gegenwart des bestimmten Stoffes nachahme und das All-
gemeine, Elementare der Farbenerscheinung zerstöre. Die
höchste Schwierigkeit findet sich hier bei der Oberfläche
des menschlichen Körpers.
878. Das Fleisch steht im ganzen auf der aktiven Seite;
doch spielt das Blauliche der passiven auch mit herein.
Die Farbe ist durchaus ihrem elementaren Zustande ent-
rückt und durch Organisation neutralisiert.
879. Das Kolorit des Ortesund das Kolorit der Gegen-
stände in Harmonie zu bringen, wird nach Betrachtung
dessen, was von uns in der Farbenlehre abgehandelt wor-
den, dem geistreichen Künstler leichter werden, als bis-
her der Fall war, und er wird imstande sein, unendlich
schöne, mannigfaltige und zugleich wahre Erscheinungen
darzustellen.
Charakteristisches Kolorit
880. Die Zusammenstellung farbiger Gegenstände sowohl
als die Färbung des Raums, in welchem sie enthalten
sind, soll nach Zwecken geschehen, welche der Künstler
sich vorsetzt. Hiezu ist besonders die Kenntnis der Wir-
kung der Farben auf Empfindung, sowohl im einzelnen
als in Zusammenstellung, nötig. Deshalb sich denn der
Maler von dem allgemeinen Duahsm sowohl als von den
besondern Gegensätzen penetrieren soll; wie er denn
überhaupt wohl innehaben müßte, was wir von den Ei-
genschaften der Farben gesagt haben.
881. Das Charakteristische kann unter drei Hauptru-
briken begriffen werden, die wir einstweilen durch das
Mächtige, das Sanfte und das Glänzende bezeichnen
wollen.
882. Das erste wird durch das Übergewicht der aktiven,
das zweite durch das Übergewicht der passiven Seite, das
dritte durch Totalität und Darstellung des ganzen Farben -
kreises im Gleichgewicht hervorgebracht.
883. Der mächtige Effekt wird erreicht durch Gelb, Gelb-
VI. SINNLICH-SnrLlCHE WIRKUNG 239
rot und Purpur, welche letzte Farbe auch noch auf der
Plusseite zu halten ist. Wenig Violett und Blau, noch
weniger Grün ist anzubringen. Der sanfte Effekt wird
durch Blau, Violett und Purpur, welcher jedoch auf die
Minusseite zu führen ist, hervorgebracht. Wenig Gelb und
Gelbrot, aber viel Grün kann stattfinden.
884. Wenn man also diese beiden Effekte in ihrer vollen
Bedeutung hervorbringen will, so kann man die geforder-
ten Farben bis auf ein Minimum ausschließen und nur so
viel von ihnen sehen lassen, als eine Ahnimg der Tota-
lität unweigerlich zu verlangen scheint.
Harmonisches Kolorit
885. Obgleich die beiden charakteristischen Bestimmun-
gen nach der eben angezeigten Weise auch gewisser-
maßen harmonisch genannt werden können, so entsteht
doch die eigentliche harmonische Wirkung nur alsdann,
wenn alle Farben nebeneinander im Gleichgewicht ange-
bracht sind.
886. Man kann hiedurch das Glänzende sowohl als das
Angenehme hervorbringen, welche beide jedoch immer
etwas Allgemeines und in diesem Sinne etwas Charakter-
loses haben werden.
887. Hierin liegt die Ursache, warum das Kolorit der
meisten Neuern charakterlos ist; denn indem sie nur ihrem
Instinkt folgen, so bleibt das Letzte, wohin er sie führen
kann, die Totalität, die sie mehr oder weniger erreichen,
dadurch aber zugleich den Charakter versäumen, den das
Bild allenfalls haben könnte.
888. Hat man hingegen jene Grundsätze im Auge, so
sieht man, wie sich für jeden Gegenstand mit Sicherheit
eine andre Farbenstimmung wählen läßt. Freilich fordert
die Anwendung unendliche Modifikationen, welche dem
Genie allein, wenn es von diesen Grundsätzen durchdrun-
gen ist, gelingen werden.
Echter Ton
889. Wenn man das Wort Ton oder vielmehr Tonart auch
noch künftig von der Musik borgen und bei der Farben-
2 40 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
gebung brauchen will, so wird es in einem bessern Sinne
als bisher geschehen können.
890. Man würde nicht mit Unrecht ein Bild von mäch-
tigem Effekt mit einem musikaHschen Stücke aus dem Dur-
Ton, ein Gemälde von sanftem Effekt mit einem Stücke
aus dem Moll-Ton vergleichen, so wie man für die Modi-
fikation dieser beiden Haupteflfekte andre Vergleichungen
finden könnte.
Falscher Ton
891. Was man bisher Ton nannte, war ein Schleier von
einer einzigen Farbe über das ganze Bild gezogen. Man
nahm ihn gewöhnlich gelb, indem man aus Instinkt das
Bild auf die mächtige Seite treiben wollte.
892. Wenn man ein Gemälde durch ein gelbes Glas an-
sieht, so wird es uns in diesem Ton erscheinen. Es ist der
Mühe wert, diesen Versuch zu machen und zu wieder-
holen, um genau kennen zu lernen, was bei einer solchen
Operation eigentlich vorgeht. Es ist eine Art Nachtbe-
leuchtung, eine Steigerung, aber zugleich Verdüsterung
der Plusseite und eine Beschmutzung der Minusseite.
893. Dieser unechte Ton ist durch Instinkt aus Unsicher-
heit dessen, was zu tun sei, entstanden, so daß man an-
statt der Totalität eine Uniformität hervorbrachte.
Schwaches Kolorit
894. Eben diese Unsicherheit ist Ursache, daß man die
Farben der Gemälde so sehr gebrochen hat, daß man aus
dem Grauen heraus und in das Graue hinein malt und die
Farbe so leise behandelt als möglich.
895. Man findet in solchen Gemälden oft die harmoni-
schen Gegenstellungen recht glücklich, aber ohne Mut,
weil man sich vor dem Bunten fürchtet.
Das Bunte
89 6. Bunt kann ein Gemälde leicht werden, in welchem
man bloß empirisch, nach unsichern Eindrücken, die Far-
ben in ihrer ganzen Kraft nebeneinander stellen wollte.
VI. SINNLICH- SriTLICHE WIRKUNG 241
897. Wenn man dagegen schwache, obgleich widrige Far-
ben nebeneinander setzt, so ist freilich der Effekt nicht
auffallend. Man trägt seine Unsicherheit auf den Zuschauer
hinüber, der denn an seiner Seite weder loben noch tadeln
kann.
898. Auch ist es eine wichtige Betrachtung, daß man
zwar die Farben unter sich in einem Bilde richtig aufstel-
len könne, daß aber doch ein Bild bunt werden müsse,
wenn man die Farben in bezug auf Licht und Schatten
falsch anwendet.
899. Es kann dieser Fall um so leichter eintreten, als
Licht und Schatten schon durch die Zeichnung gegeben
und in derselben gleichsam enthalten ist, dahingegen die
Farbe der Wahl und Willkür noch unterworfen bleibt.
Fufcht vor dem llieoretischen
900. Man fand bisher bei den Malern eine Furcht, ja eine
entschiedene Abneigung gegen alle theoretische Betrach-
tungen über die Farbe und was zu ihr gehört, welches
ihnen jedoch nicht übel zu deuten war. Denn das bisher
sogenannte Theoretische war grundlos, schwankend und
auf Empirie hindeutend. Wir wünschen, daß unsre Be-
mühungen diese Furcht einigermaßen vermindern und den
Künstler anreizen mögen, die aufgestellten Grundsätze
praktisch zu prüfen und zu beleben.
Letzter Zweck
901. Denn ohne Übersicht des Ganzen wird der letzte
Zweck nicht erreicht. Von allem dem, was wir bisher vor-
getragen, durchdringe sich der Künstler. Nur durch die
Einstimmung des Lichtesund Schattens, der Haltung, der
wahren und charakteristischen Farbengebung kann das
Gemälde von der Seite, von der wir es gegenwärtig be-
trachten, als vollendet erscheinen.
Grimde
902. Es war die Art der altern Künstler, auf hellen Grund
zu malen. Er bestand aus Kreide und wurde auf Lein-
wand oder Holz stark aufgetragen und poliert. Sodann
GOETHE XVn 16.
242 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
wurde der Umriß aufgezeichnet und das Bild mit einer
schwärzlichen oder bräunlichen Farbe ausgetuscht. Der-
gleichen auf diese Art zum Kolorieren vorbereitete Bilder
sind noch übrig von Leonardo da Vinci, Fra Bartolommeo
und mehrere von Guido.
903. Wenn man zur Kolorierung schritt und weiße Ge-
wänder darstellen wollte, so ließ man zuweilen diesen
Grund stehen. Tizian tat es in seiner spätem Zeit, wo
er die große Sicherheit hatte und mit wenig Mühe viel zu
leisten wußte. Der weißliche Grund wurde als Mitteltinte
behandelt, die Schatten aufgetragen und die hohen Lich-
ter aufgesetzt.
904. Beim Kolorieren war das untergelegte, gleichsam
getuschte Bild immer wirksam. Man malte z. B, ein Ge-
wand mit einer Lasurfarbe, und das Weiße schien durch
und gab der Farbe ein Leben, so wie der schon früher
zum Schatten angelegte Teil die Farbe gedämpft zeigte,
ohne daß sie gemischt oder beschmutzt gewesen wäre.
905. Diese Methode hatte viele Vorteile. Denn an den
lichten Stellen des Bildes hatte man einen hellen, an den
beschatteten einen dunkeln Grund. Das ganze Bild war
vorbereitet; man konnte mit leichten Farben malen, und
man war der Übereinstimmung des Lichtes mit den Far-
ben gewiß. Zu unsern Zeiten ruht die Aquarellmalerei auf
diesen Grundsätzen.
906. Übrigens wird in der Ölmalerei gegenwärtig durch-
aus ein heller Grund gebraucht, weil Mitteltinten mehr
oder weniger durchsichtig sind und also durch einen hel-
len Grund einigermaßen belebt, so wie die Schatten selbst
nicht so leicht dunkel werden.
907. Auf dunkle Gründe malte man auch eine Zeitlang.
Wahrscheinlich hat sie Tintoret eingeführt; ob Giorgione
sich derselben bedient, ist nicht bekannt. Tizians beste
Bilder sind nicht auf dunkeln Grund gemalt.
908. Ein solcher Grund war rotbraun, und wenn auf den-
selben das Bild aufgezeichnet war, so wurden die stärk-
sten Schatten aufgetragen, die Lichtfarben impastierte
man auf den hohen Stellen sehr stark und vertrieb sie
gegen den Schatten zu; da denn der dunkle Grund durch
VI. SINNLICH- SITTLICHE WIRKUNG 243
die verdünnte Farbe als Mitteltinte durchsah. Der Effekt
wurde beim Ausmalen durch mehrmaliges Übergehen der
lichten Partien und Aufsetzen der hohen Lichter erreicht.
909. Wenn diese Art sich besonders wegen der Geschwin-
digkeit bei der Arbeit empfiehlt, so hat sie doch in der
Folge viel Schädliches. Der energische Grund wächst und
wird dunkler; was die hellen Farben nach und nach an
Klarheit verlieren, gibt der Schattenseite immer mehr und
mehr Übergewicht. Die Mitteltinten werden immer dunk-
ler und der Schatten zuletzt ganz finster. Die stark auf-
getragenen Lichter bleiben allein hell, und man sieht nur
lichte Flecken auf dem Bilde, wovon uns die Gemälde
der Bolognesischen Schule und des Caravaggio genüg-
same Beispiele geben,
910. Auch ist nicht imschicklich, hier noch zum Schlüsse
des Lasierens zu erwähnen. Dieses geschieht, wenn man
eine schon aufgetragene Farbe als hellen Grund betrach-
tet. Man kann eine Farbe dadurch fürs Auge mischen, sie
steigern, ihr einen sogenannten Ton geben; man macht
sie dabei aber immer dunkler.
Pigmente
911. Wir empfangen sie aus der Hand des Chemikers
und Naturforschers. Manches ist darüber aufgezeichnet
und durch den Druck bekannt geworden, doch verdiente
dieses Kapitel von Zeit zu Zeit neu bearbeitet zu werden.
Indessen teilt der Meister seine Kenntnisse hierüber dem
Schüler mit, der Künstler dem Künstler.
912. Diejenigen Pigmente, welche ihrer Natur nach die
dauerhaftesten sind, werden vorzüglich ausgesucht, aber
auch die Behandlungsart trägt viel zur Dauer des Bildes
bei. Deswegen sind so wenig Farbenkörper als möglich
anzuwenden und die simpelste Methode des Auftrags nicht
genug zu empfehlen.
913. Denn aus der Menge der Pigmente ist manches Übel
für das Kolorit entsprungen. Jedes Pigment hat sein eigen-
tümliches Wesen in Absicht seiner Wirkung aufs Auge,
ferner etwas Eigentümliches, wie es technisch behandelt
sein will. Jenes ist Ursache, daß die Harmonie schwerer
2 44 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
durch mehrere als durch wenige Pigmente zu erreichen ist;
dieses, daß chemische Wirkung und Gegenwirkung unter
den Farbekörpern stattfinden kann.
914. Ferner gedenken wir noch einiger falschen Rich-
tungen, von denen sich die Künstler hinreißen lassen. Die
Maler begehren immer nach neuen Farbekörpern und
glauben, wenn ein solcher gefunden wird, einen Vorschritt
in der Kunst getan zu haben. Sie tragen großes Verlan-
gen, die alten mechanischen Behandlungsarten kennen zu
lernen, wodurch sie viel Zeit verHeren; wie wir uns denn
zu Ende des vorigen Jahrhunderts mit der Wachsmalerei
viel zu lange gequält haben. Andre gehen darauf aus,
neue Behandlungsarten zu erfinden, wodurch denn auch
weiter nichts gewonnen wird. Denn es ist zuletzt doch nur
der Geist, der jede Technik lebendig macht.
Allegorischer^ symbolischer^ mystischer Gebrauch der Farbe
915. Es ist oben umständlich nachgewiesen worden, daß
eine jede Farbe einen besondern Eindruck auf den Men-
schen mache und dadurch ihr Wesen sowohl dem Auge
als Gemüt offenbare. Daraus folgt sogleich, daß die Farbe
sich zu gewissen sinnlichen, sittlichen, ästhetischen Zwek-
ken anwenden lasse.
916. Einen solchen Gebrauch also, der mit der Natur
völlig übereinträfe, könnte man den symbolischen nennen,
indem die Farbe ihrer Wirkung gemäß angewendet würde
und das wahre Verhältnis sogleich die Bedeutung aus-
spräche. Stellt man z. B. den Purpur als die Majestät be-
zeichnend auf, so wird wohl kein Zweifel sein, daß der
rechte Ausdruck gefunden worden; wie sich alles dieses
schon oben hinreichend auseinandergesetzt findet.
917. Hiermit ist ein anderer Gebrauch nahe verwandt,
den man den allegorischen nennen könnte. Bei diesem
ist mehr Zufälliges und Willkürliches, ja man kann sagen,
etwas Konventionelles, indem uns erst der Sinn des Zei-
chens überliefert werden muß, ehe wir wissen, was es be-
deuten soll, wie es sich z. B. mit der grünen Farbe ver-
hält, die man der Hoffnung zugeteilt hat.
918. Daß zuletzt auch die Farbe eine mystische Deutung
VI. SINNLICH -srrrLicHp: Wirkung 245
erlaube, läßt sich wohl ahnen. Denn da jenes Schema,
worin sich die Farbenmannigfaltigkeit darstellen läßt,
solche Urverhältnisse andeutet, die sowohl der mensch-
lichen Anschauung als der Natur angehören, so ist wohl
kein Zweifel, daß man sich ihrer Beziige, gleichsam als
einer Sprache, auch da bedienen könne, wenn man Ur-
verhältnisse ausdrücken will, die nicht ebenso mächtig
und mannigfaltig in die Sinne fallen. Der Mathematiker
schätzt den Wert und Gebrauch des Triangels; der Tri-
angel steht bei dem Mystiker in großer Verehrung, gar
manches läßt sich im Triangel schematisieren und die
Farbenerscheinung gleichfalls, und zwar dergestalt, daß
man durch Verdopplung und Verschränkung zu dem alten
geheimnisvollen Sechseck gelangt.
919. Wenn man erst das Auseinandergehen des Gelben
und Blauen wird recht gefaßt, besonders aber die Stei-
gerung ins Rote genugsam betrachtet haben, wodurch das
Entgegengesetzte sich gegeneinander neigt und sich in
einem Dritten vereinigt, dann wird gewiß eine besondere
geheimnisvolle Anschauung eintreten, daß man diesen
beiden getrennten, einander entgegengesetzten Wesen
eine geistige Bedeutung unterlegen könne, und man wird
sich kaum enthalten, wenn man sie imterwärts das Grün
und oberwärts das Rot hervorbringen sieht, dort an die
irdischen, hier an die himmlischen Ausgeburten der Elo-
him zu gedenken.
920. Doch wir tun besser, uns nicht noch zum Schlüsse
dem Verdacht der Schwärmerei auszusetzen, um so mehr,
als es, wenn unsre Farbenlehre Gunst gewinnt, an alle-
gorischen, symbolischen und mystischen Anwendungen
und Deutungen dem Geiste der Zeit gemäß gewiß nicht
fehlen wird.
Schlußwort
Indem ich diese Arbeit, welche mich lange genug beschäf-
tigt, doch zuletzt nur als Entwurf gleichsam aus dem Steg-
reife herauszugeben im Falle bin und nun die vorstehen-
den gedruckten Bogen durchblättere, so erinnere ich mich
des Wunsches, den ein sorgfältiger Schriftsteller vormals
2 46 DER FARBENLEHRE DIDAKTISCHER TEIL
geäußert, daß er seine Werke lieber zuerst ins Konzept
gedruckt sähe, um alsdann aufs neue mit frischem Blick
an das Geschäft zu gehen, weil alles Mangelhafte uns im
Drucke deutlicher entgegenkomme als selbst in der sau-
bersten Handschrift.
Um wie lebhafter mußte bei mir dieser Wunsch entstehen,
da ich nicht einmal eine völlig reinliche Abschrift vor
dem Druck durchgehen konnte, da die sukzessive Redak-
tion dieser Blätter in eine Zeit fiel, welche eine ruhige
Sammlung des Gemüts unmöglich machte.
Wie vieles hätte ich daher meinen Lesern zu sagen, wo-
von sich doch manches schon in der Einleitung findet.
Femer wird man mir vergönnen, in der Geschichte der
Farbenlehre auch meiner Bemühungen und der Schick-
sale zu gedenken, welche sie erduldeten.
Hier aber stehe wenigstens eine Betrachtung vielleicht
nicht am unrechten Orte, die Beantwortung der Frage:
was kann derjenige, der nicht im Fall ist, sein ganzes
Leben den Wissenschaften zu widmen , doch für die Wissen-
schaften leisten und wirken? was kann er als Gast in einer
fremden Wohnung zum Vorteile der Besitzer ausrichten?
Wenn man die Kunst in einem höhern Sinne betrachtet,
so möchte man wünschen, daß nur Meister sich damit ab-
gäben, daß die Schüler auf das strengste geprüft würden,
daß Liebhaber sich in einer ehrfurchtsvollen Annäherung
glücklich fühlten. Denn das Kunstwerk soll aus dem
Genie entspringen, der Künstler soll Gehalt und Form aus
der Tiefe seines eigenen Wesens hervorrufen, sich gegen
den Stoff beherrschend verhalten und sich der äußern
Einflüsse nur zu seiner Ausbildtmg bedienen.
Wie aber dennoch aus mancherlei Ursachen schon der
Künstler den Dilettanten zu ehren hat, so ist es bei wissen-
schaftlichen Gegenständen noch weit mehr der Fall, daß
der Liebhaber etwas Erfreuliches und Nützliches zu lei-
sten imstande ist. Die Wissenschaften ruhen weit mehr
auf der Erfahrung als die Kunst, und zum Erfahren ist
gar mancher geschickt. Das Wissenschaftliche wird von
vielen Seiten zusammengetragen und kann vieler Hände,
vieler Köpfe nicht entbehren. Das Wissen läßt sich über-
VI. SINNLICH- SrnXICHE WIRKUNG 247
liefern, diese Schätze können vererbt werden, und das
von eineyn Erworbene werden manche sich zueignen. Es
ist daher niemand, der nichtseinen Beitrag den Wissen-
schaften anbieten dürfte. Wie vieles sind wir nicht dem
Zufall, dem Handwerk, einer augenblicklichen Aufmerk-
samkeit schuldig! Alle Naturen, die mit einer glücklichen
Sinnlichkeit begabt sind, Frauen, Kinder, sind fähig, uns
lebhafte und wohlgefaßte Bemerkungen mitzuteilen.
In der Wissenschaft kann also nicht verlangt werden, daß
derjenige, der etwas für sie zu leisten gedenkt, ihr das
ganze Leben widme, sie ganz überschaue und umgehe,
welches überhaupt auch für den Eingeweihten eine hohe
Forderung ist. Durchsucht man jedoch die Geschichte der
Wissenschaften überhaupt, besonders aber die Geschichte
der Naturwissenschaft, so findet man, daß manches Vor-
züglichere von einzelnen in einzelnen Fächern, sehr oft von
Laien geleistet worden.
Wohin irgend die Neigung, Zufall oder Gelegenheit den
Menschen führt, welche Phänomene besonders ihm auf-
fallen, ihm einen Anteil abgewinnen, ihn festhalten, ihn
beschäftigen, immer wird es zum Vorteil der Wissenschaft
sein. Denn jedes neue Verhältnis, das an den Tag kommt,
jede neue Behandlungsart, selbst das Unzulängliche, selbst
der Irrtum ist brauchbar oder aufregend und für die Folge
nicht verloren.
In diesem Sinne mag der Verfasser denn auch mit einiger
Beruhigung auf seine Arbeit zurücksehen; in dieser Betrach-
tung kann er wohl einigen Mut schöpfen zu dem, was zu
tun noch übrig bleibt und, zwar nicht mit sich selbst zu-
frieden, doch in sich selbst getrost, das Geleistete und zu
Leistende einer teilnehmenden Welt und Nachwelt emp-
fehlen.
Multi pertransibunt tt augebitur scientia.
STATT DES VERSPROCHENEN
SUPPLEMENTAREN TEILS
[Zur Farbenlehre. Zweiter Band. 1810]
IVtr stammen unser sechs Geschwister
Von einem wunder sa?iien Paar,
Die Mutter ewig ernst und düster,
Der Vater fröhlich immerdar;
Von beideti erbten wir die Tugend,
Von ihr die Milde, voti ihm den Glanz:
So drehn wir uns in ewiger Jugend
Um dich herum im Zirkeltanz.
Gern meiden wir die schwarzen Höhlen
Und lieben uns dm heitern Tag,
V/ir sind es, die die Welt beseelen
Mit unsers Lebens Zauberschlag.
Wir sind des Frühlings lustge Boten
Und führen seinen munterji Reihn;
Drum fliehen wir das Haus der Toten,
Denn um uns her muß Leben sein.
Uns mag kein Glücklicher entbehren,
Wir sind dabei, wo fnan sich freut.
Und läßt der Kaiser sich verehren,
Wir leihen ihm die Herrlichkeit.
Schiller
IN der Vorrede des ersten Bandes haben wir zu den drei
nunmehr beendigten Teilen unsres Werkes, dem didak-
tischen, polemischen, historischen, noch einen vierten,
supplementären versprochen, welcher sich bei einer sol-
chen Unternehmung allerdings nötig macht; und es wird
daher, in doppeltem Sinne, einer Entschuldigung bedür-
fen, daß derselbe nicht gegenwärtig mit den übrigen zu-
gleich erscheint.
Ohne zu gedenken, wie lange diese Bände, die man hier
dem Publikum übergibt, vorbereitet waren, dürfen wir
wohl bemerken, daß schon vor vier Jahren der Druck der-
selben angefangen und durch so manche öfifentliche und
häusliche, durch geistige und körperliche, wissenschaft-
hche und technische Hindernisse verspätet worden.
Abermals nähert sich mit dem Frühjahr derjenige Termin,
an welchem die stillen Früchte gelehrten Fleißes durch den
Buchhandel verbreitet werden, eben zu der Zeit, als die
drei ersten Teile unserer chromatischen Arbeit die Presse
verlassen und mit den dazu gehörigen Tafeln ausgestattet
STATT DES VERSPROCH. SUPPLEM. TEILS 249
worden. Der dritte Teil ist zur Stärke eines ganzen Ban-
des herangewachsen, dessen größere Hälfte er eigentlich
nur ausmachen sollte, und es scheint daher wohl rätlich,
die Herausgabe des so weit Gediehenen nicht aufzuschie-
ben, indem die vorliegende Masse groß genug ist, um als
eine nicht ganz unwerte Gabe der teilnehmenden Welt an-
geboten zu werden.
Was jedoch von einem supplementären Teile zu erwarten
stehe, wollen wir hier mit wenigem bemerken. Eine Re-
vision des Didaktischen kann auf mancherlei Weise statt-
finden. Denn wir werden im Laufe einer solchen Arbeit
mit Phänomenen bekannt, die, wenn auch nicht neu oder
von solcher Bedeutung, daß sie unerwartete Aufschlüsse
geben, doch mehr als andere sich zu Repräsentanten von
vielen Fällen qualifizieren und sich daher gerade in ein
Lehrbuch aufgenommen zu werden vorzüglich eignen, weil
man das Didaktische von allen Einzelnheiten, allem Zwei-
deutigen und Schwankenden so viel als möglich zu reinigen
hat, um dasselbe immer sicherer und bedeutender zu
machen.
Hierdurch wird auch dasjenige, was allein Methode zu
nennen ist, immer vollkommener. Denn je mehr die ein-
zelnen Teile an innerem Werte wachsen, desto reiner und
sicherer schließen sie aneinander, und das Ganze ist leichter
zu übersehen, dergestalt daß zuletzt die höhern theoreti-
schen Einsichten von selbst und unerwartet hervor- und
dem Betrachter entgegentreten.
Die Beschreibung des Apparats wäre sodann das Not-
wendigste. Denn obgleich die Haupterfordernisse bei den
Versuchen selbst angegeben sind und eigentlich nichts
vorkommt, was außerhalb der Einsicht eines geschickten
Mechanikers und Experimentators läge, so würde es doch
gut sein, auf wenigen Blättern zu übersehen, was man denn
eigentlich bedürfe, um die sämthchen Phänomene, auf
welche es ankommt, bequem hervorzubringen. Und frei-
lich sind hiezu Hülfsmittel der verschiedensten Art nötig.
Auch hat man diesen Apparat, wenn er sich einmal bei-
sammen befindet, so gut als jeden andern, ja vielleicht
noch mehr, in Ordnung zu halten, damit man zu jeder
2 5 o ZUR FARBENLEHRE
Zeit die verlangten Versuche anstellen und vorlegen könne.
Denn es wird künftig nicht wie bisher die Ausrede gelten,
daß durch gewisse Versuche, vor hundert Jahren in Eng-
land angestellt, alles hinlänghch auch für uns bewiesen
und abgetan sei. Nicht weniger ist zu bedenken, daß, ob
wir gleich die Farbenlehre der freien Natur wiederzugeben I
so viel als möglich bemüht gewesen, doch ein geräumiges
Zimmer, welches man nach Belieben erhellen und ver-
finstern kann, nötig bleibt, damit man für sich und andere,
sowohl die Lehre als die Kontrovers, befriedigend durch
Versuche und Beispiele belegen könne. Diese ganz un-
erläßliche Einrichtung ist von der Art, daß sie einem Privat-
manne beschwerlich werden müßte; deswegen darf man sie
wohl Universitäten und Akademien der Wissenschaften zur
Pflicht machen, damit statt des alten Wortkrams die Er-
scheinungen selbst und ihre wahren Verhältnisse dem Wiß-
begierigen anschaulich werden.
Was den polemischen Teil betrifft, so ist demselben noch
eine Abhandlung hinzuzufügen über dasjenige, was vor-
geht, wenn die so nahe verwandten Werkzeuge, Prismen
und Linsen, vereinigt gebraucht werden. Es ist zwar höchst
einfach und wäre von einem jeden leicht einzusehen, wenn
nicht Newton und seine Schüler auch hier einen völlig
willkürlichen Gebrauch der Werkzeuge zu ganz entgegen-
gesetzten Zwecken eingeführt hätten. Denn einmal sollen
auf diesem Wege die farbigen Lichter völlig separiert, ein
andermal wieder völlig vereinigt werden: welches denn
beides nicht geleistet wird noch werden kann.
An diese Betrachtungen schließt sich unmittelbar eine
andere. Es ist nämlich die Frage, was in einer Glas- oder
Wasserkugel durch Refraktion oder Reflexion gewirkt wer-
de, damit wir das so merkwürdige als schöne Phänomen
des Regenbogens erblicken. Auch mit diesem hat man,
wie mit so vielem andern, fertig und ins reine zu sein
geglaubt. Wir hingegen sind überzeugt, daß man den
Hauptpunkt vernachlässigt, welchen Antonius de Do-
minis bei seiner Behandlung dieses Gegenstandes schon
sicher und entschieden ausgesprochen.
Zu dem historischen Teile Ueßen sich auch mancherlei
STATT DES VERSPROCH. SUPPLEM. TEILS 251
Supplemente geben. Zuerst wären Zitate nachzubringen,
gar mancherlei Verbesserungen in Namen, Jahrzahlen und
andern kleinen Angaben. Bei manchem Artikel könnte
sogar eine neue Bearbeitung stattfinden, wie wir z. B. das
über Keplern Gesagte gegenwärtig bedeutender und
zweckgemäßer auszuführen uns getrauten.
Auch mit Rubriken und kurzen Inhaltsanzeigen kleinerer
Schriften ließen sich diese historisch-literarischen Mate-
rialien um vieles vermehren, von denen hier manches weg-
geblieben, was uns einen gewissen Bezug versteckt hätte,
der aus einer Hintereinanderstellung bedeutender Schrif-
ten eines Zeitraums von sich selbst, ohne weiteres Räso-
nieren und Pragmatisieren, hervorzugehen schien.
Soll jedoch dereinst das Geschichtliche einen unmittel-
baren Einfluß auf das Didaktische erlangen, so wäre jenes
einmal nach den Abteilungen, Rubriken, Kapiteln des
Entwurfs gedrängt aufzuführen, wodurch die Zeitenfolge
zwar aufgehoben, die Folge und Übereinstimmung des
Sinnes hingegen sich desto deutlicher zeigen würde. Der
liberal Gesinnte, nicht auf seiner Persönlichkeit undEigen-
heit Verharrende würde mit Vergnügen auch hier bemer-
ken, daß nichts Neues unter der Sonne, daß das Wissen
und die Wissenschaft ewig sei, daß das wahrhaft Bedeu-
tende darin von unsern Vorfahren, wo nicht immer er-
kannt und ergriffen, doch wenigstens geahndet und das
Ganze der Wissenschaft, so wie jeder Tüchtigkeit und
Kunst, von ihnen empfunden, geschätzt und nach ihrer
Weise geübt worden.
Doch wäre vielleicht vor allem andern noch das Geschicht-
liche der letzten zwanzig Jahre nachzubringen, obgleich
keine sonderliche Ausbeute davon zu hoffen steht. Das
Bedeutende darunter, die Wirkung farbiger Beleuchtung
betreffend, welche Herschel wieder zur Sprache gebracht,
wird in einem Aufsatze, den wir Herrn Dr. Seebeck in
Jena verdanken, hier zum Schlüsse mitgeteilt. Das selt-
sam Unerfreuhche, durch welches Wünsch neue Verwirrung
in der Farbenlehre angerichtet, ist bei Erklärung der Ta-
feln in seine ersten Elemente aufgelöst und dabei das Nö-
tige erinnert worden.
2 52 ZUR FARBENLEHRE
Der andern, minder wirksamen Äußerungen möchte ich
überhaupt gegenwärtig nicht gerne, so wenig als dessen,
was sich auf mich bezieht, gedenken. Teils hat man ge-
sucht, durch ein mißwoUendesVerschweigen, meine frühem
Bemühungen gänzlich auszulöschen, welches um so mehr
tunlich schien, als ich selbst seit vielen Jahren nichts direkt
deshalb zur Sprache brachte. Teils hat man von meinen
Ansichten, die ich seit ebenso langer Zeit im Leben und
Gespräch gern mitteilte, in größern und kleineren Schriften
eine Art von Halbgebrauch gemacht, ohne mir die Ehre
zu erzeigen, meiner dabei zu gedenken. Dieses alles zu
rügen, deutlich zu machen, wie auf diese Weise die gute
Sache retardiert und diskreditiert worden, würde zu un-
freundlichen Erklärungen Anlaß geben, und ich könnte
denn doch, da ich mit meinen Vorfahren und mit mir selbst
streng genug umgegangen, die Mitlebenden nicht wohl
schonender behandeln.
Viel besser und auch wohl gelinder macht sich dies in der
folgenden Zeit, wenn sich erst ergeben wird, ob dieses
Werk sich Eingang verschafft und was für Wirkungen es
hervorbringt. Die Farbenlehre scheint überhaupt jetzt an
die Tagesordnung zu kommen. Außer dem, was Runge in
Hamburg als Maler bereits gegeben, verspricht Klotz in
München gleichfalls von der Kunstseite her einen ansehn-
lichen Beitrag. Placidus Heinrich zu Regensburg läßt ein
ausführhches Werk erwarten, und mit einem schönen Auf-
satz über die Bedeutung der Farben in der Natur hat uns
Steffens beschenkt. Diesem möchten wir vorzüglich die
gute Sache empfehlen, da er in die Farbenwelt von der
chemischen Seite hereintritt und also mit freiem, unbe-
fangenem Mut sein Verdienst hier betätigen kann. Nichts
von allem soll uns unbeachtet bleiben: wir bemerken, was
für und gegen uns, was mit und wider uns erscheint, wer
den antiquierten Irrtum zu wiederholen trachtet, oder wer
das alte und vorhandene Wahre erneut und belebt, und
wohl gar unerwartete Ansichten durch Genie oder Zufall
eröffnet, um eine Lehre zu fördern, deren abgeschlossener
Kreis sich vielleicht vor vielen andern ausfüllen und voll-
enden läßt.
STAIT DES VERSPROCH. SUPPLEM. TEILS 253
Was diesen frommen Wünschen und Hoffnungen entgegen-
steht, ist mir nicht unbekannt. Der Sache würde nicht
dienlich sein, es hier ausdrückhch auszusprechen. Einige
Jahre belehren uns hierüber am besten, und man vergönne
mir nur Zeit, zu überlegen, ob es vorteilhafter sei, die
teils notwendigen, teils nutzbaren Supplemente zusammen
in einem Bande oder heftweise nach Gelegenheit heraus-
zugeben.
Wirkung farbiger Beleuchtung
Ob wir uns schon aus oben erwähnten Ursachen enthal-
ten, desjenigen umständlich zu gedenken, was seit den
letzten zwanzig Jahren in unserm Fache vorgekommen,
so dürfen wir doch den bedeutendsten Punkt nicht über-
gehen, welchen Herschel besonders wieder in Anregung
gebracht, wir meinen die Wirkung farbiger Beleuchtung
auf Leuchtsteine, Metalloxyde und Pflanzen: ein Kapitel,
das, in unserm Entwürfe nur skizziert, in der Chemie immer
von größerer Bedeutung werden muß. Wir können unsre
Pflicht hierin nicht besser erfüllen, als wenn wir einen
ausführlichen Aufsatz von Herrn Dr. Seebeck zu Jena ein-
rücken, der von dem scharfen und treuen Beobachtungs-
geiste des Verfassers sowie von dessen unvergleichlicher
Gabe zu experimentieren ein schönes Zeugnis ablegt, und
bei Freunden der Wissenschaft den Wunsch erregen wird,
der Verfasser möge sich immer in dem Falle befinden,
seinem natürlichen und beurkundeten Forscherberufe zu
folgen.
Wirkung farbiger Beleuchtung auf verschiedene Arten von
Leuchtsteinen
Zu diesen Versuchen bediente ich mich folgender künst-
licher Leuchtsteine oder Phosphoren.
1 . Barytphosphoren, nach Marggrafs bekannter Angabe be-
reitet. Die vollkommensten von diesen leuchteten, nach-
dem sie dem Sonnen- oder auch bloß dem Tageshchte aus-
gesetzt worden, geibrot, wie schwach glühende Kohlen.
2. Phosphoren aus künstlichem schwefelsaurem Strontian,
2 54 ZUR FARBENLEHRE
ganz auf dieselbe Weise wie die vorigen, mit Gummi
Traganth im freien Feuer des Windofens präpariert.
Diese leuchteten meergrün, einige Stücke schwach bläu-
lich.
3, Nach Cantons Vorschrift aus gebrannten Austerschalen
zubereitete Kalkphosphoren, welche größtenteils hellgelb
leuchteten. Einige von diesen gaben reines Rosenrot, an-
dere ein blasses Violett.
Der Glanz und die Lebhaftigkeit der Farbe der Phosphoren
steht mit der Intensität des exzitierenden Lichtes in direk-
tem Verhältnis; je schwächer dieses ist, desto schwächer
und blässer phosphoreszieren jene im Dunkeln; ja in sehr
schwachem Lichte, z. B. im Mondlichte, werden sie fast
ganz farblos, weißlich leuchtend.
Diese Phosphoren wurden nach der Reihe den verschie-
denen prismatischen Farben ausgesetzt. Im Blau und Violett
wurden alle sogleich leuchtend, doch war ihr Licht auf
keine Weise verändert: die Barytphosphoren erschienen
im Dunkeln gelbrot, die neuen Strontianphosphoren meer-
grün, usw. vollkommen so, wie sie dem reinen Sonnen-
lichte ausgesetzt leuchteten. Im Blauen wurden sie nur
wenig schwächer leuchtend als im Violett. Hart über dem
Violett, wo kaum eine Farbe zu erkennen ist, nahmen sie
einen ebenso lebhaften Glanz an als im Violett. Im Grün
wurden sie beträchtlich schwächer leuchtend als im Blau,
im Gelben noch viel schwächer und im Rot am schwäch-
sten, und zwar wurden sie hier mehrenteils nur weißlich
leuchtend. Auch unter dem Rot nahmen die Phosphoren
häufig einen Glanz an.
So verhielten sich die Leuchtsteine und auch noch an-
dere leuchtende Körper in den Farbengespenstern einer
beträchtlichen Anzahl Glasprismen, unter denen einige
höchst vollkommen waren. Im Gelb und Rot derselben
wurden gute Leuchtsteine zwar leuchtend (noch bei einer
fünf bis sechs Linien breiten Öffnung im Laden und in ei-
nem Abstände von neun bis zwölf Fuß vom Prisma); doch
immer sehr viel schwächer als im Blau und Violett. Wenn
die Öffnung im Laden noch kleiner war, etwa zwei Linien
im Durchmesser betrug, so wurden mehrere Leuchtsteine
STATT DES VERSPROCH. SUPPLEiM. TEILS 255
in dem eben erwähnten Abstände im Rot nicht mehr leuch-
tend, im Blau und Violett aber wurden sie es.
Versuche mit farbigen Gläsern
Ein dickes dunkelblaues Glas, durch welches nur hell er-
leuchtete Gegenstände eben zu erkennen waren, wurde
vor den von der Sonne beschienenen Laden der dunkeln
Kammer befestigt und ein Bononischer Leuchtstein in
das einfallende Licht gehalten; er wurde im Augenblick
leuchtend, und zwar wie gewöhnlich gelbrot. Die übrigen
Leuchtsteine verhielten sich ebenso.
Nun wurde ein gelbrotes Glas, wodurch man vollkommen
alle Gegenstände erkennen konnte, in den Laden gesetzt
und die Leuchtseine in dies helle gelbrote Licht gelegt;
aber keiner von allen wurde leuchtend, wie lange sie auch
in diesem Lichte bheben.
EinLeuchtstein wurde durch reines Sonnenlicht zumPhos-
phoreszieren gebracht und die Zeit bemerkt, welche bis
zu seinem völligen Erlöschen verfloß. Dies währte etwa
zehn Minuten. Er wurde hierauf nochmals in der Sonne
leuchtend gemacht und dann sogleich in das durch das
gelbrote Glas einfallende Licht gehalten. Er verlosch hier
nicht nur völlig, sondern auch in beträchtlich kürzerer
Zeit als für sich im Dunkeln; schon nach ein bis zwei
Minuten konnte man keinen Schein mehr an diesem Phos-
phor erkennen. Je lebhafter die Sonne schien, desto schnel-
ler erfolgte das Erlöschen unter dem gelbroten Glase.
Wenn schon aus diesen Versuchen die entgegengesetzte
Wirkung der gelbroten und blauen Beleuchtung unwider-
sprechlich hervorging, so wurde sie noch glänzender durch
folgende Vorrichtung bestätigt.
Ich stellte in das durch das gelbrote Glas einfallende
Sonnenlicht eine Linse von vier Zoll und brachte in den
Fokus derselben einen auf das lebhafteste glänzenden
Barytphosphor; er erlosch hier sogleich, wie eine in Wasser
getauchte Kohle. Selbst die empfindlichsten und dauernd-
sten Leuchtsteine, z. B. die grünlichen Strontianphos-
phoren, wurden hier in wenigen Sekunden lichtlos. Man
braucht die Leuchtsteine nicht einmal völlig in den Fo-
256 ZUR FARBENLEHRE
kus zu bringen, auch außer demselben erlöschen sie schon
nach einigen Sekunden.
Statt des gelbroten Glases wurde hierauf eine stärkere
blaue Scheibe, durch welche man noch alle Gegenstände
erkennen konnte, in den Laden befestigt, die nämliche
Linse davor gestellt und in den Fokus derselben ein
dunkler, nicht leuchtender Erdphosphor gehalten; er wurde !
hier sogleich glühend, und wohl so stark als im hellesten
Sonnenschein.
Auch das prismatische Rot wirkt, wie schon Wilson und
später Davy und Ritter bemerkt hatten, lichtschwächend
auf die Phosphoren. Nach meinen Erfahrungen erlöschen
sie hier gemeinhin nicht völlig, sondern kommen nur in
etwas kürzerer Zeit auf den schwachen Lichtzustand zu-
rück, den sie an dieser Stelle annehmen. Ist die Öffnung
im Laden sehr klein, so werden, wie schon oben ange-
führt, die Phosphoren, bei einer gewissen Entfernung vom
Prisma, in dem Rot desselben nicht mehr leuchtend, aber
dann wirkt auch diese Beleuchtung überhaupt nicht; die
Phosphoren erlöschen hier nicht schneller als für sich im
Dunkeln. Im Blau und Violett dagegen werden die Leucht-
steine in dem angegebenen Abstände noch leuchtend;
hieraus folgt also, daß die deprimierende Kraft des Roten
und Gelben früher abnimmt als die exzitierende des Blauen
und Violetten. Doch auch diese hört in einer größern Ent-
fernung vom Prisma auf, und dort existiert nur für das
Auge noch ein wirksames Farbenbild.
Wie das Licht der Sonne, so wirkt auch jedes andere
Licht durch die genannten farbigen Gläser auf die Leucht-
steine, wenn es nur überhaupt Intensität genug hat, ein
Leuchten in den Steinen zu erregen. Es ist bekannt, daß
die Bononischen und Cantonschen Phosphoren durch den
Funken der Leydener Flasche leuchtend werden. Man
läßt, um dies zu bewirken, gemeiniglich den Schlag
durch den Phosphor gehen. Dies ist jedoch nicht nötig;
auch wenn er sich in hermetisch verschlossenen Glas-
röhren befindet und einen Zoll, ja noch tiefer unter den
Kugeln des allgemeinen Ausladers liegt, so wird er wäh-
rend der Explosion der Flasche leuchtend.
STA'l"r DES VERSPROCH. SUPPLEM. TEILS 257
Zwei Leuchtsteine von gleicher Güte wurden, einer in
gelbroter, der andere in dunkelblauer Glasröhre einen Zoll
unter die Kugeln des allgemeinen Ausladers gelegt und
eine Flasche mittelst desselben entladen. Als der Funke
überschlug, wurde der Leuchtstein in der dunkelblauen
Röhre sogleich leuchtend, der in der gelbroten Glasröhre
dagegen blieb dunkel.
Diese Versuche, welche ich öfters wiederholt habe, be-
weisen zugleich, daß die Elektrizität, indem sie die Phos-
phoren leuchtend macht, nur als Licht wirkt, daher denn
auch lichtlose Elektrizität keinen Erdphosphor oder ähn-
lichen leuchtenden Körper zum Phosphoreszieren bringt.
Hierüber und über das Leuchten als chemischen Prozeß
an einem andern Orte mehr.
Die genannten Phosphoren und überhaupt alle Substanzen ,
welche im Dunkeln glühend erscheinen, nachdem sie dem
Licht der Sonne oder einer andern starken Beleuchtung
ausgesetzt werden, leuchten schon in diesem Lichte selbst.
Hiervon kann man sich am besten überzeugen, wenn man
Erdphosphoren, welche einzelne nichtleuchtende Stellen
haben, dem durch ein recht dunkelblaues oder violettes
Glas einfallenden Sonnenlichte entgegenhält; die leuch-
tenden Stellen, besonders die gelbrot leuchtenden der
Bononischen Phosphoren, sieht man nun deutlich glühen,
in dem Augenblicke wie sie ins Licht kommen (ja die
empfindlichem schon in einiger Entfernung von dem vollen
Lichte), die nichtleuchtenden Stellen dagegen haben die
Farbe des Glases, sehen blau oder violett aus. Vor dem
gelbroten Glase, wo sie bekanntlich nicht leuchtend wer-
den, erscheinen sie ganz einfarbig. Das Leuchten im Dun-
keln ist also nur ein Beharren in dem Zustande, den der
fremde leuchtende Körper hervorrief, ein Nachklingen,
Verklingen.
Vorstehendes will Beccaria anders gefunden haben; nach
ihm wurde der Bologneser Phosphor unter allen farbigen
Gläsern leuchtend, und zwar glänzte er im Dunkeln mit
rotem Lichte, wenn er unter roten Gläsern, und mit blauem
Lichte, wenn er unter blauen Gläsern dem Sonnenlicht
GOETHE XVII 17.
2 5 8 ZUR FARBENLEHRE
war ausgesetzt worden. — Woher nun diese abweichenden,
ja ganz entgegengesetzten Resultate? — Die beste Auf-
klärung hierüber gibt die Geschichte dieser Entdeckung,
welche auch durch ihren Zusammenhang mit dem Streit
über die Newtonische Lehre interessant ist.
Zanotti stellte die ersten Versuche über die Wirkung des
farbigen Lichtes auf den Bononischen Phosphor an ( 1 7 2 8).
Erwartend, daß er mit der Farbe des ihn trefifenden Lichtes
leuchten werde, hielt er ihn für vorzüglich geschickt, den
Streit der Cartesianer und Newtonianer über die Natur
des Lichts zur Entscheidung zu bringen. Algarotti, ein
eifriger Anhänger Newtons, wohnte diesen Versuchen bei.
Sie ließen die prismatischen Farben auf ihrebestenLeucht-
steine fallen, allein sie konnten, "wie auch der Strahl ge-
färbt war", keinen Unterschied wahrnehmen, der Stein
leuchtete schwach und '■'■nahm keinesweges die Farbe des
Lichtes an, in welches er gehaltefi worden''\ woraus Zanotti
den Schluß zog, "daß der Phosphor durch sein eigentüm-
liches Licht glänze, und daß dieses durch das von außen
auffallende Licht nur belebt werde". Er fügte hinzu, "daß
aus diesen Versuchen sich nichts beweisen lasse, und daß
sich beide Hypothesen damit vertrügen". (Zanottis Ab-
handlung steht in denComment.Bonon.Vol.VL p. 205.)
Hiermit hatte man sich beruhigt, bis 1 7 7 o Joh. Bapt. Becca-
ria in Turin mit neuen Versuchen auftrat. Er verfertigte,
wie erzählt wird, künstliche Leuchtsteine, welche den Stein
von Bologna weit übertrafen, setzte diese unter farbigen
Gläsern dem Sonnenlichte aus und versicherte, daß seine
Phosphoren unter blauem Glase blau, unter rotem Glase
rot geleuchtet hätten. (Philos. Transact. LXL p. 112.)
Diese Entdeckung machte großes Aufsehen und wurde von
den Newtonianern gut aufgenommen. Priestley (in seiner
Geschichte der Optik p. 267) erklärte: "durch diese Ver-
suche sei nun außer Streit gesetzt, daß der Phosphor eben
dasselbe Licht, welches er empfängt, und kein anderes
von sich gebe, und hierdurch sei auch bewiesen, daß das
Licht aus körperlichen Teilen bestehe, weil es eingesogen,
angehalten und wieder zurückgegeben werden könne".
Mehrere Physiker wiederholten Beccarias Versuche, doch
STATT DES VERSPROCH. SUPPLEM. TEILS 259
keinem gelangen sie. Wilson vor allen gab sich viele
Mühe. Magellan verschaffte ihm von Beccaria eine sehr
genaue Beschreibung der Versuche mit allen Umständen,
beide wiederholten die Versuche nochmals, "aber alle
ihre Unternehmungen waren umsonst", nie sahen sie die
Phosphoren mit der Farbe des Glases leuchten. (Von Wilsons
interessanten Versuchen findet man einen Auszug in Geh-
lers Sammlung zur Physik und Naturgeschichte, i. Band.)
Euler mischte sich auch in den Streit; er fand Wilsons
Versuche seiner Lehre vom Licht günstig und behauptete,
die Newtonische Theorie der Farben werde hierdurch
gänzlich über den Haufen geworfen. Die Newtonianer
erwiderten: Euler habe keine Ursache zu triumphieren,
Beccaria verdiene ebensoviel Glauben als Wilson, und
dann wären ja auch unter Wilsons Versuchen mehrere,
die nach der Eulerschen Theorie ebensowenig erklärt wer-
den könnten. Es wurden indessen mehrere mißlungene
Versuche bekannt, und es blieb nun denen, die sich mit
Beccaria retten wollten, nichts übrig als zu behaupten,
die Gegner hätten keine so guten Leuchtsteine oder Gläser
gehabt als jener, und dies ist bis auf den heutigen Tag
auch oft genug geschehen. Späterhin trat Beccaria selbst
gegen sich auf und erklärte, daß er sich geirrt habe; doch
hierauf wurde wenig Rücksicht genommen. Man hatte be-
reits neue Zeugen für seine früheren Entdeckungen, und
diese sagten den mehrstenNewtonianern besser zu. Allent-
halben findet man von nun an einen Brief Magellans an
Priestley zitiert, der jene neue Bestätigung enthält; mit
Stillschweigen wird aber gemeiniglich der Widerruf Bec-
carias übergangen, obwohl er in demselben Briefe aus-
führhch zu lesen ist. Magellan erzählt in diesem Briefe
(s. Priestleys Versuche und Beobachtungen über verschie-
dene Gattungen der Luft, UJ. Teil, Anhang p. 16): "er
habe (1776) bei dem Prof. Allamand in Leyden sehr
schöne farbige Gläser gefunden und habe gegen diesen
geäußert: wie sehr es ihm aufgefallen sei, daß er nie im-
stande gewesen, Beccarias Versuche mit Erfolg zu wieder-
holen, welches er dem Umstand zuschreibe, daß er nicht
so gute Gläser gehabt habe als Beccaria, und als er jetzt
2 6 o ZUR FARBENLEHRE
vor sich sehe." Allamand antwortete hierauf: "es sei einer
von seinen Versuchen beinahe einerlei mit den Versuchen
Beccarias gewesen; denn ein Stück des Bononischen Phos-
phors habe die Farbe des durch ein Prisma geteilten Son-
nenstrahls gezeigt, dem er ihn ausgesetzt hatte." Hemster-
huis, der bei den Versuchen Allamands zugegen gewesen,
soll noch hinzugefügt haben, "daß nach einiger Zeit, wenn
die deuthch an dem Phosphorus gesehene Farbe zu ver-
gehen anfing, derselbe gelblich geworden sei, als wenn
der Phosphorus bloß dem Sonnenlichte, ohne Teilung der
farbigen Strahlen desselben, wäre ausgesetzt worden."
"Überdies", sagt Magellan, "besitze ich das Original eines
in Italien geschriebenen Briefes, aus dem sich ergibt, daß
ein junger Herr vom ersten Range, mit zween Cavaliers,
seinen Führern, vor deren Augen dieser Versuch von dem
P. Beccaria wiederholt worden, eben dieses Phänomen ge-
sehen habe, und daß die Farben des Phosphorus im dun-
keln Zimmer deutlich genug gewesen sind, um daraus,
ohne vorhergegangene Nachricht, die richtige Farbe des
Glases erraten zu können, durch welches die Sonne den-
selben beschienen hatte." — "Es ist mir unangenehm,"
fährt hierauf Magellan fort, "aus einem gedruckten Briefe
des gedachten Prof. Beccaria gesehen zu haben, daß er
fast die ganze Sache wieder aufgibt, indem er sich bei
seinen Versuchen geirrt und den Schatten oder die blasse
Dunkelheit des Phosphorus für eine bestimmte Farbe ge-
nommen habe. Er habe sich dabei, sagt er, nach dem Herrn
Zanotti, Präsidenten der Akademie zu Bologna, gerichtet;
denn er selbst und andere wären nie imstande gewesen, das-
selbe Phänomen zti. sehend
Und gegen dies ofiene und entscheidende Geständnis Bec-
carias, gegen so viele und sorgfältig angestellte Versuche
erfahrner Physiker mochte man noch ein Zeugnis, wie das
jener vornehmen Beobachter, und ein halbes, wie das von
Allamand, aufführen und geltend zu machen suchen! Wäre
dies wohl geschehen, wenn nicht vorgefaßte Meinung und
der Wunsch, einer beliebten Lehre den Sieg zu verschaffen
und die Gegner auf jede Weise aus dem Felde zu schlagen,
sich eingemengt hätte: — Die Aussage von Hemsterhuis ist
STATT DES VERSPROCH. SUPPLEM. TEILS 261
zwar bestimmter als die von Allamand, doch ist auch sie
von keinem Gewicht, da die Art, wie der Versuch und das
Material, womit er angestellt worden, nicht angegeben
sind. Denn auf die Beschaffenheit des Leuchtsteins kömmt
auch viel an; enthielt der Barytphosphor z. B. Strontian-
oder flußsaure Kalkerde, so konnte wohl ein bläulicher
Schein gesehen werden, wenn er ins blaue Licht gehalten
wurde. An Leuchtsteinen, die aus einer Mischung der ge-
nannten Erden bestehen, läßt sich wirklich etwas Ähnliches
zeigen, doch nicht allein im blauen, sondern auch im Tages-
lichte, weil jene Erden bläulich und grünlich leuchtende
Phosphoren geben. An Phosphoren, die nur mit einer Farbe
leuchten, wird man nie etwas der Art wahrnehmen.
Wo der von Magellan angeführte gedruckte Brief Beccarias
steht, habe ich nicht finden können.
Einer Täuschung habe ich noch zu erwähnen, die bei den
Versuchen mit Prismen und farbigen Gläsern vorkommen
kann. Die Phosphoren können wirklich bisweilen in ei-
ner ganz entgegengesetzten als ihrer gewöhnlichen Farbe
leuchtend erscheinen. Dies ist dann der Fall, wenn das
Auge des Beobachtenden von irgendeiner lebhaften Farbe
affiziert war. So sah ich Bononische Steine, welche im
prismatischen Rot weißhch leuchtend werden, im Dunkeln
mit grünlichem Lichte glänzen, wenn ich auch nur flüchtig
vorher (ja selbst eine Minute und länger vorher) in das
Rot gesehen hatte. Wenn ich dies vermieden hatte, so
erschienen sie weiß oder höchst blaßgelb. Eine ähnhche
Veränderung der Farbe bemerkte ich auch einmal an den
rosenroten Kalkphosphoren, als ich diese vor ein violettes
von der Sonne erhelltes Glas hielt; sie leuchteten mir nun
im Dunkeln rotgelb. Mein Gehülfe dagegen, welcher sich
ganz im Dunkeln befunden hatte, versicherte, das schönste
rosenrote Licht zu sehen. Als sich meine Augen von dem
vorigen Eindrucke erholt hatten, erschienen auch mir
diese Phosphoren im Dunkeln rosenrot, so wie sie nun
meinem Gehülfen, welcher in das violette Licht gesehen
hatte, gelbrot schienen. Durch Violett wird, nach bekann-
ten physiologischen Gesetzen (E[ntwurfd.Farbenl.,§]47ff.)
Gelb im Auge hervorgerufen, so wie durch Rot Grün, durch
262 ZUR FARBENLEHRE
Orange Blau, und umgekehrt; und auf diese Weise entsteht
im gegenwartigen Fall, wie in mehreren andern eine Täu-
schung, vor der man sich zu hüten hat.
Von der chemischen Aktion des Lichts und der farbigen
Beleuchtung
Es ist eine der wichtigsten Entdeckungen der neuem Zeit,
daß mit der äußerlichen, längst bekannten Veränderung
der Körper im Sonnenlichte häufig auch eine innere, eine
Änderung in den chemischen Bestandteilen verbunden sei.
Scheele erwies zuerst, in seiner Abhandlung von Luft und
Feuer, daß die Metallkalke im Lichte "phlogistisierfoder,
wie wir uns jetzt ausdrücken, desoxydiert werden. Sene-
bier, Priestley, Berthollet, Miß Fulham, Rumford, Ritter
und andere bestätigten diese Entdeckung und vermehrten
sie mit mancher neuen.
Eine der empfindlichsten Substanzen gegen die Aktion
des Sonnenlichtes ist das salzsaure Silber oder Hornsilber;
es ist bekanntlich frisch gefällt weiß und wird im Lichte
sehr bald grau und endlich schwarz, wobei es den größten
Teil, wo nicht alle seine Säure verliert. Schon Scheele
bemerkte, daß die prismatischen Farben ungleich auf das-
selbe wirkten, "daß die Schwärzung im Violett schneller
erfolge als in den andern Farben" (a. a, O. § 66). Sene-
bier bestätigte diese Erfahrung und führt in seiner Ab-
handlung über den Einfluß des Sonnenlichtes, 3. T. S. 97
an: "daß das Hornsilber sich im violetten Strahl in 15 Se-
kunden, im blauen in 23 Sekunden, im grünen in 35 Se-
kunden, im gelben in 5^/2 Minute, im pomeranzenfarbenen
in 1 2 Minuten und im roten in 20 Minuten gefärbt habe";
auch sagte er, "daß er nie vermögend gewesen sei, die
Farbe in den drei letzten prismatischen Farben so stark
zu machen, als die vom violetten Strahl hervorgebrachte
war". Ritter (s. Gilb. Annalen der Physik, Bd.VIL S. 527
und Bd. XIL S. 409) will auch noch außerhalb dem Violett
"sogenannte unsichtbare Strahlen entdeckt haben, welche
das Hornsilber noch stärker reduzierten als das violette
Licht selbst"; ferner, "daß die Reduktion an dem Orte
des Maximums, außer dem Violett, nach dem Blau hin
STATT DES VERSPROCH. SUPPLEM. TEILS 263
abnehme und mehr hinter dem Grün aufhöre; und daß sie
im Orange und Rot in wahre Oxydation des bereits Re-
duzierten übergehe".
Schon Senebiers Versuche zeigten deutlich eine Hemmung
der Wirkung auf der Seite des Gelben und Roten, sowohl
der Zeit als dem Grade nach; doch fand nach ihm hier
noch eine Reduktion statt, wo Ritter eine Oxydation fand.
Neue Versuche waren also nötig. Hier sind die Resultate
von den meinigen.
Als ich das Spektrum eines fehlerfreien Prismas, welches
die Lage hatte, in welcher der Einfallswinkel an der vor-
dem Fläche dem Brechungswinkel an der hintern Fläche
gleich ist, bei einer Öffnung von etwa 5 bis 6 Linien im La-
den, in einem Abstände, wo eben Gelb und Blau zusammen -
treten, auf weißes, noch feuchtes und auf Papier gestriche-
nes Hornsilber fallen ließ und 15 bis 20 Minuten, durch
eine schickliche Vorrichtung, in unveränderter Stellung
erhielt, so fand ich das Hornsilber folgendermaßen ver-
ändert. Im Violett war es rötlichbraun (bald mehr violett,
bald mehr blau) geworden, und auch noch über die vor-
her bezeichnete Grenze des Violett hinaus erstreckte sich
diese Färbung, doch war sie nicht stärker als im Violett;
im Blauen des Spektrums war das Hornsilber rein blau
geworden, und diese Farbe erstreckte sich abnehmend
und heller werdend bis ins Grün; im Gelben fand ich das
Hornsilber mehrenteils unverändert, bisweilen kam es mir
etwas gelblicher vor als vorher; im Rot dagegen, und
mehrenteils noch etwas über das Rot hinaus, hatte es meist
rosenrote oder hortensienrote Farbe angenommen. Bei
einigen Prismen fiel diese Rötung ganz außerhalb dem
Rot des Spektrums, es waren dies solche, bei welchen
auch die stärkste Erwärmung außer dem Rot statthatte.
Das prismatische Farbenbild hat jenseits des Violett und
jenseits des Rot noch einen mehr oder minder hellen
farblosen Schein; in diesem veränderte sich das Horn-
silber folgendermaßen: Über dem oben beschriebenen
braunen Streifen — der im Violett und hart darüber ent-
standen war — hatte sich das Hornsilber mehrere Zoll hin-
auf, allmählich heller werdend, bläulichgrau gefärbt; jen-
2 04 ZUR FARBENLEHRE
seits des roten Streifen aber, der soeben beschrieben wor-
den, war es noch eine beträchtliche Strecke hinab schwach
rötlich geworden.
Wenn am Lichte grau gewordenes, noch feuchtes Horn-
silber ebenso lange der Einwirkung des prismatischen
Sonnenbildes ausgesetzt wird, so verändert es sich im
Violett und Blau wie vorhin; im Roten und Gelben da-
gegen wird man das Hornsilber hellerfinden, als es vor-
her war, zwar nur wenig heller, doch deutlich und un-
verkennbar. Eine Rötung in oder hart unter dem prisma-
tischen Rot wird man auch hier gewahr werden.
Wurde das Spektrum in einem größern Abstände, etwa
12 bis 15 Fuß vom Prisma, aufgefangen, so blieb das
weiße Hornsilber im Gelben und Roten weiß, das schon
graue blieb so grau als vorher, zumal wenn auch die Öff-
nung im Laden etwas verengert wurde; im Blau und Vio-
lett dagegen schwärzte es sich, obwohl schwächer als näher
am Prisma. In einem noch beträchtlichem Abstände hört
auch endlich die reduzierende Kraft des blauen und vio-
letten Lichtes auf. Eine gleiche Abnahme der Aktion der
prismatischenFarben bemerkten wir bereitsandenLeucht-
steinen, und zwar früher am Gelb und Rot als am Blau und
Violett.
Läßt man Violett und Rot von zwei Prismen zusammen-
treten, so erhält man bekannthch ein Pfirsichblütrot. In
diesem wird das Hornsilber auch gerötet, und zwar wird
es oft sehr schön karmesinrot.
Wenn man das prismatische Spektrum so nahe am Prisma
auffängt, daß nur die Ränder gefärbt, die Mitte aber weiß
erscheint, so bemerkt man hart unter dem Blau noch einen
gelbrötlichen blassen Streifen; dieser rötet zwar das Horn-
silber nicht, aber er wirkt doch hemmend auf die vom
Weißen herrührende Reduktion oder Schwärzung, wie
Ritter schon vor mir bemerkt hat.
Noch kann man am Prisma ein Rot hervorbringen, näm-
lich wenn man eine Leiste mitten über das Prisma be-
festigt; es erscheint dann in dem nahe aufgefangenen
weißen Felde des Spektrums mitten Gelb, Pfirsichblütrot
und Blau; diese aber wirken auf das Hornsilber nicht oder
STATT DES VERSPROCH. SUPPLEM. TEILS 265
(loch nur so schwach, daß es kaum zu bemerken ist; ich
konnte wenigstens in verschiedenen Abständen vom Pris-
ma keine recht deutliche Wirkung von diesen Farben er-
kennen.
Versuche mit farbigen Gläsern
Das salzsaure Silber wurde unter den violetten, blauen
und blaugrünen Gläsern wie am Sonnen- oder Tageslichte
grau, und zwar nach der Verschiedenheit der Gläser auch
verschieden nuanciert, bei der einen mehr ins Bläuliche,
bei der andern mehr ins Rötliche ziehend, oft auch fast
schwarz. Unter gelben und gelbgrünen Gläsern dagegen
veränderte sich das Hornsilber wenig; selbst unter nur
sehr schwach gefärbten Gläsern blieb es im Tageslicht
lange weiß, nur die Wirkung des Sonnenlichtes konnten
diese nicht aufheben, aber sie schwächten sie doch be-
deutend. Unter tiefern orangefarbigen Gläsern veränderte
sich das Hornsilber noch weniger, und erst nachdem es
mehrere Wochen gehörig benetzt, dem Sonnenlichte unter
diesen ausgesetzt war, färbte es sich schwach und zwar
rötlich. Hornsilber, welches so tief als möglich geschwärzt
war, wurde unter dem gelbroten Glase im Sonnenlichte
sehr bald heller, nach sechs Stunden war seine Farbe
schmutzig gelb oder rötlich.
Alle die Farben, welche wir das weiße salzsaure Silber
im prismatischen Spektrum haben annehmen sehen, kom-
men auch an dem, welches dem gemeinen Tageslichte
ausgesetzt ist, vor; in einem sehr schwachen Lichte wird
es gelblich, in einem lebhafteren läuft es blaßrot an; doch
verfliegt diese Farbe sehr schnell, das Hornsilber wird
gleich darauf grau und braun in verschiedenen Schattierun -
gen und endlich schwarz. In diesem letzten Zustande ist
es fast gänzlich seiner Säure beraubt; die gelbe und rote
Farbe des Hornsilbers scheinen die niedrigsten und Blau
und Violett höhere Stufen der Entsäurung desselben zu
bezeichnen. Dies zugegeben, so folgt aus den eben er-
zählten Beobachtungen, daß zwar im prismatischen Rot
und noch über dasselbe hinaus eine Entsäurung stattfindet,
daß aber auch hier Gelb und Rot hemmend wirken, und
2 66 ZUR FARBENLEHRE
daß die Entsäurung durch gelbrote Beleuchtung aut eine
niedrigere Stufe derselben zurückgeführt werden kann.
Von den verschiedenen Versuchen, welche ich mit reinen
Metalloxyden angestellt habe, will ich hier einen ausheben,
welcher über das, was ihnen allen im Lichte begegnet,
keinen Zweifel weiter übriglassen wird.
Rotes Quecksilberoxyd wurde in drei verschiedenen Glä-
sern, in einem dunkelblauen, einem gelbroten und in einem
weißen Glase, unter destilliertem Wasser der Einwirkung
der Sonne und des Tageslichts mehrere Monate hindurch
ausgesetzt. An dem Quecksilberoxyd im weißen Glase er-
folgte unter beständiger Gasentbindung eine vollkommene
Desoxydation, es verwandelte sich in graues, unvoUkomm-
nes Oxyd, und ein Teil wurde selbst zu reinem regulini-
schen Quecksilber hergestellt, welches nach einiger Zeit
zu einer nicht unbeträchtlichen Kugel zusammenlief. Das
Oxyd im dunkelblauen Glase hatte dieselbe Veränderung
erlitten, es hatte sich zum Teil reduziert, zum Teil war
es unvollkommenes Oxyd geworden. Das Quecksilberoxyd
im gelbroten Glase dagegen war fast unverändert, nur ein
wenig heller schien es mir nach sechs Monaten geworden
zu sein.
Die blaue Beleuchtung wirkt überhaupt auf alle Substanzen,
welche im Licht eine Veränderung erleiden, wie das reine
Sonnen- oder Tageslicht; die rote Beleuchtung dagegen
verhält sich immer entgegengesetzt, häufig bloß wie gänz-
liche Abwesenheit des Lichtes. So wird, um noch einige
Beispiele anzuführen, die farblose Salpetersäure unter
blauen und violetten Gläsern gelb, wie im reinen Sonnen-
lichte, unter dem gelbroten bleibt sie weiß; Bestuschefis
Nerventinktur wird im Sonnenlichte weiß, unter dem
blauen Glase gleichfalls, unter dem gelbroten aber bleibt
sie gelb usw.
Wir haben oben bei den Versuchen mit den Leuchtsteinen
bemerkt, daß die Aktion, welche einmal durch das Licht
hervorgerufen worden, auch im Dunkeln noch fortwährt;
dasselbe läßt sich auch an den Substanzen nachweisen,
welche im Licht entschieden eine chemische Veränderung
erleiden. Schon an jedem Hornsilberpräparat kann man es
STATT DES VERSPROCH. SUPPLEM. TEILS 267
sehen, doch noch vollkommener am Goldsalze. Von einer
Auflösung des salzsauren Goldsalzes streiche man etwas
auf zwei Streifen Papier; das eine, A, werde sogleich an
einem ganz dunkeln Orte aufgehoben, das andere, B, aber
einige Minuten ins Sonnen- oder Tageslicht gelegt, und
bleibe darin nur so lange, bis sich eine schwache Ver-
änderung der Farbe zeigt, bis es etwas grau wird, und nun
werde es zu dem Präparat A getan und alles Licht so voll-
kommen als möglich abgehalten. Nach einer halben Stun-
de vergleiche man die Präparate; B wird beträchtlich tiefer
gefärbt sein, als man es hineingelegt hatte, A dagegen
findet man unverändert. B färbt sich von Stunde zu Stunde
tiefer und wird endlich violett, wie Goldsalz, das längere
Zeit im Lichte gelegen hatte, während A noch unverän-
dert rein goldgelb erscheint.
Wirkung der farbigen Beleuchtimg auf die Pflanzen
Die wichtigsten Versuche hierüber verdanken wir Sene-
bier und Tessier. Nach Senebier (s. dessen Abhandlung
über den Einfluß des Sonnenlichtes, 2. T. S. 29. 4) er-
reichten die Pflanzen unter gelber Beleuchtung eine grö-
ßere Höhe als unter der violetten; die Blätter der Pflan-
zen unter dem gelben Glase kamen grün zum Vorschein
und vergilbten hernach, die unter dem roten blieben grün,
wie sie hervorkamen; in der violetten Beleuchtung nalim
die grüne Farbe der Blätter mit dem Alter zu, sie wurde
dunkler.
Nach den Versuchen von Tessier (v. Mem. de l'Academ.
des Sc. de Paris. 1 7 83. p. 1 33) blieben die Pflanzen unter
dunkelblauem Glase am grünsten, unter dunkelgelbem hin-
gegen wurden sie bleich.
Die blaue Beleuchtung wirkt also auf die Pflanzen voll-
kommen wie das reine Sonnenlicht, die dunkelgelbe Be-
leuchtung dagegen wie die Finsternis; denn auch in die-
ser werden die Pflanzen bleich, schießen stärker; genug,
sie zeigen sich mehr oder weniger etioliert.
ERKLÄRUNG DER ZU GOETHES
FARBENLEHRE GEHÖRIGEN TAFELN
[Ohne Orts- und Jahresangabe 1810 bei Cotta erschienen]
DIESE Tafeln*, ob sie gleich das Werk nur desulto-
risch begleiten und in diesem Sinne als fragmen-
tarisch angesehen werden können, machen doch
unter sich ein gewisses Ganze, das seine eigenen Bezüge
hat, welche herausgehoben zu werden verdienen. Nicht
weniger ist es bequem und belehrend, für jede einzelne
Tafel einen kurzen Kommentar zu finden, in welchem das-
jenige, was sie leisten soll, auseinandergesetzt wird. Hier-
durch erleichtert sich der Gebrauch derselben, und man
wird sie sodann sowohl jenen Stellen, wo sie angeführt
sind, gemäßer, als auch den ganzen Vortrag anschaulicher
und zusammenhängender finden. Wir gehen sie der Reihe
nach durch und bemerken dabei teils, was uns darin ge-
leistet scheint, teils auch, was noch zu wünschen wäre.
Erste Tafel
Erste Figur. Das einfache, aber doch zur Erklärung des
allgemeinen Farbenwesens völlig hinreichende Schema.
Gelb, Blau und Rot sind als Trias gegeneinander über ge-
stellt; ebenso die intermediären, gemischten oder abge-
leiteten. Dieses Schema hat den Vorteil, daß alle gezoge-
nen Diameter des Zirkels ohne weiteres die physiologisch
geforderte Farbe angeben. Will der Liebhaber weiter gehen
und einen solchen Kreis stetig und sorgfältig durchnüan-
cieren, so wird dasjenige, was hier nur dem Begriflf, dem
Gedanken überlassen ist, noch besser vor die Sinne zu
bringen sein. Die nachfolgenden Figuren sind meistens
physiologischen Erscheinungen gewidmet, die wir nun-
mehr, nach der Ordnung unsers Entwurfs und nicht nach
den hier angeschriebenen Zahlen, erläutern.
Zehnte Figur. Stellt vor, wie das abklingende, blendende
Bild (Entwurf e. Farbenl., Didakt. Teil, § SpfF.), wenn das
Auge sich auf einen dunklen oder hellen Grund wendet,
nach und nach die Farben verändert und auf eine oder
die andere Weise im entschiedenen Gegensatze abklingt.
1 Vgl. am Schluß des Bandes die Tafeln „Zur Farbenlehre".
ERKLÄRUNG DER TAFELN 269
Sechste Figur. Vorrichtung und Phänomen, wie die blauen
und gelben Schatten bei der Morgen- und Abenddäm-
merung zu beobachten sind. (E. 70.)
Fünfte Figur. Bei erstgedachter Vorrichtung stand der
schattenwerfende Körper in der Mitte. Hier sind zwei
Körper zu beiden Seiten angebracht. Diese Zeichnung ist
als der Durchschnitt einer Vorrichtung anzusehen, die man
sich leicht verschafifen kann.
Neunte Figur. Phänomen zu E. 80. Ein schwarzer Streif
auf einer weißen Fläche gegen ein mit blauem Wasser ge-
fülltes Gefäß, dessen Boden spiegelartig ist, gehalten, gibt
ein Doppelbild, wie es hier erscheint, das von der untern
Fläche blau, das von der obern gelbrot. Wo beide Bilder
zusammentreffen, findet sich das Weiße und Schwarze des
abgespiegelten Bildes.
Dritte Figur. Drückt ohngefähr die Wirkung derE. 88 be-
schriebenen Erscheinungen aus.
Vierte Figur. Gibt Anlaß, sich die subjektiven Höfe vor-
zustellen, obgleich dieselben zu zeichnen und zu illumi-
nieren mehr Sorgfalt erfordern würde.
Zweite Figur. Ein doppeltes, ineinander gefügtes Farben -
Schema. Das äußere, wie jenes allgemeine der ersten Figur
mit der Totalität der Farben; das innere zeigt an, wie nach
unserer Meinung diejenigen Menschen, welche mit der
Akyanoblepsie behaftet sind, die Farben sehen. In diesem
Schema fehlt das Blaue ganz. Gelb, Gelbrot und Reinrot
sehen sie mit uns: Violett und Blau wie Rosenrot und Grün
wie Gelbrot.
Achte Figur. Diese ist bestimmt, gedachtes Verhältnis auf
eine andere Weise auszudrücken, indem kleine farbige
Scheiben erst nebeneinander und dann unter diese andere
Scheiben gesetzt sind, welche den Akyanoblepen völlig
von der Farbe der oberen erscheinen. Die Freunde der
Natur, wenn ihnen solche Personen vorkommen sollten,
werden ersucht, nach dieser Anleitung sich größere far-
bige Papiermuster zu verschaffen und ihr Examen des Sub-
jekts darnach anzustellen. Da mehrere, welche auf diese
Weise in Untersuchung genommen, in ihren Äußerungen
übereinstimmten, so würde es auf alle Fälle interessant
2 7 o ZUR FA RBENLEHRE
sein, noch zu erfahren, daß diese Abweichung von der ge-
wöhnlichenNaturdennochaufihreWeisegesetzmäßigsei.
Eilfte Figur. Eine Landschaft ohneBlau, wie ungefähr, nach
unserer Überzeugung, der Akyanobleps die Welt sieht.
Siebente Figur. Eine Flamme, bei welcher der obere Teil
als körperlich, gelb und gelbrot, der untere Teil dunst-
artig, blau, ja schön violett, sobald ein schwarzer Grund
dahinter steht, erscheint. Es ist dieser Versuch am eminen-
testen mit angezündetem Weingeist zu machen.
Zweite Tafel
Ist der Farbenerscheinung gewidmet, wie sie sich bei Ge-
legenheit der Refraktion zeigt. Da die Felder nicht nu-
meriert sind, so bezeichnen wir sie nach ihrer Lage.
Oberes Feld. A ein helles Rund auf schwarzem Grunde,
mit bloßen Augen angesehen durchaus farblos. B dasselbe
durch ein Vergrößerungsglas betrachtet. Indem es sich aus-
dehnt, bewegt sich das Weiße scheinbar nach dem Schwar-
zen zu, und es entsteht der blaue und blaurote Rand. Cdie
Scheibe A durch ein Verkleinerungsglas angesehen. In-
dem sie sich zusammenzieht, bewegt sich scheinbar der
dunkle Grund gegen das Helle zu, wodurch der gelbe und
gelbrote Rand entsteht. Dies sind die reinen Elemente aller
prismatischen Erscheinungen, und wer sie faßt, wird sich
durch alles das übrige durchhelfen. In D ist zum Überfluß
supponiert, als wenn die weiße Scheibe, die durch ein
Vergrößerungsglas erweitert wird, eine kleinere schwarze
Scheibe, die sich zugleich mit erweitert, in sich habe; wo-
durch also, wie in C, nur auf umgekehrtem Wege, das
Schwarze scheinbar über das Weiße bewegt wird und so-
mit der gelbe und gelbrote Rand entsteht. Beim Illumi-
nieren hat man das Rote weggelassen, welches immer an
dem Schwarzen gedacht werden muß.
Prismen sind nur Teile von Linsen und bringen, aus leicht
zu begreifenden Ursachen, das Phänomen nur eminenter
hervor. Die vier folgenden Felder sind prismatischen Er-
scheinungen gewidmet.
Das erste, links des Beschauers. Eine farblose Scheibe a
wird, es sei objektiv oder subjektiv, nach b c J bewegt.
ERKLÄRUNG DER TAFELN 2 7 1
Der helle, nach dem Schwarzen vorangehende Rand wird
blau und blaurot, der dunkle, dem hellen Bilde folgende
Rand gelb und gelbrot erscheinen, vollkommen nach dem
uns nun bekannten Gesetze von B und C in dem oberen.
Felde.
Das zweite^ rechts des Beschauers. Ein Viereck a wird,
objektiv oder subjektiv, nach b c d geführt. Im ersten und
letzten Falle sind nur zwei Seiten gefärbt, weil die beiden
andern dergestalt fortgerückt werden, daß die Ränder sich
nicht übereinander bewegen. Im dritten Falle ^, bei wel-
chem die Bewegung in der Diagonale geschieht, sind alle
vier Seiten gefärbt.
Das dritte Feld, links des Beschauers. Hier denke man sich,
daß eine farblose Scheibe ^, durch ein Prisma hier mit a b
bezeichnet, nach /gerückt werde, und durch ein anderes
Prisma d c nach //, so wird, wenn man jedes Prisma be-
sonders nimmt, die Erscheinung nach der Angabe der
Tafel sein. Bringt man beide Prismen übereinander, so
rückt das Bild in der Diagonale nach g und ist nach dem
bekannten Gesetz gefärbt. Nur ist hier in derTafel der Feh-
ler, daß das erscheinende Bild^g' nicht weit genug wegge-
rückt und nicht breit genug gefärbt ist. Welches man sich
denken oder auf einem besondern Blatte leicht verbessern
kann. Es ist dies der von Newton so oft urgierte Versuch
mit dem Spektrum, das den Bückhng macht.
Das vierte Feld^ rechts des Beschauers. Hier werden die
subjektiven Färbungen weißerStreifen auf schwarzemGrund
und schwarzer auf weißem Grunde dargestellt. In der ersten
Reihe sieht man den schwarzen und weißen Streifen noch
mit schmalen Farben gesäumt. In der zweiten Reihe treten
die Farbensäume aneinander, in der dritten übereinander,
und in der vierten decken sich die Innern oder äußern Far-
ben völlig.
Wer sich diese zweite Tafel recht bekannt macht, dem wird
es nicht schwer sein, alle subjektiven Versuche zu ent-
wickeln.
27 2 ZUR FARBENLEHRE
Eingeschaltete Tafel
IIa bezeichnet
Diese Tafel ist sorgfältig zusammengestellt, um auf einen
Blick die bedeutendsten subjektiven prismatischenFarben-
erscheinungen übersehen zu können. Auch in der Größe,
wie sie hier gezeichnet ist, belehrt sie vollkommen, wenn
man sie durch ein Prisma von wenigen Graden ansieht. Nir-
gends, als da wo Schwarz und Weiß grenzen, erblickt man
Farben. So laufen sie an den wurmförmigen Zügen her,
welche in der obern Ecke angebracht sind. So zeigen sie
sich an jedem geradlinigen Rande, der mit der Achse des
Prismas parallel bewegt wird. So fehlen sie an jedem, der
mit der Achse des Prismas vertikal bewegt wird. Die an-
gebrachte Fackel wird nach eben demselben Gesetz ge-
färbt wie die Flamme der siebenten Figur auf der ersten
Tafel. Die schwarze und die weiße Scheibe können zu Ver-
suchen mit der Linse gebraucht werden. Wie denn auch
in einiger Entfernung mit bloßem Auge entscheidend zu
beobachten ist, daß die schwarze Scheibe viel kleiner als
die weiße erscheint.
Wenn man dieser Tafel die Größe einer Elle gibt, so sind
die darauf befindlichen Bilder zu allen Versuchen geschickt,
die man auch mit Prismen von 60 Graden anstellen mag.
Dritte Tafel
Diese ist mit Sorgfalt von einem jeden Liebhaber der Far-
benlehre ebenfalls in der Größe einer Elle und drüber nach-
zubilden, weil hieran alle Versuche, die wir in dem sieb-
zehnten und achtzehnten Kapitel unseres "Entwurfs" an-
gegeben haben (wenn nämlich graue und sodann farbige
Bilder durch Brechung verrückt werden), zu sehen sind.
Man tut wohl, sie auf eine Scheibe zu bringen, die sich
vertikal drehen läßt. Nur derjenige, der sich mit dieser
Tafel und den Kapiteln, wodurch sie erläutert ist, recht
bekannt gemacht, wird das Kaptiose und Unzulängliche
des ersten Newtonischen Versuchs der Optik einsehen;
und es war wohl der Mühe wert, auf alle Weise jenen Irr-
tum bis in den letzten Winkel zu verfolgen, welchem an-
zuhängen nun niemand mehr erlaubt sein kann.
ERKLÄRUNG DER TAFELN 273
Vierte Tafel
In dem oberen Felde sind die Mittelbilder der vorigen Tafel
so vorgestellt, wie sie durchs Prisma gesäumt erscheinen:
da man die Säume aber nur nach dem Gesetz und nicht
nach der Art, wie sie sich in der Erfahrung mit der Farbe
des Bildes vermischen, illuminieren konnte, so ist das hier
Dargestellte mehr als Wegweiser denn als die Sache selbst
anzusehen; mehr als eine Versinnlichung dessen was vor-
geht, denn als das was durch dieses Vorgehen entspringt;
mehr als eine Entwickelung, eine Analyse der Erscheinung
denn als die Erscheinung selbst. Wie denn überhaupt der
Naturforscher sich von dem Buch und der Tafel erst wie-
der loszumachen hat, wenn er wahrhaften Nutzen von bei-
den ziehen will.
Das untere Feld soll eine Versinnlichung desjenigen sein,
was vorgeht, um die Achromasie durch zwei verschiedene
Mittel zu bewirken.
Man denke sich zwischen beiden Linien a b und f</ meh-
rere viereckte weiße Bilder auf einer schwarzen Tafel, wo-
von hier nur eins unter Nr. i angegeben ist. Man denke
sich durch ein Prisma von Crownglas g ein gleiches Bild,
was neben i gestanden hat, heruntergerückt, wie wir in
Nr. 2 sehen. Es wird mit einem schmalen Saume gefärbt
erscheinen. Ein drittes Bild werde durch ein Prisma von
Flintglas gleichfalls nicht weitergerückt, als wir es in Nr. 3
erbhcken, so wird dieses viel stärker gesäumt erscheinen.
Man lasse nun ein solches Bild durch ein aus beiden Prismen
zusammengelegtes Parallelepipedon g h in die Höhe an
seine vorige Stelle bringen, so wird die Brechung aufge-
hoben, ein Überschuß von Färbung aber, der sich vom
Prisma // herschreibt, übrigbleiben, wie in Nr. 4. Gibt man
nun dem Prisma h einen geringern Winkel, so wird die
Farbenerscheinung aufgehoben, aber es bleibt Brechung
übrig, wie wir bei Nr. 5 sehen. Dieses ist, glauben wir,
für jeden eine bequeme Darstellung sowohl von dem Ver-
hältnis des Ganzen als besonders der Achromasie in Nr. 5
und der Hyperchromasie in Nr. 4.
C.OETHF, XVir 18.
274 ZUR FARBENLEHRE
Fünfte Tafel
Wahrhafte Darstellung, wie die Farbe erscheint, wenn ein
leuchtendes Bild durch Brechung objektiv verrückt wird.
Die Figur oben links in der Ecke stellt erstlich ein Par-
allelepipedon von Glas vor, welches oben dergestalt zu-
gedeckt ist, daß das Sonnenbild nur in der Mitte der Fläche
durchfallen kann. Man sieht an den punktierten Linien,
welchen Weg das Licht ohne Brechung nehmen würde;
man sieht an den ausgezogenen Linien die Brechung im
dichteren Mittel, sowie an den ins dünnere Mittel über-
gehenden zwar eine schwache, aber doch deuthche Far-
benerscheinung. Dieses ist der einfache Versuch, der dem
prismatischen zum Grunde liegt. Beurteilt man die Far-
bensäume ihrer Bewegung nach, so würde man hier sagen
können, der gelbrote und gelbe sei der meist-, derblaue
und blaurote der wenigst-refrangible, weil dieser in das
Bild hinein, jener aus dem Bilde heraus zu streben scheint.
Allein wer die Lehre von Verrückung des Bildes recht
innehat, der wird sich dieses scheinbare Rätsel sehr leicht
erklären.
Nun denke man sich den untern, gezeichneten Keil weg-
genommen, so daß der obere allein wirkt, und es wird
eine mächtigere Verrückung des Bildes und eine stärkere
Färbung, zwar nach der andern Seite, aber doch nach den-
selben Gesetzen, entstehen.
Die größere Figur, welche zu betrachten man das Blatt
die Quere nehmen wird, zeigt nunmehr ausführlich, was
vorgeht, wenn ein leuchtendes Bild objektiv durchs Prisma
verrückt wird. Die beiden Farbensäume fangen in einem
Punkte an, da wo Hell und Dunkel aneinander grenzt; sie
lassen ein reines Weiß zwischen sich, bis dahin, wo sie
sich treffen; da denn erst ein Grün entspringt, welches sich
verbreitert, zuvor das Blaue völlig und dann zuletzt auch
das Gelbe aufzehrt. Das anstoßende Blaue und Blaurote
können dieser grünen Mitte beim weitern Fortschritte nichts
anhaben.
Nun betrachte man die unten gezeichneten Querdurch-
schnitte des obern Längendurchschnittes als die Spektra,
welche erscheinen, wenn man an diesen Stellen eine Pappe
ERKLÄRUNG DER TAFELN 275
entgegenhält: und man wird finden, daß sie sich schritt-
weise verändern. Es ist angenommen, daß ein vierecktes
leuchtendes Bild verrückt werde, welches die Sache viel
deutlicher macht, weil die vertikalen Grenzen rein blei-
ben und die horizontalen Unterschiede der Farben deut-
licher werden.
Der Durchschnitt, über welchen man oben eine punktierte
Ellipse gezeichnet, ist ohngefähr derjenige, wo Newton
und seine Schüler das Bild auffassen, festhalten und messen,
derjenige, wo die Maße mit der Tonskala zusammentrefifen
sollen. Bloß die aufmerksame Betrachtung dieser Tafel muß
einen jeden, der nur geraden Sinn hat, auf einmal in den
Fall setzen, sowohl das natürliche alsjenes bestrittene Ver-
hältnis zu übersehen.
Sechste Tafel
Diese Einsicht wird vermehrt und gestärkt, wenn man hier
vergleicht, was mit Verrückung eines völlig gleichen dunk-
len Bildes vorgeht. Hier ist eben das Austreten; eben das
Verbreitern; hier bleibt das reine Dunkel, wie dort das
reine Helle, in der Mitten. Die entgegengesetzten Säume
greifen wieder übereinander, und wie dort Grün so ent-
steht hier ein vollkommenes Rot. Nun braucht man nicht
erst diese vorzügliche Farbe zu verschweigen. Dieses
Spektrum, über ein dunkles Bild hervorgebracht, ist eben-
sogut ein Spektrum als jenes über das helle Bild hervor-
gebrachte; beide müssen immer nebeneinander gehalten,
parallelisiert und zusammen erwähnt werden, wenn man
sichs klarmachen will, worauf es ankommt. Diese beiden
Tafeln, nebeneinandergestellt, recht betrachtet, recht be-
dacht und die Formel des verrückten Bildes dabei im rech-
ten Sinne ausgesprochen, müssen den einseitigen Newtoni-
schen Poltergeist auf immerdar verscheuchen.
Siebente Tafel
Auf dieser sind mehrere unwahre und kaptiose Figuren
Newtons zusammengestellt, wie solche leider in allen Kom-
pendien, Lexicis und andern Lehrbüchern seit einem Jahr-
hundert unverantwortlich wiederholt werden.
2 7 6 ZUR FARBENLEHRE
Erste Figur. Ein linearer Lichtstrahl trifft auf ein Mittel
und spaltet sich in fünffarbige Strahlen. Wenn auch New-
ton nicht selbst diese Figur vorbringt, so ist sie doch bei
seinen Schülern gäng und gäbe, die nicht das mindeste
Bedenken haben, etwas, wovon die Erfahrung nichts weiß,
in einer hypothetischen Figur darzustellen. Man sehe nach,
was wir hierüber zu der eilften Tafel weiter ausführen wer-
den.
Zweite Figur. Ein sogenannter Lichtstrahl, von einiger
Breite, geht durchs Prisma und kommt hinter demselben
als ein verlängertes Bild auf der Tafel an. Was aber eigent-
lich im Prisma und zwischen dem Prisma und der Tafel
vorgehe, ist verschwiegen und verheimlicht.
Dritte Figur, der vorigen ähnlich; das, was daran aus-
führlicher ist, ganz hypothetisch. Schon vor dem Prisma
wird der Strahl durch Linien in verschiedene geteilt, so
gehn sie durchs Prisma, so kommen sie hinten an. Vor
dem Prisma sind sie ganz hypothetisch, innerhalb des-
selben zum größten Teil: denn in demselben kann nur
oben und unten eine ganz schmale Randerscheinung statt-
finden. Hinter dem Prisma ist die mittlere Linie hypo-
thetisch und die nächsten beiden falsch gezogen, weil sie
mit der obern und untern aus einem Punkt, oder wenig-
stens nahezu aus einem Punkt, entspringen müßten.
Vierte Figur. Das Spektrum als eine Einheit vorgestellt.
Fünfte Figur. Dasselbe, in welchem die darin enthalten
sein sollenden homogenen Lichter als übereinander grei-
fende Ringe gezeichnet sind. Wenn ein rundes Bild ver-
rückt wird, so kann sich ein oberflächlicher oder im Vor-
urteil befangner Zuschauer das Phänomen ohngefähr so
vorbilden lassen. Man verrücke ein vierecktes Bild, wie
wir auf der fünften und sechsten Tafel getan haben, und
die Täuschung ist nicht mehr möglich.
Sechste Figur. Ganz hypothetisch. Sie will uns glauben
machen, bei Verlängerung des Bildes sei es möglich, jene
Strahlenkreischen weiter voneinander abzusondern.
Siebente Figur. Nicht allein hypothetisch, sondern völlig
unwahr. Wenn die verschiedenfarbigen Lichtscheibchen
sich absondern lassen, warum hängt man sie denn hier mit
ERKLÄRUNG DER TAFELN 277
Strichelchen zusammen: Niemand hat auch nur den Schein
dieser Figur mit Augen gesehen.
Achte Figur. So wunderlich als falsch, um das zu bezeich-
nen, was bei der Verbindung der Linse mit dem Prisma vor-
geht.
Neunte Figur. Eine der letzten Newtonischen Figuren, um
endlich die weiße Mitte gleich hinter dem Prisma, die lange
genug ignoriert worden, zu erklären und der schon völlig
fertigen Hypothese anzupassen.
Achte Tafel
Hier hat man mit redlicher Mühe und Anstrengung eine
einzige unwahre und kaptiose Newtonische Figur, die ein-
undzwanzigste des ersten Teiles, in mehrere Figuren zer-
legt oder vielmehr die wahre Genese des Phänomens durch
mehrere Figuren ausgedrückt. Wir brauchen hierüber nichts
weiter zu sagen, weil wir bei Entwicklung des neunten
Versuchs (Polemik § 196—203) diese Tafel umständlich
erläutert und das Nötige deshalb mitgeteilt haben.
Neunte Tafel
Bei dieser und der folgenden dagegen müssen wir um desto
weitläuftiger sein, nicht weil die darauf vorgestellte theore-
tische Verkehrtheit schwer einzusehen wäre, sondern weil
wir denn doch einmal schheßlich diese unglaublichen Tor-
heiten vor das Forum eines neuen Jahrhunderts bringen
möchten.
Wir mußten bei der ersten Farbensäule, über welcher das
Wort Natur geschrieben steht, mehr Stufen vom Gelben
bis zum Gelbroten, vom Blauen bis zum Blauroten an-
nehmen, als eigentlich nötig wäre, um uns mit der wun-
derlichen Darstellung der Gegner, die danebengesetzt ist,
einigermaßen parallel zu stellen. Hier zeigt sich natur-
gemäß das unveränderte Weiß in der Mitte; von der einen
Seite steigt das Gelbe bis ins Gelbrote, von der andern
das Blaue bis ins Blaurote, und damit ist die Sache ab-
getan. Aber nun sehe man die daneben schachbrettartig
aufgestellte — Posse dürfen wir sagen: denn nur als eine
solche können wir sie aufführen.
2 78 ZUR FARBENLEHRE
Sobald meine Beiträge zur Optik erschienen waren, machte
sichs die ganze Gild zur Pflicht, sogleich über mich her-
zufallen und zu zeigen, daß dasjenige, was ich noch für
problematisch hielt, schon längst erklärt sei. Gren in Halle
besonders verwandelte die Newtonischen Äußerungen in
ein Buchstabenschema, welches zeigen sollte, wie man
eigentlich die Lichtstrahlen en ichelo7i hintereinander müsse
aufmarschieren lassen, um das belobte zusammengesetzte
Weiß in der Mitte hervorzubringen. Genau in der Mitte
nämlich muß die violette Tete der zurückbleibenden Ko-
lonne schon angekommen sein, ehe die gelbrote Queue
der voreilenden Kolonne die Mitte verläßt. Da nun alle
Zwischenkolonnen verhältnismäßig vorrücken, so treffen
ihre verschiedenfarbigen Teile auf der Mitte dergestalt
zusammen, daß sie in die Quere abermals diese sieben-
farbige Folge bilden und, insofern man sie als überein -
andergeschoben sich deckend betrachten kann, nunmehr
weiß erscheinen.
Man stelle sich diese Farben liquid vor und sehe, was
herauskommt, wenn man sie zusammenstreicht.
Blaurot, Rotblau, Hellblau, Grün,
machen
Hinaufwärts:
Rotblau, Hellblau, Grün, Hellgelb, Rotgelb, Gelbrot
machen Hellgelb
Hellblau, Grün, Hellgelb, Rotgelb, Gelbrot
machen dunkler Gelb
Grün, Hellgelb, Rotgelb, Gelbrot
machen tioch dunkler Gelb
Hellgelb, Rotgelb, Gelbrot
va.2.QhtXi rötlich Gelb
Rotgelb, Gelbrot
machen Rotgelb
Gelbrot
steht seinen Mann.
ERKLÄRUNG DER TAFELN 279
Nun sollte man doch denken, das Seltsamste sei vorüber,
aber ein weit Barockeres steht uns noch bevor. Denn wenn
die Mitte auf gemeldete Art weiß wird, so muß eine jede
auf- und absteigende Querreihe, die nun nicht mehr sämt-
liche Farben enthält, in sich summiert, diejenige Farbe
hervorbringen, welche im prismatischen Bilde ihrer Rich-
tung korrespondiert.
Das erste also gesetzt, daß die sieben Farben der mittlem
Reihe Weiß machen, so machen die sechs Farben der näch-
sten drüber Hellgelb und der nächsten drunter Hellblau;
die fünf Farben der folgenden sofort dunkler Gelb und
dunkler Blau; vier Farben sodann ein noch dunkler Gelb
und ein noch dunkler Blau; drei Farben machen Rotgelb
und Rotblau; zwei Farben endlich Gelbrot und Blaurot;
und zuletzt steht Blaurot und Gelbrot jedes für sich.
Ob es nun gleich hiermit wohl genug sein könnte, so wollen
wir doch noch ein übriges tun und das, was auf unserer
Tafel mit Farben ausgedrückt ist, auch noch tabellarisch
mit Worten ausdrücken.
Hellgelb, Rotgelb, Gelbrot
Weiß
Hinabwärts:
Blaurot, Rotblau, Hellblau, Grün, Hellgelb, Rotgelb
machen Hellblau
Blaurot, Rotblau, Hellblau, Grün, Hellgelb
machen dunkler Blau
Blaurot, Rotblau, Hellblau, Grün
machen noch dmikler Blau
Blaurot, Rotblau, Hellblau
machen rötlich Blau
Blaurot, Rotblau
machen Rotblau
Blaurot
steht seinen Mann.
2 8o ZUR FARBENLEHRE
Wir haben dieses Wortschema vorzüglich deshalb so um-
ständlich ausgeführt, damit demjenigen vorgearbeitet sei,
der es als Theses aufstellen möchte, um darüber im Narren -
türme zu disputieren oder in der Hexenküche zu kon-
versieren. Weil es nun zugleich rätlich wäre, das Behaup-
tete durch Erfahrung darzustellen, und sich wohl schwerlich
ein newtonisch gesinnter Maler finden würde, der aus Zu-
sammenmischung seiner ganzen Palette Weiß hervorzu-
bringen unternähme, so ließe sich vielleicht dadurch eine
Auskunft treffen, daß man einen namhaften Mechanikus um
die Gefälligkeit ersuchte, mit seinem künstlichen Schwung-
rade den geneigten Zuschauern nicht einen blauen, son-
dern einen grauen Dunst vor die Augen zu machen.
Auf derselbigen Tafel haben wir gleichfalls gesucht, von
der Art und Weise Rechenschaft zu geben, wie der selt-
same Wünsch sich aus der Sache zu ziehen gesucht, da
ihm die Newtonische Erklärungsart nicht haltbar vorkam.
Wir haben die seinige, insofern es möglich war, der Natur
und der Grenischen parallel an die Seite zu stellen gesucht.
Daraus wird nun klar, daß er nichts weiter getan, als jene
Erklärungs- und Vorstellungsweise zu abbrevieren. Erbe-
hält nämlich von sieben Farben nur die Mitte und die bei-
den Enden, Grün, Blaurot und Gelbrot, in welchen dreien
die beiden übrigen mit ihren Stufen freilich schon stecken;
setzt dann, wiewohl auf eine ebenso närrische Weise als
die Newtonianer, aus Grün, Gelbrot und Blaurot Weiß
zusammen. Hinaufwärts muß aus Grün und Gelbrot Gelb
mit seinen Stufen, hinunterwärts aus Grün und Blaurot
Blau mit seinen Stufen entspringen. Gelbrot und Blaurot,
wie bei Gren, bezahlen für sich. Auch diese Tollheit läßt
sich auf unsrer Tafel, ohne darüber viel Worte zu machen,
recht gut übersehen.
Auf dem untern Teile der Tafel haben wir die Entstehung
des Grünen, nach der Natur und nach Wünsch, dargestellt.
Zuerst zeigt sich das prismatische Phänomen, wenn das
Grün aus dem Zusammentreten des helleren Gelb und Blau
schon entstanden ist. Wie dies geschieht, ist daneben ge-
zeigt, da die von beiden Seiten kommenden Säume als
nebeneinander stehend gezeichnet sind. Sodann folgt
ERKLÄRUNG DER TAFELN 281
Wünsch mit seinen vertrakten drei Urfarben. Sie sind so
auseinandergezerrt, daß das Grün nun auf einmal eine
Person für sich spielt und sich zwischen seinen gleichfalls
selbständigen Brüdern sehen lassen darf. Hätte die mensch-
liche Natur nicht solche unendliche Neigung zum Irrtum,
so müßte ein so abschreckendes Beispiel, wie übrigens
talentvolle Männer sich verirren können, von größerem
Nutzen für die Jugend sein als jenes, wenn die Lacedä-
monier ihren Jünglingen besoffene Knechte zur Warnung
vorführten.
Zehnte Tafel
Überzeugt wie ich war, daß die prismatische Farbener-
scheinung sowohl dem Licht als dem angrenzenden Dunkel
angehöre, mußte ich freilich die subjektiven Versuche,
mit denen ich mich besonders abgab, anders als ein New-
tonianer ansehen. Ein weißes Bild oder Streifen auf schwar-
zem, ein schwarzes Bild oder Streifen auf weißem Grunde,
durchs Prisma in der Nähe betrachtet, blieben, indem die
Ränder sich färbten, jenes in der Mitte weiß, dieses in
der Mitte schwarz. Wie sich bei mehrerer Entfernung des
Beobachters die Farbensäume verbreiterten, wurde dort
das Weiße, hier das Schwarze zugedeckt, und endlich, bei
noch weiterem Wegtreten, zeigte sich durch Vermischung
dort ein Grün, hier ein vollkommenes Rot, wie solches auf
unserer zweiten Tafel, unten in der Ecke rechts, darge-
stellt ist.
Diese Phänomene gingen mir also völlig parallel. Was bei
Erklärung des einen recht war, schien bei dem andern
billig; und ich machte daher die Folgerung, daß, wenn die
Schule behaupten könne, das weiße Bild auf schwarzem
Grunde werde durch die Brechung in Farben aufgelöst,
getrennt, zerstreut, sie ebensogut sagen könne und müsse,
daß das schwarze Bild durch Brechung gleichfalls aufgelöst,
gespalten, zerstreut werde.
Dagegen hatten die Newtonianer bereits seit einem Jahr-
hundert eine fertige Ausflucht, deren sich Richter schon
gegen Rizzetti bedient: daß nämlich diese farbigen Säume
nicht dem Dunkeln, sondern dem Hellen zuzuschreiben
282 ZUR FARBENLEHRE
seien, dem Lichte, das vom Rande herstrahle und nach
der Brechung, in Farben aufgelöst, farbig zum Auge des
Beschauenden gelange.
Wie ein Rezensent der Jenaischen allgemeinen Literatur-
zeitung vom Jahre 1792 in Nr. 31 diese Erklärungsart
gegen mich geltend zu machen sucht, wird auf gegen-
wärtiger Tafel genau und aufrichtig dargestellt. Er behilft
sich in gedachtem Zeitungsblatt, wieGren, mit Buchstaben.
Wir haben die Mühe übernommen, nicht allein sein Buch-
stabenschema in reinliche und genaue Käsen einzuquar-
tieren, sondern wir haben daneben auch durch farbige
Quadrate die Sache augenfäUiger zu machen gesucht.
Zuerst steht, wie auf der vorigen Tafel, das natürliche
Verhältnis, wie nämhch der blaue und blaurote Rand von
dem Hellen nach dem Dunklen, der gelbe und der gelbrote
Rand vom Dunklen nach dem Hellen strebt, und weil sie
sich eben berühren, ein aneinander stoßendes, obgleich
noch nicht übereinander greifendes Farbenbild hervor-
bringen. Wieviel Umstände dagegen derRezensentbraucht,
um seine beidenFarbendetachements, nach der Grenischen
Weise, en ichelon gegeneinander aufmarschieren und sich
endlich berühren zu lassen, mag, wer Geduld hat, von ihm
selbst vernehmen.
"Ein schwarzer Streifen auf weißem Grunde wird hier
durch die Buchstaben m np q bezeichnet. Die Buchstaben
r^^r^ & bedeuten Rot, Gelb, Grün, Blau, Violett. Nun
schicke der nächste weiße Punkt bei A über den schwar-
zen Streifen einen Lichtstrahl durchs Prisma ins Auge des
Beobachters. Dieser wird in die genannten Farben, von
welchen wir der Kürze wegen nur fünf annehmen, ge-
spalten und auf die aus Newtons Versuchen bekannte Art
zerstreut werden. Ist nun der brechende Winkel des Pris-
mas nach unten gekehrt, so wird der gelbe Teil des ge-
spaltenen Lichtstrahles nicht mehr auf den weißen Teil
des Papiers, sondern herunter in den schwarzen Streifen
bei g gleich neben h vom Auge projiziert werden, und nur
der rote wird in r gleich neben A bleiben, wo der ganze
weiße Punkt liegt, von welchem der Strahl kam. Der grüne
wird noch weiter herunter neben i, der blaue in b neben k
ERKLÄRUNG DER TAFELN 283
und der violette in v neben /treffen. Mit den etwas höher
liegenden Lichtpunkten, bei B, C, D, E, geht es ebenso.
Deren blaue und violette Teile reichen aber nicht so weit
herunter in den schwarzen Streifen als die des Licht-
punktes bei A; folglich sieht man auch bloß diese letzteiti
isoliert im schwarzen Streifen neben k und /. In i ist nebst
dem Grün vom Lichtpunkt A auch noch Blau vom Licht-
punkt B unb Violett von C vorhanden. Deshalb erkennt
man dieses Grün schon nicht mehr, sondern es erscheint
schon als ein weißliches Licht oder als das hellste Blau.
Das Gelb bei // ist ganz unkenntlich, weil ihm noch Grün,
Blau und Violett von den Punkten B, C, D beigemischt
sind. Das gleich drüber liegende Rot bei A aber erscheint
völlig weiß, weil ihm das Gelb, Grün, Blau und Violett
von den Lichtpunkten bei B^ C, D, £ beigemischt sind.
Nach dieser Vorstellungsart käme also das Blaue und Vio-
lette im schwarzen Streifen nicht von dieser Schwärze,
sondern von dem darüber hegenden weißen Licht, das
vom Prisma gespalten, zerstreut und vom Auge herunter
ins Schwarze ist projiziert worden.
Auf gleiche Art ließe sich zeigen, warum unterhalb des
schwarzen Streifens bei a nichts weiter als Rot erscheint,
wenn anders der schwarze Streifen nicht gar zu schmal
ist. Der Lichtpunkt bei a erhält nämlich von keinem Licht-
punkt bei A, B usw. eine Farbe, indem sich keine der-
selben über die schwarze Region hinaus erstreckt, noch
weniger die Schwärze selbst dergleichen liefern kann. Die
rote Farbe bei b aber hat auch noch die gelbe des drüber-
liegenden Lichtpunkts bei a in sich und gibt also Orange-
gelb. Das Rot bei c hat Gelb von b und Grün von a, er-
scheint also hellgelb und verliert sich schon allmählich
ins Weiße. Bei d und e erscheinen die farbigen Teile der
einzelnen Lichtpunkte schon beinahe ganz weiß, weil hier
schon fast alle Farben wieder beieinander sind. Es ver-
steht sich übrigens, daß die Buchstaben r g gr usw., die
im Schema «f^^//einander gesetzt sind, iiber- oder viel-
mehr ///einander liegend gedacht werden müssen. Auch
muß man sich da, wo keine Querstriche stehen, ebenfalls
fiirbige Teile von gespaltenen, höher liegenden Licht-
2 84 ZUR FARBENLEHRE
punkten vorstellen; dahingegen an den Stellen, wo Punkte
stehen, keine weitere als bloß durch die Buchstaben ange-
zeigten Farbenteile angenommen werden können.
Sonach würde also der Newtonianer, bei hinlänglich schwar-
zen Streifen, nicht Gelb und Blau, sondern Rot und Violett
am reinsten sehen, indem das Gelb von Rot und Grün und
das Blau von Grün und Violett allemal etwas gestört ist: es
sei denn, daß man nicht mehr als einen einzigen Strahl von
einem gleich über oder unter dem schwarzen Streifen lie-
genden Lichtpunkt ins Auge bekomme. Denn alsdann
müßte man alle einzelnen Farben auf dem Schwarz ganz
rein sehen; sie würden aber dann so schwach sein, daß
man sie schwerlich erkennen könnte.
Wäre der schwarze Streifen so schmal oder so weit vom
Auge des Beobachters entfernt, daß das Violett bei /wie-
der herunter auf den weißen Grund, also mit in das r bei
a fiele, so würde man dieses r nicht mehr rein Rot, son-
dern Pfirsichblüt sehen, so wie unter dem Gelb bei c Grün
erscheinen müßte, wenn bei d schon wieder ein neuer
schwarzer Streifen anfinge, indem alsdann das nächste r
bei d hinweggedacht werden müßte und bloß die Mischung
von Gelb, Grün und Blau übrigblieb.
Wäre hingegen der schwarze Streifen sehr viel breiter, als
er hier angenommen worden, so würde unterhalb /bis zur
Grenze alles schwarz bleiben, so wie unter e alles weiß
bleibt, wenn sich da kein weißer Streifen wieder an-
fängt."
Eine achtzehnjährige Antikritik gegen diese Rezension ist
noch unter unsern Papieren. Wir können aber dieselbe
recht gut zurückhalten, weil sie schon vollkommen in un-
serer vollbrachten Arbeit liegt. Die Nachwelt wird mit Er-
staunen ein solches Musterstück betrachten, wie gegen das
Ende des achtzehnten Jahrhunderts in den Naturwissen-
schaften auf eine Weise verfahren worden, deren sich
das dunkelste Mönchtum und eine sich selbst verirrende
Scholastik nicht zu schämen hätte.
Wie mit eben diesen Erscheinungen an einem schwarzen
Streifen der wunderliche fF?V/w^/i sich abgequält, weil seine
Voraussetzung nicht passen wollte, soll nunmehr auch von
ERKLÄRUNG DER TAFELN 285
uns dargestellt werden. Wir haben diesem Zwecke den
untern Raum der zehnten Tafel gewidmet.
Erst sieht man abermals einen schwarzen Streifen durch
das Ganze gehen. Das einfache Verfahren der Natur ist
dargestellt. Ins Schwarze herein wirken Blau und Blaurot,
vom Schwarzen ab Gelbrot und Gelb. Wo die beiden ins
Rot gesteigerten Enden übereinander greifen, erscheint
ein vollkommenes Rot, und damit ist die Erfahrung ab-
getan.
Nun läßt hingegen Wünsch abermals seine drei Grund-
farben en Echelon von oben und unten in das Schwarze
hineinmarschieren. Allein hier gelingt ihm nicht einmal,
was ihm auf der vorigen Tafel gelang, indem seine hypo-
thetischen Wesen, selbst nach seiner eignen Auslegung,
das Phänomen nicht hervorbringen können. Mit aller Be-
mühung bringt er die Naturerscheinung nicht heraus. Zwar
macht er aus Blaurot und Gelbrot das vollkommene Rot;
allein unten drunter, wo er das Gelbrot haben soll, treten
leider drei Grundfarben übereinander und müßten also
Weiß geben; wie wir denn auch diese Käse unilluminiert
gelassen. Ferner wird nun aus Gelbrot und Grün Hell-
gelb; und der Schwanz der grünen Kolonne ist ganz ohne
Wirkung. Hinaufwärts, über dem vollkommenen Rot, tritt
Grün und Blaurot zusammen, woraus denn nach seiner
löblichen Theorie Blau entsteht. Allein nun findet sich
leider obendrüber Grün und Gelbrot nebeneinander, und
da müßte denn abermals Gelb entstehen, welches aber
niemals erscheint noch erscheinen kann; deswegen haben
wir auch die Käse weiß gelassen. Die übrigen Farben ins
Weiße zu verfolgen, möchte nun wohl weiter nicht wert
sein.
Dieses sind die Resultate einer Auslegungsart, die bloß
dadurch entstanden ist, daß ein sonst scharfsinniger Mann
die Newtonische nicht wegwarf, sondern sich an einem
Paroli und Septleva des Irrturas ergötzte. Fast möchten
wir glauben, daß es im Gehirn ganz besondere Organe für
diese seltsamen Geistesoperationen gebe. Möge doch Gall
einmal den Schädel eines rechten Stock-Newtonianers
untersuchen und uns darüber einigen Aufschluß erteilen.
286 ZUR FARBENLEHRE
Eilfte Tafel
Wenn es dem Dichter, der sich eine Zeitlang in der Hölle
aufhalten müssen, doch zuletzt etwas bänglich und ängst-
lich wird und er mit großem Jubel die wieder erblickte
Sonne begrüßt, so haben wir auch alle Ursache, froh und
heiter aufzuschauen, wenn wir aus dem Fegefeuer der vier
letztenTafeln zu einer naturgemäßen Darstellunggelangen,
wie sie uns nunmehr die eilfte einfach und klar hinlegt.
Es gehört solche eigentlich zum polemischen Teile und
zwar zu § 289 bis 301. Dort ist zwar das Nötige schon
gesagt worden, aber wir tragen die Sache lieber nochmals
vor, weil diesehieraufgezeichnetenFiguren von der größten
Bedeutung sind und sie das, was bei der objektiven Re-
fraktion zur Sprache kömmt, sowohl didaktisch als pole-
misch aufs deutlichste ans Licht stellen.
Erste Figur. Es ist die in allen Lehrbüchern vorkommende,
wie nämlich das Verhältnis des Sinus des Einfallswinkels
zu dem Sinus des Brechungswinkels vorgestellt wird.
Zweite Figur. Ist die hypothetische Vorstellung, wie New-
ton und seine Schule das Verhältnis des in farbige Strahlen
auseinander gebrochenen Strahls zu dem einfallenden dar-
stellen. Man sieht, daß hier nicht das einfache Verhältnis
eines Sinus stattfinden könnte, sondern daß die weniger
oder mehr gebrochenen Strahlen größere oder kleinere
Sinus haben müßten. Nach Newtonischer Vorstellung ist
der Sinus des mittelsten grünen Strahls als Normalsinus
angenommen: aber dieses ist falsch; denn das Maß der
Refraktion kann niemals in der Mitte des Bildes, sondern
es muß am Ende desselben genommen werden.
Daß die erste Figur ein der Erfahrung gemäßes Verhältnis
in abstrakten Linien darstellt, mochte hingehen. Wenn
aber bei Nr. 2 ein Phänomen, ohne seine notwendigen Be-
dingungen, auch auf eine so abgezogene Weise vorgetragen
wird, so laufen wir Gefahr, uns eine der Natur ungemäße
Theorie aufheften zu lassen.
Das Licht oder Millionen Strahlen desselben mögen aus
dem dünnern Mittel, welches hier als der obere halbe Teil
des Zirkels bezeichnet ist, in das dichtere, welches der
untere Halbkreis vorstellt, übergehen und auf das stärkste
ERKLÄRUiN G DER TAFELN 2 8 7
gebrochen werden, so wird man doch diese Brechung nicht
messen, noch viel weniger eine Farbenerscheinung be-
merken können. Bedeckt man aber, wie in der
DrittenF/gur, die dem einfallenden Licht entgegenstehende
Seite mit irgendeinem undurchsichtigenHindernis, so folgt,
weil dieBrechunggegen das volle Licht zugeht, das Finstere
dem Hellen, und es entspringt der gelbroteundgelbe Saum.
Auf gleiche Weise muß bei umgekehrter Vorrichtung,
Vierte Figur, nach eben demselben Gesetze, das Licht dem
Finstern folgen, und es entsteht der blaue und blaurote
Rand. Dies ist das Faktum der Farbenerscheinung, wie sie
sich an die Lehre und an die Gesetze der Brechung an-
schließt, und in beiden Fällen gilt der Normalsinus für
die entgegengesetzten Farben.
Fünfte Figur. In dieser wird nun gezeigt, wie sich das
Phänomen und das Gesetz der Farbenerscheinung von der
Brechung gleichsam losmacht und mit ihr in Unverhältnis
steht, indem bei gleicher Brechung, wie in den vorigen
Fällen, die Farbenverbreiterung stärker ist; wodurch
Achromasie und Hvperchromasie hervorgebracht wird.
(E. 345 ff-)
Wir empfehlen diese Tafel allen denen, die sich und an-
dern das wahre Verhältnis der Erscheinungen entwickeln
wollen. Gebe der Himmel, daß diese einfache Darstellung
allen polemischen Wust auf ewige Zeiten von uns ent-
ferne!
Zwölfte Tafel
Der fromme Wunsch, daß wir von der Newtonischen vor-
sätzlichen oder zufälligen Verirrung nicht weiter mehr hören
möchten, kann nur alsdann erfüllt werden, wenn die ganze
Lehre vor dem Wahrheitsblick einer reinen Erfahrung und
tüchtigen Beurteilung verschwunden ist. Leider führt uns
diese Tafel, welche abermals zur Kontrovers gehört, wie-
der zu den Sophistereien zurück, wodurch freilich Unauf-
merksame getäuscht werden können.
Der wegen seiner Versuche so berühmte Newton läßt wäh-
rend seiner Untersuchungen und Beobachtungen, welche
so scharf und genau sein sollen, immer wieder, ehe man
2 88 ZUR FARBENLEHRE
sichs versieht, mancherlei ZufäUigkeiten obwalten. Eine
Fliege, die ihm über die Wand läuft, die Lettern eines auf-
geschlagenen Buches, ein Knoblauchblatt, ein Schächtel-
chen Zinnober, und was ihm sonst in die Quere kommt,
wird mit hereingezogen, und die dabei eintretenden Er-
scheinungen müssen dann gelten, was sie können.
Da die einmal aus dem Licht gesonderten homogenen
Lichter nach jener Lehre nicht weiter zu trennen sind,
sondern bei neuen Brechungen unverändert bleiben, so
läßt Newton das Spektrum auf ein gedrucktes Buch fallen,
betrachtet dieses alsdann mit einemPrisma und behauptet,
daß nun die Buchstaben keine farbigen Säume und Barte
mehr zeigen, wie sie es tun, wenn man das weiße gedruckte
Blatt durchs Prisma ansieht.
Nur ein unaufmerksamer Beobachter kann also reden. Wir
haben wiederholt gewiesen und behauptet, daß aufgefärb-
ten Flächen die Säume der Bilder bloß darum unschein-
bar sind, weil sie einmal der farbigen Fläche widersprechen
und dadurch mißfärbig werden, das andre Mal aber mit
derselben übereinstimmen und sich also in ihr verlieren.
Doch dürfen auch bei gefärbten Flächen die Bilder nur
genugsam als hell oder dunkel abstechen, so sieht man die
gedachten Säume und Barte deuthch und überzeugend ge-
nug, welche sich in vielen Fällen besonders durch Mischung
manifestieren.
Wir haben daher zur Fixierung dieses Versuchs die zwölfte
Tafel in sechs Felder eingeteilt, diese mit den sechs vor-
züglichsten Farben illuminiert und auf denselben wieder
einfache farbige Bilder angebracht, so daß außer einigen
Mückenflügeln nichts Dekomponibles auf dieser Tafel ge-
funden wird. Man betrachte sie aber durch ein Prisma, und
man wird sogleich die Säume und Barte stärker und schwä-
cher, nach Verhältnis des Hellen und Dunkeln, und sodann
wunderhch gefärbt, nach Verhältnis der Mischung mit dem
Grunde, ohne allen Widerspruch erblicken.
Wem an dieser Sache ernstlich gelegen ist, wird sich
größere Tafeln mit helleren und satteren Farben von aller-
lei Schattierungen verfertigen und überall dasselbige fin-
den.
ERKLÄRUNG DER TAFELN 289
Daß ein gefärbtes Papier einer durch prismatische Farben
erleuchteten Fläche völlig gleich zu halten sei, erhellet
daraus, daß die beiden ersten und Grundversuche von
Newtons Optik mit farbigen Papieren angestellt und doch
von ihnen als farbigen Lichtern gesprochen worden. Man
mache diese Farben so satt als man will, immer werden
die Bildersäume sich nach wie vor verhalten, vorausgesetzt,
daß die Bilder an Helligkeit oder Dunkelheit vom farbigen
Grunde genugsam abstechen.
Wollen die Newtonianer nach alter Weise ihre Ausflucht
dahin nehmen, daß keins der homogenen Lichter voll-
kommen homogen, die dekomponierten nicht völlig de-
komponiert seien, daß ihnen allen die Erbsünde ihrer
Mutter, des Lichts, heterogen und dekomponibel zu sein,
noch immer in einem gewissen Grade anklebe, weshalb
denn die freilich unbedingt ausgesprochenen Axiome durch
die Ej-fahrung bis zu nichts bedingt und limitiert werden:
so überlassen wir gern die Schule ihrem würdigen Prä-
sidenten und Anführer der Kosaken, dessen Qualifikation
zu dieser Stelle wir in dem Werk selbst wohlmeinend dar-
getan.
Dreizehnte Tafel,
teils der Kontrovers, teils der natürlichen Darstellung des
Phänomens gewidmet
Die vierte Figur, nach einer Newtonischen kopiert, der
ersten des zweiten Teiles, ist gehörigen Orts in ihrer gan-
zen Unrichtigkeit, Unreinheit, Falschheit und Betrüglich-
keit dargestellt worden.
Um das Phänomen, wovon die Rede ist, in seiner Anlei-
tung kennen zu lernen, sehe man unsere oben drüber
stehende Figuren und bemerke Folgendes:
Erste Figur. Das Lichtbild geht durch ein großes Prisma,
die Farbenerscheinung entsteht an beiden Grenzen, der
weißen Mitte ist eine Tafel entgegengestellt. Durch eine
Öflfnung derselben fällt dieses gebrochene weiße Licht,
und sogleich entstehn gesetzmäßig an den Grenzen die
Farbenerscheinungen, sich verbreitend, sich vereinigend
und das Grün bildend.
GOETHE XVII ig.
290 ZUR FARBENLEHRE
Zweite Figur. Dasselbe Prisma, derselbe Lichtdurchgang,
dieselbe Farbenentstehung an den Grenzen. Hier hat man
aber weder diesen entstandenen Farben noch der weißen
Mitte eine Tafel entgegengesetzt, sondern jene gehen ins
Weite, in diese aber hat man ein schmales Hindernis ein-
geschoben, an dessen Rändern abermals die Farbenerschei-
nung nach dem Gesetz entsteht. Jene ersten Randerschei-
nungen hätten für sich bei weiterem Fortgang ein Grün
hervorgebracht; nun sind aber hier, durch dies schmale
Hindernis, zwei neue Grenzen entstanden, deren äußere
Seiten mit jenen ersten Randerscheinungen Grün, deren
innere hingegen, nach dem Dunkeln zu, Purpur hervor-
bringen, wodurch denn ein ganz eignes und kompliziertes
Spektrum zum Vorschein kommt.
Dritte Figur. Hier hat man die Phänomene der beiden
obern Figuren vereinigt. Man gab dem einfallenden Licht
mehr Breite, machte die Öffnung der Tafel größer und
setzte das Hindernis als einen durchschnittenen Stab vor
das Prisma. Dieses ist nun eigentUch die rechte und recht-
liche Darstellung desjenigen, was Newton durch seine
drunter stehende Figur andeuten will, wo das angebrachte
Pfötchen mit einem Stäbchen die farbigen Strahlen da
wegpariert, wo sie nach der Theorie selbst noch nicht
existieren.
Bei unserer dritten Figur sieht man nun freilich ein noch
komplizierteres Spektrum am Ende anlangen, allein es ist
und bleibt doch immer dasselbe. Wir finden hier eine drei-
fache Randerscheinung; die erste oben und unten aus dem
Prisma, welche nur bis zur Tafel gelangt; die zweite in der
Mitte aus dem Prisma, an den beiden Rändern, welche
das Stäbchen verursacht; die dritte an den Grenzen der
Öffnung, welche die Tafel läßt und wodurch die mittlere
Erscheinung zugleich durchgeht.
Man begreift bei genauer Betrachtung dieser Normalfigur
recht gut, was für verschiedenartige Erscheinungen vor-
kommen müssen, wenn man das Stäbchen hin und wieder
bewegt, so daß die dadurch neu entstehenden mit den
schon entstandenen sich auf allerlei Weise verbinden, ver-
mischen, sich irren und einander aufheben: welches aber
ERKLÄRUNG DER TAFELN 2 9 1
niemanden irremachen wird, der unsere naturgemäße Ab-
leitung kennt.
Vierzehnte Tafel
Die mittlere Figur dieserTafel gehört zum dritten Versuche
des zweiten Teils der Newtonischen Optik und ist von uns
schon als kaptios und falsch gerügt worden. Man vergleiche
nunmehr unsre naturgemäße oben drüber gestellte, deren
Teile wir mit denselben Buchstaben bezeichnet haben.
A B C ist hier auch das Prisma, auf welches das volle
Sonnenhcht fällt. Bei A und C geht jedoch die farbige
Randerscheinung an und würde sich, wenn in F und G
eine Tafel stände, daselbst abbilden. £) und B ist nun-
mehr die von Newton angegebene Tafel, welche ganz inner-
halb des weißen Lichtes stehen soll. Von ihren beiden
Enden Z> und £ würden daher naturgemäß abermals far-
bige Randerscheinungen entspringen und sich in fg ab-
bilden.
Ließe man nun die Tafel D E unbeweglich stehen und
brächte zwei Tafeln de und 6 e wie Schaufeln eines Wasser-
rades, jedoch beweglich an, so würden von den Enden s
und e abermals farbige Ränder verursacht werden, die sich
auf der Tafel D Eva. h und i abbildeten. Hier hätten wir
also schon die Rändererscheinungen dreimal bei diesem
Versuche, die jedoch Newton völlig verschweigt. Um nun
diejenigen, welche er aufführt, und denen zuliebe er seinen
Versuch so wunderlich anstellt, vorsAuge bringen zu können,
haben wir in /und k ein paar Stifte supponiert, von welchen
die Erscheinung abermals hervorgebracht wird, und wo-
durch noch mehr auffällt, daß es eigentlich ein Rand ist,
welcher die Farben verursacht, ob ihn gleich Newton ge-
rade durch diesen Versuch ausschließen und beseitigen
möchte.
Wer diese beiden Figuren mit Aufmerksamkeit vergleicht,
die Newtonische Auslegung und die unsrige wohl be-
herzigt, der wird hier abermals das seltsamste Beispiel,
wie ein Versuch entstellt werden kann, mit Verwunderung
wahrnehmen.
Die untere Figur ist die Newtonische zehnte des zweiten
292 ZUR FARBENLEHRE
Teils und gehört zu dessen dreizehntem Versuch, der bei
uns entwickelt worden.
Fünfzehnte Tafel
Gehört zum historischen Teil und stellt die Figur vor,
welche Antonius de Dominis zu Versinnlichung dessen,
was im Regentropfen vorgeht, ausgedacht. In der ange-
zogenen Stelle findet man seine eigene Erklärung. Wenn
vom Regentropfen die Rede sein wird, müssen wir uns
abermals darauf beziehen. Hier bemerken wir nur, daß er
nicht, wie seine Nachfolger, die Sache mit einem hypo-
thetischen Strahl abtut, sondern den Durchschnitt des auf
dem Grunde der Kugel zusammengezogenen Sonnenbildes,
durch g g bezeichnet, naturgemäß darstellt: welches bei
einer gründlichen Erklärung des Regenbogens von großer
Bedeutung ist.
Sechzehnte Tafel*
Das zusammengesetzte hohle Wasserprisma ist hier schwe-
bend vorgestellt. Man kann seine zwei undurchsichtigen
bleiernen Seiten von den durchsichtigen gläsernen leicht
unterscheiden und sieht, daß die oberste ni cht zugeschlossen
ist. Man erkennt das schmale Fensterblei, wodurch das
ganze Instrument verbunden wird, indem die Bleizainen
an den Rändern hingeführt und wohlverkittet sind.
Es schwebt das Prisma über seinem Gestelle. Dieses hat
zwei Seitenbretter mit Leisten eingefaßt, um das Prisma
zu empfangen. Die eine Leiste ist kurz und einfach, die
andere länger und eingeschnitten. Dieser Einschnitt dient,
wenn das Prisma unmittelbar an den Brettern niederge-
lassen ist und auf den Leisten ruht, eine ausgeschnittene
Pappe vor die eine Fläche des Prismas zu schieben, um
dadurch objektive Versuche hervorzubringen, welche mit
den subjektiven parallel gehn.
Die erstbeschriebenen Seitenbretter sind durch beweg-
liche Zapfen mit zwei Pfosten verbunden und können
durch eine Schraube an die Pfosten angezogen oder von
* Diese von Goethe auch im zweiten Stück der „Beiträge zur Optik"
gegebene Tafel befindet sich hier Seite 330.
ERKLÄRUNG DER TAFELN 293
denselben entfernt und also dem Prisma genau angepaßt
werden.
Die beiden Pfosten stehen auf einem Boden von starkem
Holz, das einwärts vertieft ist, damit das aus dem prisma-
tischen Gefäß allenfalls auströpfelnde Wasser aufgefangen
werde. Die Leisten der oben beschriebenen Seitenbretter
gehn unterwärts nicht zusammen, damit das Wasser un-
gehindert abträufeln könne.
Ob nun gleich dieses Prisma, wie es hier vorgestellt ist,
leicht angeschafft werden und guten Nutzen gewähren kann,
so ließe sich doch solches auf mancherlei Weise verbessern.
Besonders würde dasselbe sehr gewinnen, wenn man an
der einen untern Seite, genau in der Spitze des Winkels,
eine mit einem verschlossenen Hahn versehene Röhre an-
brächte, so daß man das Wasser bequem ablassen und das
Gefäß jederzeit reinigen könnte, welches jetzt nur ge-
schehen kann, indem man es aus dem Gestelle hebt. Wie
dieses Erfordernis, und was sonst noch zu wünschen wäre,
zu bewerkstelligen sei, wird ein geübter Mechaniker wohl
auszudenken wissen.
CHROMATIK
Bringst du die Natur heran^
Daß sie jeder nutzen kann;
Falsches hast du nicht ersonnen^
Hast der Menschen Gunst gewonnen.
BEITRÄGE ZUR OPTIK
ERSTES STÜCK. 1791
MIT XXVn TAFELN 1
Einleitung
1. /' ^EGEN die Reize der Farben, welche über die
I -»ganze sichtbare Natur ausgebreitet sind, werden
^^ — Jnur wenig Menschen unempfindlich bleiben. Auch
ohne Bezug auf Gestalt sind diese Erscheinungen dem
Auge gefäUig und machen an und für sich einen ver-
gnügenden Eindruck. Wir sehen das einfache Grün einer
frischgemähten Wiese mit Zufriedenheit, ob es gleich nur
eine unbedeutende Fläche ist, und ein Wald tut in einiger
Entfernung schon als große einförmige Masse unserm
Auge wohl.
2. Reizender als dieses allgemeine grüne Gewand, in
welches sich die ganze vegetabilische Natur gewöhnlich
kleidet, sind jene entschiedenem Farben, womit sie sich
in den Stunden ihrer Hochzeitfeier schmückt. Sie tritt aus
ihrer alltäglichen Gleichgültigkeit hervor und zeigt end-
lich, was sie lange vorbereitet, unserm Auge. Sie wirkt
auf einmal, schnell, zu dem größten Zwecke. Die Dauer
künftiger Geschlechter wird entschieden, und wir sehen
in diesem Augenblicke die schönsten und muntersten
Blumen und Blüten.
3. Wie angenehm beleben bunte und gescheckte Tiere
die Wälder und die Wiesen! Wie ziert der Schmetterling
die Staude, der Vogel den Baum! Ein Schauspiel, das wir
Nordländer freilich nur aus Erzählungen kennen. Wir stau-
nen, als hörten wir ein Märchen, wenn der entzückte Rei-
sende uns von einem Palmenwalde spricht, auf den sich
ein Flug der größten und buntesten Papageien niederläßt
und zwischen seinen dunkeln Ästen sich wiegt.
4. Ebenso wird es uns, wenn wir eine Zeitlang in dem
schönen Italien gelebt, ein Märchen, wenn wir uns er-
innern, wie harmonisch dort der Himmel sich mit der Erde
verbindet und seinen lebhaften Glanz über sie verbreitet.
Er zeigt uns meist ein reines tiefes Blau; die auf- und
^ Vgl. am Schluß des Bandes die 27 Abbildungen auf den nenn
Tafeln "Beiträge zur Optik",
2 98 CHROMATIK
untergehende Sonne gibt uns einen Begriff vom höchsten
Rotbis zum lichtesten Gelb; leichtehin und wieder ziehende
Wolkenfärben sich mannigfaltig, und die Farben des himm-
lischen Gewölbes teilen sich auf die angenehmste Art dem
Boden mit, auf dem wir stehen. Eine blaue Feme zeigt
uns den liebhchsten Übergang des Himmels zur Erde, und
durch einen verbreiteten reinen Duft schwebt ein lebhafter
Glanz in tausendfachen Spielungen über der Gegend. Ein
angenehmes Blau färbt selbst die nächsten Schatten; der
Abglanz der Sonne entzückt uns von Blättern und Zwei-
gen, indes der reine Himmel sich im Wasser zu unsern
Füßen spiegelt. Alles was unser Auge übersieht, ist so
harmonisch gefärbt, so klar, so deutlich, und wir ver-
gessen fast, daß auch Licht und Schatten in diesem Bilde
sei. Nur selten werden wir in unsern Gegenden an jene
paradiesischen Augenblicke erinnert, und ich lasse einen
Vorhang über dieses Gemälde fallen, damit es uns nicht
an ruhiger Betrachtung störe, die wir nunmehr anzustellen
gedenken.
5. Wenn wir die Körper, aus denen die Welt besteht, im
Bezüge auf Farben betrachten, so können wir leicht be-
merken, daß diese zarten Erscheinungen, die bei gewissen
Veränderungen des Körpers so leicht entstehen und ver-
schwinden, nicht etwa zufälhg sind, sondern von bestän-
digen Gesetzen abhangen. Gewisse Farben sind gewissen
Geschöpfen eigen, und jede Veränderung der äußerlichen
Erscheinung läßt uns auf eine innere wesentliche Ver-
änderung schließen. Die Rose verbleicht, indem sie ver-
blüht, und die bunte Farbe des Waldes verkündigt uns
die rauhe Jahreszeit.
6. Von diesen Erfahrungen geleitet, schließen wir, daß es
mit andern Wirkungen der Natur ebenso beschaffen sei.
Indem wir den Himmel blau sehen, schreiben wir der
Luft eine blaue Eigenschaft zu und nehmen an, daß wir
diese alsdann erst gewahr werden, wann wir eine große
Luftmasse vor uns haben. Wir erklären auch die blaue
Farbe der Berge auf diese Weise, ob wir gleich bei näherer
Aufmerksamkeit leicht bemerken, daß wir mit dieser Er-
klärung nicht auslangen: denn, wäre sie richtig, so müßten
BEITRÄGE ZUR OPTIK I 299
die entferntesten Berge am dunkelblauesten erscheinen,
weil sich zwischen uns und ihnen die größte Luftmasse
befindet. Wir bemerken aber gerade das Gegenteih denn
nur in einer gewissen Entfernung erscheinen die Berge
im schönen hohen Blau, da die entfernteren immer heller
werden und sich zuletzt ins Weißhche verlieren.
7. Eine andere Lufterscheinung gibt uns noch mehr zu
denken. Es verbreitet ein Gewitter über die Gegend einen
traurigen Schleier, die Sonne bescheint ihn, und es bildet
sich in diesem Augenblick ein Kreis der angenehmsten
und lebhaftesten Farben. DieseErscheinung ist so wunder-
bar erfreulich an sich selbst und so tröstlich in dem
Augenblicke, daß jugendlich empfindende Völker eine
niedersteigende Botschaft der Gottheit, ein Zeichen des
geschlossenenFriedensbundes zwischen Göttern undMen-
schen darin zu erkennen glaubten.
8. Die beständigen Farben dieser Erscheinung und ähn-
licher Phänomene lassen uns ein sehr einfaches und be-
ständiges Gesetz vermuten, das auch zum Grunde anderer
Phänomene zu liegen scheint. Schon das Kind findet in
der Seifenblase ein buntes Spielwerk, und den Knaben
blendet die glänzende Farbenerscheinung, wenn er durch
ein besonders geschliffenes Glas die Welt ansieht. Der
Jüngling beobachtet, vergleicht, zählt, und findet: daß sich
die unendliche Abweichung der Farbenharmonie in einem
kleinen Kreise nahe beisammen übersehen lasse; und da-
mit es ja am Gegensatze nicht fehle, so werden diese
Farben, die bisher so angenehm waren, so manche Er-
götzlichkeit gewährten, dem Manne in dem Augenblicke
hinderlich und verdrießlich, wenn er sich entfernte Gegen-
stände durch Hülfe künstlicher Gläser näher bringen und
die leuchtenden Körper, die in dem unendlichen Räume
geordnet sind, genauer beobachten will.
9. Von diesen schönen und, wie gesagt, unter gewissen
Umständen unbequemen Erscheinungen sind seit den
ältesten Zeiten nachdenkende Menschen gereizt worden,
sie teils genauer zu beobachten, teils sie durch künstliche
Versuche unter verschiedenen Umständen zu wiederholen,
ihrer Ursache und ihren Verhältnissen näher zu bringen.
300 CHROMATIK
Die Geschichte der Optik lehrt uns, wie langsam es da-
mit zuging.
10. Jedermann weiß, daß vor mehr als hundert Jahren
ein tiefsinniger Mann sich mit dieser Materie beschäftigte,
mancherleiErfahrungenanstellte, einLehrgebäude, gleich-
sam als eine Feste mitten im Felde dieser Wissenschaft,
errichtete und durch eine mächtige Schule seine Nach-
folger nötigte, sich an diese Partei anzuschließen, wenn
sie nicht besorgen wollten, ganz und gar verdrängt zu
werden.
11. Indessen hat es doch dieser Lehre nicht an Wider-
sachern gefehlt, und es steht von Zeit zu Zeit einer und
der andere wieder auf; obgleich die meisten, gleich als
hätten sie verwegen die Lade des Bundes angerührt, aus
der Reihe der Lebendigen verschwinden.
12. Demungeachtet kann man sich nicht leugnen, daß
große und wichtige Einwendungen gegen das Newtonsche
System gemacht worden. Ob sie widerlegt sind, bleibt
noch eine Frage: denn wer wäre stolz genug, in einer so
verwickelten Sache sich zum Richter aufzuwerfen?
13. Es würde sogar verwegen sein, sich in jenen Streit
zu mischen, wenn nicht derjenige, der in dieser Wissen-
schaft einige Vorschritte machen will, zu seiner eigenen
Belehrung die angefochtenen Punkte untersuchen müßte.
Dieses wird schwer, weil die Versuche verwickelt und be-
schwerlich nachzumachen sind, weil die Theorie abstrakt
ist und die Anwendung derselben ohne die genauste Ein-
sicht in die höhere Rechenkunst nicht beurteilt werden
kann.
14. Diese Schwierigkeiten würden mich mutlos gemacht
haben, wenn ich nicht bedacht hätte: daß reine Erfahrungen
zum Fundament der ganzen Naturwissenschaft liegen soll-
ten, daß man eine Reihe derselben aufstellen könne, ohne
auf irgendeinen weiteren Bezug Rücksicht zu nehmen;
daß eine Theorie nur erst alsdann schätzenswert sei, wenn
sie alle Erfahrungen unter sich begreift und der prak-
tischen Anwendung derselben zu Hülfe kommt; daß end-
lich die Berechnung selbst, wenn sie nicht, wie so oft ge-
schehen ist, vergebene Bemühung sein soll, auf sicheren
BEITRÄGE ZUR OPTIK I 301
Datis fortarbeiten müsse. In dieser Überzeugung entschloß
ich mich, den physikalischen Teil der Lehre des Lichtes
und der Farben ohne jede andere Rücksicht vorzunehmen,
und gleichsam für einen Augenblick zu supponieren, als
wenn in demselben noch vieles zweifelhaft, noch vieles
zu erfinden wäre.
15. Meine Pflicht war daher, die bekannten Versuche
aufs genaueste nochmals anzustellen, sie zu analysieren,
zu vergleichen und zu ordnen, wodurch ich in den Fall
kam, neue Versuche zu erfinden und die Reihe derselben
vollständiger zu machen. Da ich dem lebhaften Wunsche
nicht widerstehen konnte, wenigstens mein Vaterland auf
diese Wissenschaft aufmerksamer zu sehen, als es bisher
gewesen, so habe ich gesorgt, daß man so leicht und be-
quem als möglich die Erfahrungen selbst anstellen könne,
von denen die Rede sein wird, und ich werde am Ende
dieses Aufsatzes noch besonders von dem Gebrauche
der kleinen Tafeln sprechen, welche zugleich ausgegeben
werden.
16. Wir haben in diesen letzten Jahren eine Wissenschaft
unglaublich erweitert gesehen, und sie erweitert sich zu
unsrer Freude und zu unserm Nutzen gleichsam noch jeden
Tag: ich meine die Chemie. Aber welch ein allgemeines
Bestreben der scharfsichtigsten Männer wirkt nicht in der-
selben! Welche Mannigfaltigkeit von Erfahrungen! Welche
genaue Untersuchung der Körper, auf die man wirkt; wel-
che scharfe Prüfung der Instrumente, durch die man wirkt;
welche methodische Fortschritte; welche glückliche Be-
nutzung zufälliger Erscheinungen; welche Kühnheit in
Hypothesen; welche Lebhaftigkeit in Bestreitung der-
selben; wie viele in diesem Konflikt beiden Parteien
gleichsam abgedrungene Erfindungen; welche unpartei-
ische Benutzung desjenigen, was durch allgemeine Be-
mühung nicht einem, sondern allen gehört!
17. Es wird manchem, der den Fleiß und die Sorgfalt
kennt, mit welchen die Optik schon durchgearbeitet wor-
den, vielleicht sonderbar vorkommen, wenn ich dieser
Wissenschaft auch noch eine solche Epoche zu wünschen
mich unterfange. Wenn man sich aber erinnert, wie oft
302 CHROMATIK
sich scheinbare Hypothesen in der Vorstellung der Men-
schen festsetzten, sich lange darin behaupteten und nur
durch ein ungeheures Übergewicht von Erfahrungen end-
lich verbannt werden konnten; wenn man weiß, wie leicht
eine flache bildliche Vorstellung von der Einbildungs-
kraft aufgenommen wird und der Mensch sich so gerne
überredet, er habe die wahren Verhältnisse mit dem Ver-
stände gefaßt; wenn man bemerkt hat, wie behaglich er
oft das zu begreifen glaubt, was er nur weiß: so wird man,
besonders in unserm Jahrzehent, wo die verjährtesten
Rechte bezweifelt und angegriffen werden, verzeihlich fin-
den, wenn jemand die Dokumente untersucht, aufweiche
eine wichtige Theorie ihren Besitz gegründet hat.
i8. Man wird es mir um so mehr verzeihen, da ich zu-
fälligerweise und durch andere Wege in den Kreis dieser
Wissenschaft gelangt bin, als diejenigen sind, durch die
man sich ihr gewöhnlich nähert. Durch den Umgang mit
Künstlern von Jugend auf und durch eigene Bemühungen
wurde ich auf den wichtigen Teil der Malerkunst, auf die
Farbengebufjg aufmerksam gemacht, besonders in den letz-
ten Jahren, da die Seele ein lebhaftes freudiges Bild der
harmonisch-farbigen Welt unter einem reinen glücklichen
Himmel empfing. Denn wenn jemand Ursach hat, sich um
die Wirkungen und Verhältnisse der Farben zu bekümmern,
so ist es der Maler, der sie überall suchen, überall finden,
sie versetzen, verändern und abstufen muß; dahingegen
der Optiker seit langer Zeit beschäftigt ist, sie zu ver-
bannen, seine Gläser davon zu reinigen, und nun seinen
höchsten Endzweck erreicht hat, da das Meisterwerk der
bis auf einen hohen Grad farblosen Sehröhre in unsern
Zeiten endlich gelungen ist.
19. Der bildende Künstler konnte von jener Theorie,
woraus der Optiker bei seinen negativen Bemühungen die
vorkommenden Erscheinungen noch allenfalls erklärte,
wenig Vorteil ziehen. Denn ob er gleich die bunten Farben
des Prisma mit den übrigen Beobachtern bewunderte und
die Harmonie derselben empfand, so blieb es ihm doch
immer ein Rätsel, wie er sie über die Gegenstände aus-
teilen sollte, die er nach gewissen Verhältnissen gebildet
BEITRÄGE ZUR OPTIK I 303
und geordnet hatte. Ein großer Teil der Harmonie eines
Gemäldes beruht auf Licht und Schatten; aber das Ver-
hältnis der Farben zu Licht und Schatten war nicht so
leicht entdeckt, und doch konnte jeder Maler bald ein-
sehen, daß bloß durch Verbindung beider Harmonien
sein Gemälde vollkommen werden könne, und daß es
nicht genug sei, eine Farbe mit Schwarz oder Braun zu
vermischen, um sie zur Schattenfarbe zu machen. Man-
cherlei Versuche bei einem von der Natur glücklich ge-
bildeten Auge, Übung des Gefühls, Überlieferung und
Beispiele großer Meister brachten endlich die Künstler
auf einen hohen Grad der Vortrefflichkeit, ob sie gleich
die Regeln, wornach sie handelten, kaum mitteilen konn-
ten; und man kann sich in einer großen Gemäldesamm-
lung überzeugen, daß fast jeder Meister eine andere Art
die Farben zu behandeln gehabt hat.
20. Es ist hier der Ort nicht, diese Materien weiter aus-
zuführen, und zu untersuchen, welchen allgemeinen Ge-
setzen diese verschiedenen Behandlungen unterworfen
sein könnten. Ich bemerke hier nur ein Hauptgesetz, wel-
ches die Künstler entdeckten: ein solches, das mit dem
Gesetze des Lichtes und des Schattens gleichen Schritt
hielt und sich an dasselbe auf das innigste anschloß, es
war das Gesetz der sogenannten warmen und kalten Tinten.
Man bemerkte, daß gewisse Farben, nebeneinander ge-
stellt, ebenso einen großen Effekt machten, als tiefer
Schatten neben dem hellsten Lichte, und daß diese Farben
ebensogut Abstufungen erlitten als der Schatten durch
die Widerscheine. Ja es fand sich, daß man bloß durch
die Gegeneinanderstellung der Farben gleichsam ohne
Schatten ein sehr vollkommenes Gemälde hervorbringen
könnte, wie uns noch jetzt reizende Bilder der größten
Meister Beispiele geben.
21. Mit allen diesen Punkten, deren hier nur im Vorbei-
gehen gedacht wird, werden wir uns in der Folge mehr
beschäftigen, wenn wir erst eine Reihe Erfahrungen durch-
gegangen sind. Dieses erste gegenwärtige Stück wird die
einfachsten prismatischen Versuche enthalten, wenige,
aber merkwürdige Versuche, die zwar nicht alle neu, aber
304 CHROMATIK
doch nicht so bekannt sind, als sie es zu sein verdienten.
Es sei mir erlaubt, eh ich sie vortrage, das Allgemeinere
vorauszuschicken.
2 2 . Den Zustand des Raums um uns, wenn wir mit ofienen
gesunden Augen keine Gegenstände erblicken, nennen i
wir die Finsternis. Wir denken sie abstrakt ohne Gegen- |
stand als eine Verneinung, sie ist, wie die Ruhe, den }
Müden willkommen, den Muntern unangenehm. i
23. Das Licht hingegen können wir uns niemals in ab- j
stracto denken, sondern wir werden es gewahr als die j
Wirkung eines bestimmten Gegenstandes, der sich in dem I
Räume befindet und durch eben diese Wirkung andere
Gegenstände sichtbar macht.
24. Licht und Finsternis führen einen beständigen Streit
miteinander; Wirkung und Gegenwirkung beider ist nicht j
zu verkennen. Mit ungeheurer Elastiziät und Schnelhg- !
keit eilt das Licht von der Sonne zur Erde und verdrängt '
die Finsternis; ebenso wirkt ein jedes künstliche Licht in i
einem proportionierten Räume. Aber sobald diese un- !
mittelbare Wirkung wieder aufhört, zeigt die Finsternis ,
wieder ihre Gewalt und stellt sich in Schatten, Dämme-
rung und Nacht sogleich wieder her.
25. Die Oberflächen der Körper, die uns sichtbar werden,
haben außer ihren Eigenschaften, welche wir durchs Ge-
fühl erkennen, noch eine, welche dem Gefühl gewöhnlich
nicht unterworfen ist; wir nennen diese Eigenschaft ^rtrr^^.
In diesem allgemeinen Sinne nennen wir Schwarz und 'i
Weiß so gut als Blau, Gelb und Rot mit allen ihren Mi-
schungen eine Farbe. Wenn wir aber genauer aufmerken,
so werden wir leicht finden, daß wir jene beiden ersten
von den letztern abzusondern haben.
26. Die Wirkung des Lichts auf ungefärbte Wassertropfen,
welche sich vor einem dunkeln Grunde befinden, zeigt
uns eine Erscheinung von Gelb, Blau und Rot mit ver-
schiedenen Mischungen: ein ungefärbtes prismatisches
Glas läßt uns ein ähnliches Phänomen an allen Gegen-
ständen erblicken. Diese Farben, welche an der Ober- i
fläche der Körper nicht bleibend sind, sondern nur unter
gewissen Umständen gesehen werden, möchte ich absolute
BEITRÄGE ZUR OPTIK I 305
Farben nennen; die mit ihnen korrespondierenden Ober-
flächen/^r^z^^'^ Körper.
27. Wir bemerken, daß wir allen absoluten Farben körper-
liche Repräsentanten stellen können, welche, ob sie gleich
nicht in dem Glänze wie jene erscheinen, dennoch sich
ihnen in einem hohen Grade nähern und eine gewisse
Verwandtschaft anzeigen.
28. Sind diese farbigen Körper von der Art, daß sie ihre
Eigenschaften ungefärbten oder anders gefärbten Kör-
pern leicht mitteilen, so nennen wir %\^ färbende Körper,
oder nach dem Vorschlage Herrn Hofrats Lichtenberg
Pigmente. *^
29. Wie wir nun auf diese Weise farbige Körper und
Pigmente teils finden, teils bereiten und mischen können,
welche die prismatischen Farben so ziemlich repräsen-
tieren: so ist das reine Weiß dagegen ein Repräsentant
des Lichts, das reine Schwarz ein Repräsentant der Fin-
sternis, und in jenem Sinne, wie wir die prismatische Er-
scheinung farbig nennen, ist Weiß und Schwarz keine
Farbe; aber es gibt so gut ein weißes als schwarzes Pig-
ment, mit welchem sich diese Erscheinung auf andere
Körper übertragen läßt.
30. Unter den eigentlich farbigen Erscheinungen sind nur
zwei, die uns einen ganz reinen Begrifif geben, nämlich
Gelb und Blau. Sie haben die besondere Eigenschaft, daß
sie zusammen vermischt eine dritte Farbe hervorbringen,
die wir Grün nennen.
31. Dagegen kennen wir die rote Farbe nie in einem ganz
reinen Zustande: denn wir finden, daß sie sich entweder
zum Gelben oder zum Blauen hinneigt.
32. Von den übrigen Mischungen und Abstufungen wird
erst in der Folge die Rede sein können.
I
Prismatische Erscheinungen im allgemeinen
33. Das Prisma, ein Instrument, welches in den Morgen-
ländern so hoch geachtet wird, daß sich der chinesische
* Enclebens Natnrlehre, fünfte Auflage, S. 315.
r.OETHE XVII 20.
3o6 CHROMATIK
Kaiser den ausschließenden Besitz desselben, gleichsam
als ein Majestätsrecht, vorbehält, dessen wunderbare Er-
scheinungen uns in der ersten Jugend auffallen und in
jedem Alter Verwunderung erregen, ein Instrument, auf
dem beinahe allein die bisher angenommene Farbentheorie
beruht, ist der Gegenstand, mit dem wir uns zuerst be-
schäftigen werden.
34. Das Prisma ist allgemein bekannt, und es ist kaum
nötig zu sagen, daß solches ein länglicher gläserner Kör-
per sei, dessen beide Endflächen aus gleichen, parallel-
stehenden Triangeln gebildet sind. Parallele Ränder gehen
rechtwinklig von den Winkeln beider Endflächen aus, ver-
binden diese Endflächen und bilden drei gleiche Seiten.
35. Gewöhnlich sind die Dreiecke, durch welche die Ge-
stalt des Prisma bestimmt wird, gleichseitig, und folglich
auch alle Winkel derselben gleich und jeder von sechzig
Graden. Es sind diese zum Gebrauch ganz bequem und
können bei unsern Versuchen nicht entbehrt werden. Doch
wird es auch nötig sein, solche Prismen anzuwenden, deren
Basis ein gleichschenkliger spitzwinkliger Triangel, ohn-
gefähr von fünfzehn bis zwanzig Graden ist. Rechtwinklige
und stumpfwinklige Prismen lassen wir vorerst unberührt.
36. Wenn wir ein gewöhnhches gleichseitiges Prisma vor
die Augen nehmen, so erscheinen uns die Gegenstände
auf eine mannigfaltige Weise gefärbt, die Erscheinung ist
blendend und manchen Augen schmerzhaft; ich muß da-
her wünschen, daß diejenigen, welche an meinen Be-
mühungen Anteil nehmen möchten und nicht gewohnt
sind, durch das Prisma zu sehen, zuerst ihr Auge daran
üben, teils um sich an die Erscheinung zu gewöhnen, teils
die Verwunderung, welche die Neuheit derselben erregt,
einigermaßen abzustumpfen. Denn sollen Versuche me-
thodisch angestellt und in einer Reihe vorgetragen wer-
den, so ist es nötig, daß die Seele des Beobachters aus
der Zerstreuung sich sammle und von dem Staunen zur
Betrachtung übergehe.
37. Man nehme also zuerst das Prisma vor, betrachte
durch dasselbe die Gegenstände des Zimmers und der
Landschaft, man halte den Winkel, durch den man sieht.
BEITRÄGE ZUR OPTIK I 307
bald oberwärts bald unterwärts, man halte das Prisma
horizontal oder vertikal, und man wird immer dieselbigen
Erscheinungen wahrnehmen. Die Linien werden im ge-
wissen Sinne gebogen und gefärbt sein; schmale, kleine
Körper werden ganz farbig erscheinen und gleichsam far-
bige Strahlen von ihnen ausfahren; man wird Gelb, Rot,
Grün, Blau, Violett und Pfirsichblüt bald hier und da er-
blicken; alle Farben werden harmonieren; man wird eine
gewisse Ordnung wahrnehmen, ohne sie genau bestimmen
zu können, und ich wünsche, daß man diese Erscheinungen
so lange betrachte, bis man selbst ein Verlangen empfindet,
das Gesetz derselben näher einzusehen und sich aus die-
sem glänzenden Labyrinthe herauszufinden. Alsdann erst
wünschte ich, daß man zu den nachstehenden Versuchen
überginge und sich gefallen ließe, der Demonstration mit
Aufmerksamkeit zu folgen und das, was erst Spiel war, zu
einer ernsthaften Beschäftigung zu machen.
II
Besondere prismatische Versuche
38. Ein durchsichtiger Körper kann im allgemeinen Sinne
prismatisch heißen, wenn zwei Flächen desselben in einem
Winkel zusammenlaufen. Wir haben auch bei einem jeden
Prisma nur auf diesen Winkel, welcher gewöhnlich der
brechende Winkel genannt wird, zu sehen, und es kommen
bei den Versuchen, welche gegenwärtig angestellt werden,
nur zwei Flächen in Betracht, welche durch denselben
verbunden werden. Bei einem gleichwinkligen Prisma,
dessen drei Flächen gleich sind, denken wir uns die eine
Fläche weg oder bedecken sie mit einem schwarzen Pa-
piere, um uns zu überzeugen, daß sie vorerst weiter keinen
Einfluß hat. Wir kehren bei den folgenden Versuchen den
brechenden Winkel unterwärts, und wenn wir auf diese
Weise die Erscheinungen genau bemerkt haben, so können
wir nachher denselben hinaufwärts und auf beide Seiten
kehren und die Reihe von Versuchen wiederholen.
39. Mit dem auf die angezeigte Weise gerichteten Prisma
beschaut der Beobachter nochmals zuerst alle Gegen-
3o8 CHROMATIK
stände, die sich in seinem Gesichtskreise befinden. Er
wird überall bunte Farben erblicken, welche gleichsam
den Regenbogen auf mannigfaltige Weise wiederholen.
40. Er wird besonders diese Farben an horizontalen Rän-
dern und kleinen Gegenständen am lebhaftesten wahr-
nehmen, indem von ihnen gleichsam Strahlen ausfahren
und sich aufwärts und niederwärts erstrecken. Horizon-
tale Linien werden zugleich gefärbt und gebogen sein:
an vertikalen läßt sich keine Farbe bemerken, und nur
bei genauer Beobachtung wird man finden, daß zwei ver-
tikale Parallellinien unterwärts sich ein wenig gegenein-
ander zuneigen.
41. Man betrachte den reinen blauen Himmel durch das
Prisma, man wird denselben blau sehen und nicht die
mindeste Farbenspielung an demselben wahrnehmen.
Ebenso betrachte man reine einfarbige oder schwarze und
weiße Flächen, und man wird sie, wenn das Prisma rein
ist, kaum ein wenig dunkler als mit bloßen Augen sehen,
übrigensabergleichfalls keine Farbenspielungbemerken.
42. Sobald an dem reinen blauen Himmel sich nur das
mindeste Wölkchen zeigt, so wird man auch sogleich
Farben erblicken. Ein Stern am Abendhimmel wird sich
sogleich als ein buntes Flämmchen, und jeder bemerkliche
Flecken auf irgendeiner farbigen Fläche sogleich bunte
Farben durch das Prisma zeigen. Eben deswegen ist der
vorstehende Versuch mit großer Vorsicht anzustellen, weil
eine schwarze und weiße, wie auch jede gefärbte Fläche
selten so rein ist, daß nicht z. B. in dem weißen Papiere
ein Knötchen, oder eine Faser, an einer einförmigen Wand
irgendeine Erhobenheit sich befinden sollte, wodurch eine
geringe Veränderung von Licht und Schatten hervor-
gebracht wird, bei der sogleich Farben sichtbar werden.
43. Um sich davon zu überzeugen, nehme man die Karte
Nr. I vor das Prisma, und man wird sehen, wie die Farben
sich an die wurmförmig gezogenen Linien anschmiegen.
Man wird ein übereinstimmendes, aber ein verworrenes
und zum Teil undeutliches Farbenspiel bemerken.
44. Um sogleich einen Schritt weiterzugehen und sich
zu überzeugen, daß eine regelmäßige Abwechselung von
BEITRÄGE ZUR OPTIK I 309
Licht und Schatten auch regelmäßige Farben durchs Prisma
hervorbringe, so betrachte man Nr. 2, worauf schwarze
und weiße Vierecke regelmäßig abwechseln. Man wird mit
Vergnügen ein Viereck wie das andere gefärbt sehen, und
es wird noch mehr Aufmerksamkeit erregen, wenn man
die Karte dergestalt vor das Prisma hält, daß die Seiten
der Vierecke mit der Achse des Prisma parallel laufen.
Man wird durch die bloße veränderte Richtung ein ver-
ändertes Farbenspiel auf der Karte entstehen sehen.
Man halte ferner die Karten Nr. 20 und 2 1 dergestalt vor
das Prisma, daß die Linien parallel mit der Achse laufen;
man nehme Nr. 22 horizontal, perpendikular, diagonal
vor das Glas, und man wird immer veränderte Farben
erblicken, wenngleich die Karten nur schwarze und weiße
Flächen zeigen, ja sogar wenn nur die Richtung derselben
gegen das Prisma verändert wird.
45. Um diese wunderbare Erscheinungen näher zu ana-
lysieren, nehmen wir die Karte Nr. 3 vor das Glas, und
zwar so, daß der weiße Streifen derselben parallel mit
der Achse gerichtet sei; wir bemerken alsdann, wenn das
Blatt ohngefähr eine Elle vom Prisma entfernt steht, einen
reinen, wenig gebogenen Regenbogenstreifen, und zwar
die Farben völhg in der Ordnung, wie wir sie am Himmel
gewahr werden, oben Rot, dann herunterwärts Gelb, Grün,
Blau, Violett. Wir finden in gedachter Entfernung den
weißen Streifen ganz aufgehoben, gebogen, farbig und
verbreitert. Die Karte Nr. 5 zeigt die Farbenordnung und
Gestalt dieser Erscheinung.
46. An die Stelle jener Karte nehmen wir die folgende
Nr. 4, und es wird uns in derselben Lage der schwarze
Streif eine ähnliche farbige Erscheinung zeigen; nur wer-
den die Farben an derselben gewissermaßen umgekehrt
sein. Wir sehen zu unterst Gelb, dann folgt hinaufwärts
Rot, sodann Violett, sodann Blau. Der schwarze Streifen
ist ebensogut wie der weiße gebogen, verbreitet und von
strahlenden Farben völlig aufgehoben. Die Karte Nr. 6
zeigt ohngefähr, wie er sich dem Auge darstellt.
47. Wir haben bei den vorigen Experimenten gesehen,
daß sich die Ordnungen der Farben gewissennaßen um-
3IO CHROMATIK
kehren: wir müssen diesem Gesetze weiter nachspüren.
Wir nehmen deswegen die Karte Nr. 7 vor das Prisma,
und zwar dergestalt, daß der schwarze Teil oben, der
weiße Teil unten befindhch ist: und wir werden sogleich
an dem Rande zwischen beiden einen roten und gelben
Streifen erblicken, ohne daß sich an diesem Rande eine
Spur von Blau, Grün oder Violett finden ließe. Die Karte
Nr. 8 zeigt uns diesen farbigen Rand gemalt.
48. Höchst merkwürdig ist es nun, wenn wir die Karte
Nr. 7 umkehren, dergestalt, daß das Schwarze unten und
das Weiße sich oben befindet: in diesem Augenblicke
zeigt uns das Prisma an dem Rande, der uns vorhin gelb
und rot erschien, einen blau- und violetten Streifen, wie
die Karte Nr. 9 denselben zeigt.
49. Besonders auffallend ist es, wenn wir die Karte Nr. 7
dergestalt vor das Prisma bringen, daß der Rand zwischen
Schwarz und Weiß vertikal vor uns steht. Wir werden
denselben alsdann ungefärbt erblicken; wir dürfen aber
nur mit der geringsten Bewegung ihn hin und wieder
neigen, so werden wir bald Rot bald Blau in dem Augen-
blicke sehen, wenn das Schwarze oder das Weiße bald
oben bald unten sich befindet. Diese Erfahrungen führen
uns natürlich zu den folgenden Versuchen.
50. Auf der Karte Nr. 10 sind zwei schwarze und zwei
weiße Vierecke kreuzweise angebracht; so daß sich Schwarz
und Weiß wechselsweise übereinander befindet. Die Wir-
kung des Prisma bleibt auch hier, wie bei den vorigen
Beobachtungen, sich gleich, und wir sehen nunmehr die
verschiedenfarbigen Streifen nebeneinander auf ««^/'Li-
nie, wie sie Nr. 1 1 zeigt, und der Begrifi' von dem Gegen-
satze wird uns immer einleuchtender.
5 1 . Um diesen völlig zur Klarheit zu bringen, nehmen wir
die Karte Nr. 3 wieder vor das Prisma und halten sie der-
gestalt, daß der darauf befindliche weiße Streifen vertikal
vor uns steht. Wir werden sogleich die rote und gelbe
Farbe oben, die blaue und violette unten erblicken, und
der Zwischenraum des Streifens wird weiß erscheinen, so
wie es die Karte Nr. 12 angibt.
52. Betrachten wir auf eben die Weise die Karte Nr. 4,
BEITRÄGE ZUR OPTIK I 311
so sehen wir die Erscheinung abermals umgekehrt, indem
an dem schwarzen Streifen das Blaue und Violette sich
oben, das Rot und Gelbe sich unten zeigt, und gleichfalls
das Schwarze in der Mitte unverändert erscheint. Nr. 13
zeigt uns auch diese Farben in ihrer Ordnung und Ent-
fernung,
III
Übersicht und weitere Ausführung
53. Das Prisma zeigt den Augen desjenigen, der durch
dasselbe sieht, alle farbige oder unfarbige Flächen in dem-
selben Zustande, wie er sie mit dem bloßen Auge sieht,
ohne weitere Veränderung, als daß sie wegen Stärke und
Düsternheit des Glases ein wenig dunkel erscheinen, wel-
ches aber auch schon der Fall bei gläsernen Tafeln ist.
54. Das Prisma zeigt nur Farben da, wo Licht und Schat-
ten horizontal wechseln; deswegen zeigt es gewöhnlich
an allen horizontalen Rändern Farben, weil kaum ein
Rand zu denken ist, wo nicht auch Abweichung der Farbe
oder des Lichts und des Schattens von einem Gegenstande
zum andern existiert.
(Ich merke hier zu mehrerer Deutlichkeit an, was erst in
der Folge weiter ausgeführt werden kann, daß an den
Rändern, wo farbige Gegenstände aneinander stoßen, das
Prisma gleichfalls die Farben nach dem bisherigen Ge-
setze zeigt, nämlich nur insofern, als eine Farbe, die über
der andern steht, dunkler oder heller ist.)
55. Das Prisma zeigt die Farben nicht aufeinander folgend,
sondern einander entgegengesetzt. Da auf diesem Grund-
satze alles beruht, so ist es notwendig, die Versuche, die
wir schon gesehen haben, in dieser Rücksicht nochmals
zu wiederholen.
56. Wenn wir den Versuch, welcher den horizontalen
weißen Streifen ganz gefärbt und die fünf Farben in einer
Folge zeigt, einen Augenblick bewundern, so hilft uns
doch bald die alte Theorie, und wir können uns diesen
horizontalen Papierstreifen als eine Öffnung eines Fenster-
ladens, als die Wirkung eines hereinfallenden, in die fünf
312 CHROMATIK
oder sieben Farben gebrochenen Lichtstreifens vorstellen.
Wenn wir aber den schwarzen Streifen auf weiß Papier
vor uns nehmen, so verwundern wir uns um desto mehr,
da wir auch diesen schwarzen Streifen völlig aufgehoben
und die Finsternis sowohl als das Licht in Farben ver-
wandelt sehen. Ich habe fast einen jeden, der diese letzte
Erfahrung zum ersten Male machte, über diese beiden
Versuche erstaunt gesehen; ich habe die vergeblichen
Bemühungen gesehen, das Phänomen aus der bisherigen
Theorie zu erklären.
57. Wir dürfen aber nur eben diese schwarzen und weißen
Streifen vertikal halten und die Versuche des §51 und 5 2
wiederholen, so wirdsich uns gleich das Rätsel aufschließen.
Wir sehen nämlich alsdann die obern und untern Ränder
völlig voneinander getrennt, wir sehen den schwarzen und
weißen Stab in der Mitte und bemerken, daß bei jenen
ersten Versuchen der horizontale schwarze und weiße Stab
nur deswegen ganz gefärbt war, weil er zu schmal ist und
die farbigen Ausstrahlungen beider Ränder einander in
der Mitte des Stabes erreichen können.
58. Da diese Strahlungen, wie hier nur im Vorbeigehn
bemerkt werden kann, in der Nähe des Prisma geringer
sind als in der Entfernung, so bringe man nur den hori-
zontalen weißen Streif nahe ans Prisma, und man wird die
getrennten farbigen Ränder so gut als in dem vertikalen
Zustande und das reine Weiß und Schwarz in der Mitte
des Streifes erblicken; man entferne ihn darauf, und man
wird bald in dem Weißen das Gelbe, in dem Schwarzen
das Violette herunterstrahlen und sowohl Weiß als Schwarz
völlig aufgehoben sehen. Man entferne beide Karten noch
weiter, und man wird in der Mitte des weißen Streifes ein
schönes Papageigrün erblicken, weil Gelb und Blau sich
strahlend vermischen. Ebenso werden wir in der Mitte des
schwarzen Streifens in gedachter Entfernung ein schönes
Pfirsichblüt sehen, weil die Strahlungen des Violetten und
Roten sich miteinander vereinigen. Ich füge, zu noch
größerer Deutlichkeit, ein Schema hier bei, wie an ge-
dachten Stellen die Farben stehen müssen.
59. Gesetz der farbigen Ränder, wie solche durchs Prisma
BEITRÄGE ZUR OPTIK I 313
erscheinen, wenn, wie bei allen bisherigen Versuchen
vorausgesetzt wird, der brechende Winkel unterwärts ge-
kehrt ist.
Schema I
Schema 2
Weiß auf Schwarz
Schwarz auf Weiß
Rot
Blau
Gelb
Violett
ttt
ttt
Blau
Rot
Violett
Gelb.
Ist der Körper, an dem die Ränder erscheinen, breit ge-
nug, so kann der mit f t t bezeichnete Raum eine pro-
portionierliche Breite haben; ist der Körper schmal, oder
es vermehrt sich die Strahlung durch Entfernung, so ent-
steht an dem Orte, der mit ttt bezeichnet ist, in dem
ersten Falle Grün, in dem andern Pfirsichblüt, und das
Schema sieht alsdenn so aus:
Schema 3
Schema 4
Weiß auf Schwarz
Schwarz auf Weiß
Rot
Blau
Gelb
Violett
Grün
Pfirschblüt
Blau
Rot
Violett
Gelb.
Nur ist in beiden Fällen zu bemerken, daß die Mischungen
Grün und Pfirsichblüt bei starken Strahlungen dergestalt
prädominieren, daß sie die Farben, woraus sie zusammen-
gesetzt sind, gänzlich aufheben; doch wird dieses erst in
dem eigenen Kapitel von der Strahlung genauer aus-
geführt werden.
60. Da die bisher allgemein verbreiteten Prismen alle
gleichseitig sind und sehr starke Strahlungen hervorbrin-
gen, so habe ich mich in meinem Vortrage darnach ge-
richtet, damit die Versuche sogleich desto allgemeiner
314 CHROMATIK
angestellt werden können; allein die ganze Demonstration
zieht sich ins Kürzere zusammen und erhält sogleich den
höchsten Grad von Evidenz, wenn man sehr spitze Pris-
men von IG bis 15 Graden gebraucht. Es zeigen sich als
denn die Farben viel reiner an den Rändern selbst einer
schmalen horizontalen Linie.
61. So kann man z. B. die beiden Karten Nr. 20 und 21
durch ein spitzwinkhges Prisma ansehen, und man wird
den feinen blauvioletten und gelbroten Streif an allen
entgegengesetzten Rändern erblicken. Nimmt man da-
gegen ein gleichseitiges Prisma, so geben beide Karten,
die sich nur durch die verschiedenen Breiten der weißen
und schwarzen Streifen unterschieden, zwei ganz ver-
schiedene Farbenspiele, welche sich aus den Schemen 3
und 4 und der ihnen beigefügten Bemerkung leicht er-
klären lassen. Die Karte Nr. 20 erklärt sich nach dem
Schema Nr. 3 Weiß auf Schwarz, und es zeigt solche in
einer Entfernung von ohngefähr 2 Fuß Hochrot, Papagei-
grün, Violett; und es läßt sich ein Punkt finden, wo man
ebensowenig Blau als Gelb bemerkt. Dagegen ist die Karte
Nr. 2 1 als Schwarz awf Weiß anzusehen; sie zeigt in ge-
dachter Entfernung Blau, Pfirsichblüt und Gelb, und es läßt
sich gleichfalls eine Entfernung finden, wo man kein Hoch-
rot und kein Violett erblickt.
62. Die Karte 19 zeigt uns, wenn wir sie nah genug an
das Prisma halten, an dem breiten Streifen noch Blau,
Violett, Hochrot und Gelb, wenn an dem schmälern
Streifen das Hochrot schon durch das Violette überwältigt
und zu einem hellen Pfirsichblüt verändert ist. Diese Er-
fahrung zeigt sich noch deutlicher, wenn man den breiten
Streif noch einmal so breit macht, welches mit ein paar
Pinselstrichen geschehen kann, als warum ich die Lieb-
haber ersuche. Ein ähnlicher sehr auffallender Versuch
findet bei den Fensterrahmen statt, vorausgesetzt daß man
den freien Himmel hinter ihnen sieht: der starke Quer-
stab des Kreuzes wird von obenherein blau, violett, hoch-
rot und gelb erscheinen, wenn die kleinen Stäbe nur blau,
violett und gelb sind.
62,. Diese Reihe von Experimenten, deren eins sich an das
BEITRÄGE ZUR OPTIK I 315
andere anschließt, entwickelt die Phänomene der Farben,
wie sie uns durch das Prisma erscheinen, wenn die Rän-
der, an denen sie gesehen werden, entschieden schwarz
auf weiß sind. Grau auf Schwarz, Weiß und Grau läßt uns
zarte und sonderbare Phänomene sehen, ebenso die übri-
gen Farben, gegen Schwarz und Weiß, gegeneinander
selbst gehalten und durchs Prima betrachtet. In dem näch-
sten Stücke dieser Beiträge werden auch diese Wirkungen
umständlich ausgeführt werden, und es sollte mir ange-
nehm sein, wenn die Sagazität des größten Teils meiner
Leser mir voreilte, ja wenn die wichtigsten Punkte, die
ich noch später vorzutragen habe, von einigen entdeckt
würden, eh sie durch mich bekannt werden: denn es liegt
in dem Wenigen, was schon gesagt ist, in diesen gerin-
gen, einem Spielwerk ähnlich sehenden Tafeln der Grund
mancher schönen Folge und der Erklärung manches wich-
tigen Phänomens. Gegenwärtig kann ich nur noch einen
Schritt weiter tun.
64. Unsere bisherigen Versuche beschäftigten sich nur mit
gradlinichten Rändern, und es war notwendig, um das
Principium, wornach sie gefärbt erscheinen, auf das ein-
fachste und faßlichste darzustellen. Wir können nunmehr,
ohne Furcht uns zu verwirren, uns auch an gebogene
Linien, an zirkelrunde Gegenstände wagen.
65. Man nehme die Karte Nr. 19 nochmals zur Hand und
halte sie in der Diagonale vor das Prisma, dergestalt daß
die Kreuze als Andreaskreuze erscheinen; man wird die
Farben in der Folge des vierten Schemas erblicken, und
alle Linien werden gefärbt erscheinen. Es zeigen sich also
hier abermals alle Ränder farbig, sobald sie nur im min-
desten vom Perpendikel abweichen. Nimmt man die Karte
Nr. 2 3 nahe vor das Prisma, so findet man die Ränder des
schwarzen und weißen Zirkels von oben herunter und von
unten hinauf halbmondförmig nach denen Schemen i und
2 gefärbt, und das Schwarze und Weiße zeigt sich noch in
der Mitte, wie die Karte Nr. 17 es angibt. Der schwarz-
und weiße Kreis sind beide ringsum gefärbt, aus eben der
Ursache, aus welcher ein Andreaskreuz oder ein weiß-
oder schwarzes Viereck, dessen Diagonale perpendikular
31 6 CHROMATIK
vors Prima gehalten würde, ganz gefärbt erscheinen muß,
weil sie nämhch aus Linien bestehen, die alle vom Per-
pendikel abweichen. Man wird dieses Gesetz hier um so
deutlicher erblicken, als die farbigen Ränder der Zirkel
zu beiden Seiten schmal sind, hingegen der obere und
untere sehr verbreitert erscheinen: denn natürlicherweise
können die Seitenränder als Perpendikularlinien ange-
sehen werden, die sich gradweise dem Horizont zuneigen
und insofern immer mit vermehrter Strahlung erscheinen.
Man versäume nicht, auch diese Karte vor allen Dingen
mit dem spitzwinklichten Prisma zu betrachten.
66. Man entferne sich sodann von der Karte Nr. 23 ohn-
gefähr um 2 Fuß und betrachte sie durch das gleich-
seitige Prisma: man wird, wie ehemals die schmalen Strei-
fen, nunmehro auch diese runde schwarz- und weißen
Bilder völlig gefärbt sehen, und zwar wie solches die Karte
Nr. 1 8 zeigt, nach dem Schema Nr. 3 und 4. Es fällt nun-
mehr deutlich in die Augen, daß der schwarze so gut als
der weiße Gegenstand durch die farbigen Ausstrahlungen
der Ränder uns völlig gefärbt erscheint und daß wir die
Ursache dieses Phänomens nirgends anders zu suchen
haben.
67. Es muß uns bei der weißen, nach dem Schema Nr. 3
durchs Prisma veränderten und zugleich sehr in die Länge
gezogenen runden Figur das Spectrum Solis des Newtons
einfallen, und wir glauben einen Augenblick, die Wirkung
eines durch ein Loch im Fensterladen gespaltenen Licht- '
Strahls zu erblicken; wenn wir aber gleich darneben einen
Strahl der Finsternis annehmen und denselben so gut als
das Licht in fünf oder sieben Farben spalten müssen, so
sehen wir leicht, daß wir auf dem Wege sind, in große
Verwirrungen zu geraten.
68. Ich habe noch einen weiten Weg zu machen, eh ich
an das Experiment gelange, wo ein durch einen Fenster-
laden in eine dunkle Kammer geworfener Lichtstrahl ein
Phänomen zeigt, dem ähnlich, das wir auf unserer Karte
erblicken. So viel aber leidet die Reihe der Demonstra-
tion hier anzuführen.
69. Man bringe eine zirkelrunde weiße Fläche, von wel-
BEITRÄGE ZUR OPTIK I 317
eher Größe man will, auf eine schwarze Tafel: man wird
in einer ihrer Größe proportionierten Entfernung erst die
Ränder farbig und dann den Kreis ganz gefärbt sehen.
Wären Tafel und Kxeis sehr groß, so sähe man dieselben
erst in einer großen Ferne ganz gefärbt, teils weil sich
die Strahlung durch Entfernung vermehrt, teils weil der
Gegenstand im Auge kleiner erscheint. Genauere Bestim-
mung von allen diesen und, ich kann hoffen, sogar bis auf
einen gewissen Grad Maß und Berechnung, wird das Ka-
pitel liefern, das eigens von der Strahlung handeln soll.
70. Man sehe nun also an dem reinen Himmel nach Ster-
nen, nach dem Monde, ja nach der Sonne, wenn man
vorher ihre mächtigen Strahlen durch eine angerauchte
Scheibe gemäßigt hat, man sehe jedes Loch in einem
Fensterladen, in einem Schirm, der gegen das Licht ge-
stellt ist, durch das Prisma an: man wird alle diese Ge-
genstände nach dem Schema Nr. 3 gefärbt erblicken, und
wir werden aus dem Vorigen die Ursache leicht angeben
können, warum leuchtende Körper, oder helle Öffnungen,
die entweder durch Entfernung sehr verkleinert werden
oder an sich klein sind, ganz und gar gefärbt erscheinen
und die Strahlungen an ihren Rändern sich ineinander
verlieren müssen, da weiße Flächen, die nur schwache Re-
präsentanten sind, schon jene Wirkung hervorbringen.
71. Da ich nunmehr alles gesagt habe, was für den An-
fang zu sagen war, so würde ich mich nur selbst wieder-
holen müssen, wenn ich das Vorgetragene weiter auslegen
wollte. Ich überlasse daher dem Nachdenken meiner Leser
das hinzuzutun, was der Methode meines Vortrags wider
meinen Willen an Klarheit abgehen mag: denn ich habe
bemerken können, wie schwer es schon mündlich und mit
allen Gerätschaften versehen sei, den Vortrag dieser in
mehr als einem Sinne befremdenden Versuche durchzu-
führen. So viel bin ich überzeugt, daß es jedem denkenden
Menschen Freude machen wird, sich mit diesen Anfängen
bekannt zu machen, besonders wenn er die Folgerungen,
die sich daraus ziehen lassen, entweder ahndet oder ent-
deckt.
3i8 CHROMATIK
IV
Rekapitulation
72. Ich wiederhole nunmehr kürzHch teils die Erfahrungen
selbst, teils diejenigen Sätze, welche unmittelbar daraus
folgen. Die Ordnung, wie sie hier hintereinander stehen,
ist mehr oder weniger willkürhch, und es wird mir ange-
nehm sein, wenn meine Leser die Paragraphen dieses
Kapitels genau prüffen, sie mit dem Vorhergehenden ver-
gleichen und sie alsdann nach eigner Methode aneinander
reihen. Erst künftig, wenn wir diese Lehre auf mehr als
eine Weise bearbeitet haben, können wir hoffen, dieselbe
rein und natürlich zu entwickeln.
1. Schwarze, weiße und einfarbige reine Flächen zeigen
durchs Prisma keine Farben. § 41.
2. An allen Rändern zeigen sich Farben. §37,40,42,43.
3. Die Ränder zeigen Farben, weil Licht und Schatten an
denselben aneinander grenzet. § 44, 54.
4. Wenn farbige Flächen aneinander stoßen, unterwerfen
auch sie sich diesem Gesetze und zeigen Farben, inso-
fern eine heller oder dunkler ist als die andere. § 54.
5. Die Farben erscheinen uns strahlend an den Rändern.
§37, 45> 46.
6. Sie erscheinen strahlend nach dem Schwarzen wie nach
dem Weißen, nach dem Dunkeln wie nach dem Hellen zu.
7. Die Strahlungen geschehen nach dem Perpendikel, der
auf die Achse des Prismas fällt. § 45, 46, 47, 48.
8. Kein Rand, der mit der Achse des Prismas perpen-
dikular steht, erscheint gefärbt, § 49.
9. Alle Ränder, die mit der Achse des Prismas parallel
gehen, erscheinen gefärbt.
IG. Alle schmale Körper, die mit der Achse des Prisma
eine parallele Richtung haben, erscheinen ganz gefärbt
und verbreitert. § 37.
11. Ein runder Körper erscheint eUiptisch, dergestalt daß
sein größter Diameter auf der Achse des Prisma perpen-
dikular steht. § 65, 66, 67.
12. Alle Linien, die mit der Achse des Prisma parallel
gehen, erscheinen gebogen. § 40.
BEITRÄGE ZUR OPTIK I 319
13. Alle Parallellinien, die auf der Achse des Prisma ver-
tikal stehen, scheinen sich gegen den brechenden Winkel
zu ein wenig zusammenzuneigen. § 40.
14. Je schärfer und stärker Licht und Schatten am Rande
miteinander grenzt, desto stärker erscheinen die Farben.
15. Die farbigen Ränder zeigen sich im Gegensatz. Es
stehen zwei Pole unveränderlich einander gegenüber.
§48, 49, 50, 55.
1 6 . Die beiden entgegengesetzten Pole kommen darin mit-
einander überein, daß jeder aus zwei leicht zu unterschei-
denden Farben besteht, der eine aus Roth und Gelb, der
andere aus Blau und Violett. § 51, 52.
17. Die Strahlungen dieser Farben entfernen sich vom
Rande, und zwar strahlen Rot und Violett nach dem
Schwarzen, Gelb und Blau nach dem Weißen zu.
18. Man kann diese Pole unendlich voneinander entfernt
denken. § 51, 52.
1.9. Mankann sie einander unendlichnahe denken. §45,46.
20. Erscheinen uns die beiden Pole an einem weißen Kör-
per, der sich gegen einen schwarzen Grund befindet, und
hat derselbe eine verhältnismäßige Größe, daß die far-
bigen Strahlungen der Ränder sich erreichen können, so
entsteht in der Mitte ein Papageigrün. § 59.
21. Erscheinen sie uns an einem schwarzen Körper, der auf
einem weißen Grunde steht unter gedachter Bedingung,
so steht in der Mitte derselben ein Pfirsichblüt. § 59.
22. Sowohl schwarze als weiße Körper können unter die-
sen Umständen ganz farbig erscheinen. § 45, 46, 66.
23. Sonne, Mond, Sterne, Öffnung des Fensterladens er-
scheinen durchs Prisma nur farbig, weil sie als kleine helle
Körper auf einem dunkeln Grunde anzusehen sind. §67.
24. Sie erscheinen elliptisch, dergestalt daß die Farben-
strahlungen und folglich auch der große Diameter der
Ellipse auf der Achse des Prismas vertikal steht. §66,67.
73. Ich sollte zwar hier vielleicht, noch ehe ich schUeße,
einige allgemeine Betrachtungen anstellen und in die
Ferne hindeuten, wohin ich meine Leser zu führen ge-
denke. Es kann dieses aber wohl erst an dem Ende des
folgenden Stückes geschehen, weil dasjenige, was ich hier
32 o CHROMATIK
allenfalls sagen könnte, doch immer noch als unbelegt
und unerwiesen erscheinen müßte. So viel kann ich aber
denjenigen Beobachtern, welche gern vorwärts dringen
mögen, sagen: daß in den wenigen Erfahrungen, die ich
vorgetragen habe, der Grund zu allem Künftigen schon
gelegt ist, und daß es beinahe nur Entwicklung sein wird,
wenn wir in der Folge das durch das Prisma entdeckte
Gesetz in allen Linsen, Glaskugeln und andern mannig-
faltig geschlififenen Gläsern, in Wassertropfen und Dünsten,
ja endlich mit dem bloßen Auge unter gewissen gege-
benen Bedingungen entdecken werden.
V
Über den zu diesen Versuchen nötigen Apparat
und besonders über die mit diesem Stücke aus-
gegebenen Karten
74. Sobald ich mir vornahm, die Erfahrungen über die
Entstehung der prismatischen Farben dem Publikum vor-
zulegen, empfand ich gleich den Wunsch, sie so schnell
als möghch, wenigstens in meinem Vaterlande bekannt
und ausgebreitet zusehen. Da hierbei alles auf den Augen-
schein ankommt, so war es nötig zu sorgen, daß jeder-
mann mit der größten Leichtigkeit dazu gelangen könne;
es wollte weder eine Beschreibung, noch ausgemalte
Kupfertafeln, die der Schrift angefügt würden, zu diesem
Zwecke hinreichen. Ich beschloß also, die großen Tafeln,
welche ich zu meinen Versuchen verfertigt, im kleinen
nachahmen zu lassen und dadurch sowohl einen jeden so-
gleich durch das Anschauen zu überzeugen, als auch ein
lebhafteres Interesse zu erregen. Diejenigen Liebhaber,
die einen ernsthafteren Anteil daran nehmen, werden nun
leicht die Tafeln i, 2, 3, 4, 7, 10, 14, 19, 20, 21, 22,
23 in behebig großem Format nachmachen lassen und die
Versuche alsdann mit desto mehr Bequemlichkeit und
größerm Sukzeß wiederholen. Ja sie werden durch eigenes
Nachdenken noch mehrere Abwechselungen erfinden kön-
nen, als ich für diesmal anbringen konnte. Denn jede
schwarze Figur auf weißem Grunde und jede weiße auf
BEITRÄGE ZUR OPTIK I 321
schwarzem Grunde bringt neue Erscheinungen hervor, die
man ins Unendhche vervielfältigen kann. Ich empfehle
besonders Andreaskreuze^ Sterne u. dgl., nicht weniger alle
Arten von Mustern, die durch Abwechselung von schwarz-
und weißen Vierecken entstehen, welche letztere oft, wie
die Karte Nr. 22 zeigt, von dreierlei Seiten verschiedene
farbige Phänomene darstellen.
75. Man wird, indem man selbst dergleichen Versuche
ersinnt, immer mehr von der Konsequenz desjenigen über-
zeugt werden, was oben vorgetragen worden ist. Um die
Abwechselung des Oben und Unten der beiden farbichten
Pole recht deutlich einzusehen, verfertige man sich einen
schwarzen Stern auf weiß- und einen weißen Stern auf
schwarzem Grunde, und durchbohre ihn mit einer Nadel
dergestalt, daß man ihn auf derselben wie auf einer Achse
herumdrehen kann. Während des Drehens beobachte man
denselben durchs Prisma, und man wird diesen Versuch
mit Vergnügen und Nachdenken wiederholen.
76. Ich habe meinen Vortrag dergestalt eingerichtet, daß
die Versuche durch jedes gewöhnliche gleichseitige Prisma
angestellt werden können, wenn es nur von weißem Glase
ist; ja selbst mit einem Prisma von grünlichem Glase
lassen sie sich anstellen, wenn man die geringe Differenz,
welche die Farbe verursacht, bei der Beobachtung in Ge-
danken abrechnen will.
77. Zu der völligen Evidenz der vorgetragenen Sätze ge-
hört aber, daß man ein spitzwinkliges Prisma von zehn
bis zwanzig Graden anwende. Es kann ein jeder Glas-
schleifer solche leicht aus einer starken Glastafel verfer-
tigen; und wenn sie auch nur einen starken Zoll hoch und
einige Zoll breit sind, so daß man nur mit einem Auge
durchsieht, indem man das andere zuschließt: so sind sie
vorerst hinreichend. Ich werde aber dafür sorgen, daß
Prismen von reinem Glase und nach genau bestimmtem
Maße an Liebhaber mit den folgenden Stücken ausge-
geben werden können. Wie denn überhaupt der nötige
Apparat zu den anzustellenden Versuchen nach und nach
wachsen wird, so genau ich auch zu Werke gehen werde,
die Versuche zu simplifizieren.
GOETHE XVII ai.
32 2 CHROMATIK
78. Da sich aber doch der Fall oft ereignen kann, daß
diese kleine Schrift mit denen dazu gehörigen Tafeln an
Orte gelangt, wo keine Prismen vorhanden sind, so habe
ich farbige Tafeln hinzugefügt, um dem Beobachter we-
nigstens auf einige Weise zu Hülfe zu kommen und ihm,
bis er sich nach einem Prisma umgesehen, einstweilen
verständlich zu sein. Auch demjenigen, der das nötige
Instrument besitzt, werden diese gemalte Karten nicht
unnütz sein. Er kann seine Beobachtungen damit verglei-
chen und überzeugt sich eher von dem Gesetz einer Er-
scheinung, welche er vor sich auf dem Papier schon fixiert
sieht.
79. Ich muß aber freilich hier zum voraus bemerken, daß
man die Farben dieser Tafeln nicht mit den absoluten
Farben der prismatischen Erscheinungen in Absicht ihrer
Schönheit vergleichen möge: denn es sind dieselben nur
wie jeder andere Holzschnitt bei einem wissenschaftlichen
Buche anzusehen, der weder künsthch noch gefällig, son-
dern bloß mechanisch und nützlich ist.
80. Nur die unmittelbare Nähe einer Kartenfabrik macht
es möglich, die Tafeln so wie sie sind um einen Preis zu
liefern, der niemand abschrecken wird, und es war hier
nicht die Frage, ein Werk für Bibliotheken auszuarbeiten,
sondern einer kleinen Schrift die möglichste Ausbreitung
zu verschaffen.
81. Man wird daher diesen Tafeln manches nachsehen,
wenn man sie zur Deutlichkeit nützlich findet. Ich werde
bemüht sein, in der Folge diese Tafeln vollkommner zu
machen, und sie auch einzeln ausgeben, damit jeder Lieb-
haber eine solche durch den Gebrauch leicht zerstörte
Sammlung sich verbessert wieder anschafifen kann. Ich
füge noch einige Beobachtungen hinzu, damit man bei
diesen Karten in den anzustellenden Erfahrungen nicht
gestört werde.
82. Es ist die Absicht, daß der Beobachter das Prisma,
dessen Winkel unterwärts gekehrt ist, in der rechten Hand
halte, bei den anzustellenden Erfahrungen die schwarz-
und weißen Karten zuerst etwa einen halben Fuß hinter
dem Prisma entfernt halte, indem er solche mit der linken
BEITRÄGE ZUR OPTIK I 323
Hand an der Seite, wo die Nummern befindlich sind, er-
greift und die Nummern mit dem Daumen zudeckt.
83. Da einige Karten nicht allein vertikal, sondern auch
horizontal gehalten werden müssen, so versteht sichs von
selbst, daß man sich gewöhnt, sie auf die eine wie auf die
andre Weise zu wenden. Man entferne alsdann das Prisma
nach und nach bis zur Weite von zwei Fuß oder so weit,
bis die Zeichnung der Karten undeuthch wird; man bringe
sie wieder herbei und gewöhne sich von selbst nach und
nach an die verschiedenen Phänomene.
84. Wer diese schwarze und weiße Tafeln in größerm For-
mat nachahmt, wird diese Erscheinung in größerer Entfer-
nung und mit mehr Bequemlichkeit beobachten können.
85. Zum Verständnis des § 65, 66, 67 lege man die drei
Karten Nr. 23, 17 und 18 dergestalt vor sich, daß die
schwarze Hälfte zur linken Seite des Beobachters bleibt;
die Nummern an diesen Karten mögen aufgeklebt sein
wie sie wollen.
86. Die Tafeln Nr. 16, 24, 25, 26, 27 werden erst in den
folgenden Stücken nötig werden.
87. So wie auch der Versuch^jiiit der Tafel Nr. 14 in der
Reihe des gegenwärtigen Vortrags nicht Platz nehmen
konnte; indessen kann man denselben einstweilen zur Be-
lustigung anstellen. Wenn man die Tafel Nr. 14 durch das
Prisma betrachtet, so wird die abgebildete Fackel einem
angezündeten Lichte ähnhch erscheinen, wie die i5te Ta-
fel solches darstellt. Sehn wir bei Nachtzeit ein angezün-
detes Licht auch nur mit bloßen Augen, so werden wir
die Spitze desselben rot und gelb, den untern Teil des-
selben blau sehen. Diese Farben werden sich in einem
ungeheuren Grade verstärken, wenn wir das brennende
Licht durch ein Prisma betrachten. Inwiefern sich diese
Erfahrung an die übrigen von uns bisher beobachteten
anschließt, wird sich erst künftig zeigen.
88. Ich wiederhole nochmals, daß die Beschreibung der
Versuche besonders des zweiten Kapitels nur alsdann
mit den Erfahrungen übereinstimmen könne, wenn der
Beobachter den sogenannten brechenden Winkel unter-
wärts gekehrt hat und so die Gegenstände betrachtet. Wie
324 CHROMATIK
sich die Farben alsdann zeigen, geben die gemalten Kar-
ten an; die Ausdrücke eben, unten, horizontal^ perpcndiku-
lar beziehen sich auf diese Richtung. Sie würden sich,
wenn man den gedachten Winkel nunmehr auch nach
oben, nach der rechten oder linken Hand wendete, fol-
gendermaßen verändern:
Der Winkel des Prisma gekehrt
nach unten nach oben n.derrechten n. der linken
unten oben rechts links
oben unten links rechts
horizontal horizontal perpendikular perpendikular
perpendikular perpendikular horizontal horizontal.
Man sieht leicht, daß, wenn man sich diese Richtung des
Prisma in einem Kreise denkt, sich das Oben und Unten,
Rechts und Links auf ein Immi und Außen beziehe, wel-
ches sich deutlicher ergeben wird, wenn wir dereinst Ver-
suche durch Linsen anstellen werden.
VI
Beschreibung^ der Tafeln
Da es möglich wäre, daß ungeachtet aller angewendeten
Mühe und beobachteten Genauigkeit eine falsche Nummer
auf eine Karte getragen würde, so füge ich hier nochmals
eine Beschreibung der Tafeln hinzu und ersuche jeden
Beobachter, sie hiernach zu revidieren.
Nr. I. Schwarze wurmförmige Züge auf weißem Grunde.
Nr. 2. Schwarze und weiße kleine Vierecke.
Wird horizontal und diagonal vor das Prisma gehalten.
Nr. 3. Ein weißer Stab auf schwarzem Grunde.
Nr. 4. Ein schwarzer Stab auf weißem Grunde.
Diese beiden Nummern braucht der Beobachter sowohl
horizontal, als vertikal.
Nr. 5. Ein Regenbogenstreif auf schwarzem Grunde.
Nr. 6. Ein umgewendeter Regenbogenstreif auf weißem
Grunde.
Diese beiden Tafeln legt man horizontal vor sich, und zwar
so, daß der Rücken des Bogens aufwärts gekehrt ist.
BEITRÄGE ZUR OPTIK I 325
Nr. 7. Eine halb schwarz, halb weiße Tafel.
Der Beobachter bedient sich derselben, daß bald das
Schwarze, bald das Weiße unten steht.
Nr. 8. Eine halb schwarz, halb weiße Tafel mit einem
rot- und gelben Streif.
Wir legen sie dergestalt vor uns, daß sich das Schwarze
oben befindet.
Nr. 9. Eine halb schwarz, halb weiße Tafel mit einem
blauen und violetten Streir.
Wir legen sie dergestalt vor uns, daß das Schwarze sich
unten befindet.
Nr. 10. Zwei schwarze und zwei weiße längliche Vierecke
übers Kreuz gestellt.
Wir können sie horizontal, perpendikular, diagonal vors
Prisma nehmen,
Nr. 1 1. Zwei schwarze und weiße längliche Vierecke übers
Kreuz gestellt mit einem roten, gelben, blauen und violet-
ten Rande.
Wir legen sie dergestalt vor uns, daß der rote und gelbe
Rand unter dem Schwarzen, der blaue und gelbe über dem
Schwarzen sich befindet.
Nr. 12. Ein weißer Stab auf schwarzem Grunde mit far-
bigen Enden,
Wir halten ihn perpendikular vor uns, so daß der rote
und gelbe Rand oben, der blaue und violette unten sich
befindet.
Nr. 13. Ein schwarzer Stab auf weißem Grunde mit bunten
Enden.
\Vir betrachten ilm dergestalt, daß das blaue und violette
l'",ndesich oben, das rote und gelbe sich unten befindet.
Nr. 14. Die Gestalt einer Fackel, Weiß auf Schwarz.
Nr. 15. Ebendieselbe Gestalt mit Farben, wie sie durchs
Prisma erscheinen.
Nr. 16. Eine Tafel halb schwarz, halb weiß, auf dem
schwarzen Teile eine weiße Rundung mit gelber Einfas-
sung, auf dem weißen Teile eine schwarze Rundung mit
blauer Einfassung.
Diese Tafel erklärt sich erst in dem folgenden Stücke.
-\t. 17. Eine halb weiß, halb schwarze Tafel, auf jedem
326 CHROMATIK
Teile eine elliptische Figur mit abwechselnden Farben,
in deren Mitte man noch Schwarz und Weiß erkennt.
Nr, i8. Eine gleichfalls geteilte schwarz und weiße Tafel
mit völlig farbigen elliptischen Figuren.
Diese beiden letzten Tafeln legt der Beobachter horizontal
vor sich, dergestalt daß der schwarze Teil sich zu seiner
linken Hand befindet.
Nr. 19. Zwei Horizontallinien, von einer Vertikallinie
durchkreuzt.
Man kann sie horizontal, vertikal und diagonal vor das
Prisma halten.
Nr. 20. Schmale weiße Streifen auf schwarzem Grunde.
Nr. 2 1. Schmale schwarze Streifen auf weißem Grunde.
Diese beiden Tafeln werden vors Prisma gebracht, der-
gestalt daß die Streifen mit der Achse des Prisma par-
allel laufen.
Nr. 22. Gebrochene schwarze und weiße Linien,
Man kann diese Karte sowohl horizontal als vertikal und
diagonal vor das Prisma bringen.
Nr. 23. Eine schwarz und weiß geteilte Tafel; auf dem
schwarzen Teile ein weißes Rund, auf dem weißen ein
schwarzes Rund.
Ich wünsche, daß der Beobachter, wenn die ganze Samm-
lung vor ihm liegt, diese Nummer an die Stelle von Nr. 16
und diese hierher lege: denn das ist eigenthch die Ord-
nung wie sie gehören. Es versteht sich aber, daß die Num-
mern selbst nicht verändert werden, weil die gegenwär-
tige Tafel in meinem Vortrage auch als Nr. 23 auf-
geführt ist.
Nr. 24. Auf einer weißen Tafel in der Mitte ein schwarzer
Streif; auf der einen Seite viele Punkte um ein Zentrum,
auf der andern eine Zirkelfigur mit einem Kreuze und
Punkten.
Nr. 25. Auf einer weißen Tafel zwei Vierecke, eins mit
geraden, das andere mit gebogenen Seiten.
Nr. 26. Linearzeichnungen mit Buchstaben.
Nr. 27. Auf einem schwarzen Grunde zwei weiße Triangel, -
mit den Spitzen gegeneinander gekehrt, mit bunten
Rändern,
BEITRÄGE ZUR OPTIK I 327
Diese vier letztern Tafeln sowie Nr. x6 werden erst in den
folgenden Stücken erklärt.
Die Sorgfalt, womit ich die Tafeln hier abermals durch-
gegangen, ist, wie ich überzeugt bin, nur für den Anfang
nötig. Man wird sich gar bald in diese Tafeln auch ohne
Nummern finden und sie ohne Anweisung gebrauchen
lernen, da bei allen diesen Versuchen ein ganz einfaches
Principium nur auf verschiedene Weise angewendet wird.
BEITRÄGE ZUR OPTIK
ZWEITES STÜCK. 1792
MIT EINER GROSSEN KOLORIERTEN TAFEL
UND EINEM KUPFER 1
VII
Beschreibung- eines großen Prisma
ALS ich die schwarzen und weißen kleinen Tafeln,
mit dem ersten Stücke dieser Beiträge, dem Publice
vorlegte, hatte ich die Absicht, meinen Lesern da-
durch die anzustellenden Beobachtungen bequem zu ma-
chen. Ich hoffte, sie würden sich ein Prisma leicht an-
schaöen und alsdann die Erfahrungen, die ich beschrieb,
ohne weitere Umstände wiederholen können.
Allein es hat sich gezeigt, daß die Prismen beinahe gänz-
lich aus dem Handel verschwunden sind, und daß viele
Liebhaber dieses sonst so gemeine Instrument, wenigstens
für den Augenblick, nicht finden können.
Auch hatte ich angezeigt, daß die gleichseitigen gläsernen
Prismen, wegen der starken Strahlung, welche sie besonders
in einiger Entfernung hervorbringen, dem Beobachter oft
hinderlich seien.
Ich habe gewünscht, daß man die von mir angegebenen
Erfahrungen mit sehr spitzwinkligen Prismen von fünfzehn
bis zwanzig Graden wiederholen möge, als durch welche
die Ränder sehr zart gefärbt und nur mäßig strahlend er-
scheinen, auch der weiße Raum zwischen beiden seine
unverfälschte Reinheit behält.
Man hatte gehofift, sowohl gewöhnliche gläserne Prismen
als gedachte gläserne Keile mit dem gegenwärtigen zweiten
Stücke auszugeben, aber es hat auch nicht glücken wollen,
die gemachten Bestellungen zur rechten Zeit abgehefert
zu sehen.
Ich finde es daher nötig, meinen Lesern eine andere ein-
fache Maschine zu empfehlen, welche ihnen, sowohl bei
Wiederholung der Versuche des ersten Stückes, als b(
Prüfung derer, die ich erst in der Folge vorlegen werde,
* Die kolorierte Tafel scheint schon 1792 nur wenigen Lesern zu-
gegangen zu sein (vgl. Seite 639 f.) und ist heute verschollen; das
Kupfer vgl. hier Seite 330.
BEITRÄGE ZUR OFHK II 331
manche Dienste leisten wird. Es ist diese Maschine ein
aus zwei starkengeschliffenen, reinenGlastafeln zusammen-
gesetztes Prisma, welches bei Versuchen mit reinem Was-
ser angefüllt wird.
Die Größe der Tafeln ist zwar willkürlich, doch wünschte
ich, daß sie wenigstens einen rheinischen Fuß lang und
acht rheinische Zoll hoch sein möchten. Diese länglich
viereckten Tafeln werden durch zwei bleierne Dreiecke
in einem Winkel von 60 Graden verbunden, der untere
Rand mit Fensterblei verwahrt, und alle Fugen wohl ver-
kittet, auch werden die obern Ränder der Gläser mit
Fensterblei eingefaßt, um dadurch das Ganze besser zu-
sammen zu halten. Ein geschickter Glaser wird ein sol-
ches Prisma und jeder Tischler das Gestelle leicht ver-
fertigen. Es ist diese Maschine auf beistehender Tafel
abgebildet, und zu Ende des gegenwärtigen Stücks eine
genaue Beschreibung angefügt, welche diese Abbildung
deutlich erklärt.
Ein solches prismatisches Gefäß hat den Vorzug, daß man
durch solches bequem nach großen und kleinen Tafeln
sehen und die Erscheinung der farbigen Ränder ohne An-
strengung der Augen beobachten kann. Ferner erscheinen
auch, wegen der weniger refrangierenden Kraft des Was-
sers, die Ränder schmal gefärbt, und es ist also ein solches
Prisma obgleich von sechzig Graden zu eben dem End-
zwecke als ein spitzer gläserner Keil zu gebrauchen, ob-
gleich dieser wegen der Reinheit sowohl der farbigen
Ränder als des weißen Zwischenraums den Vorzug ver-
dient.
Man wird, so viel als möglich, reines Wasser zu den Ver-
suchen nehmen und auch dieses nicht zu lange in dem
Gefäße stehen lassen, vielmehr nach geendigter Beobach-
tung das Wasser ausschöpfen und das Gefäß mit einem
reinen Tuche auswischen und abtrocknen, weil sonst das
Glas gerne anlauft, besonders die geschlififenen Tafeln,
welche man wegen ihrer Stärke und Reinheit vorzüglich
zu wählen hat, leicht blind werden.
Ein solches Gefäß ist zu allen prismatischen Versuchen
brauchbar, zu einigen unentbehrlich, und ich wünschte.
332 CHROM ATIK
daß diejenigen meiner Leser, welche Neigung haben dem
Faden meines Vortrags zu folgen, sich je eher je lieber
damit versehen möchten.
VIII
Von den Strahlungen
89. Ich habe mich schon mehrmalen des Wortes Strah-
lungen bedient, und es ist nötig, daß ich mich vorläufig
über dasselbe erkläre, damit es wenigstens einstweilen
gelte, bis wir es vielleicht in der Folge gegen ein schick-
licheres vertauschen können.
Wir haben uns in dem ersten Stücke überzeugt, daß uns
das Prisma keine Farben zeigt als an den Rändern, wo
Licht und Finsternis aneinander grenzen. Wir haben be-
merkt, daß durch sehr spitzwinklige Prismen diese farbigen
Ränder nur schmal gesehen werden, da sie hingegen so-
wohl nach dem Schwarzen als dem Weißen zu sich sehr
verbreitern, wenn der brechende Winkel, die refrangie-
rende Kraft des Mittels oder die Entfernung des Beobach-
ters zunimmt.
90. Dieses Phänomen, wenn mir nämlich ein farbiger
Rand durchs Prisma da erscheint, wo ich ihn mit bloßen
Augen nicht sähe, und dieser farbige Rand sich von dem
Schwarzen nach dem W^eißen und von dem Weißen nach
dem Schwarzen zu erstreckt, nenne ich die Strahlung^
und drücke dadurch gleichsam nur das Phänomen an sich
selbst aus, ohne noch irgend auf die Ursache desselben
deuten zu wollen.
91. Da die farbigen Erscheinungen an den Rändern die
Grenze des Randes selbst ungewiß machen und die Zei-
chen, die man sich durch Nadeln oder Punkte feststellen
will, auch gefärbt und verzogen werden, so ist die Be-
obachtung mit einiger Schwierigkeit verknüpft. Durch
einen gläsernen Keil, von ohngefähr zehn Graden, er-
scheinen beide farbige Ränder sehr zart, unmittelbar am
Schwarzen gegen das Weiße zu. Der blaue Saum ist sehr
schön hochblau und scheint mit einem feinen Pinsel auf
den weißen Rand gezeichnet zu sein. Einen Ausfluß des
BEITRÄGE ZUR OPTIK II 333
Strahls nach dem Schwarzen zu bemerkt man nicht ohne
die größte Aufmerksamkeit, ja man muß gleichsam über-
zeugt sein, daß man ihn sehen müsse, um ihn zu finden.
Dagegen ist an dem andern Rande das Hochrote gleich-
falls sichtbar, und das Gelbe strahlt nur schwach nach dem
Weißen zu. Verdoppelt man die Keile, so sieht man nun
deutlich das Violette nach dem Schwarzen, das Gelbe
nach dem Weißen zu sich erstrecken, und zwar beide in
gleichem Maße. Das Blaue und Rote wird auch breiter,
aber es ist schon schwerer zu sagen, ob sich jenes in das
Weiße, dieses in das Schwarze verbreitet.
92. Vielleicht läßt sich in der Folge das, was uns gegen-
wärtig durch das Auge zu beobachten schwerfällt, auf
einem andern Wege finden und näher bestimmen. So viel
aber können wir inzwischen bemerken, daß das Blaue
wenig in das Weiße, das Rote wenig in das Schwarze,
das Violette viel in das Schwarze, das Gelbe viel in das
Weiße hereinstrahlet. Da nun unter der Bedingung, wie
wir das Prisma beständig halten, die beiden starken Strah-
lungen abwärts, die beiden schwächern hinaufwärts gehen,
so wird sowohl ein schwarzer Gegenstand auf weißem
Grunde, als ein weißer auf schwarzem Grunde, oben wenig
und unten viel gewinnen.
Ich brauche daher das Wort Rand, wenn ich von dem
schmäleren blauen und roten Farbenstreife, dagegen das
Wort Strahlung^ wenn ich von dem breiteren violetten
und gelben spreche, obgleich jene schmalen Streifen auch
mäßig strahlen und sich verbreitern, und die breiteren
Strahlungen von den Rändern unzertrennlich sind
So viel wird vorerst hinreichen, um den Gebrauch dieses
Wortes einigermaßen zu rechtfertigen und meinem Vor-
trage die nötige Deutlichkeit zu geben.
IX
Graue Flächen, durchs Prisma betrachtet
93. Wir haben in dem ersten Stücke nur schwarz und
weiße Tafeln durchs Prisma betrachtet, weil sich an den-
selben die farbigen Ränder und Strahlungen derselben am
334 CHROMATIK
deutlichsten ausnehmen. Gegenwärtig wiederholen wir jene
Versuche mit grauen Flächen und finden abennals die
Wirkungen des bekannten Gesetzes.
94. Haben wir das Schwarze als Repräsentanten der
Finsternis, das Weiße als Repräsentanten des Lichtes an-
gesehen: so können wir sagen, daß das Graue den Schat-
ten repräsentiere, welcher mehr oder weniger von Licht
und Finsternis partizipiert und also manchmal zwischen
beiden in der Mitte steht.
95. Der Schatten ist dunkel, wenn wir ihn mit dem Lichte,
er ist hell, wenn wir ihn mit der Finsternis vergleichen,
und so wird sich auch eine graue Fläche, gegen eine
schwarze als hell, gegen eine weiße als dunkel verhalten.
96. Grau auf Schwarz wird uns also durchs Prisma alle
die Phänomene zeigen, die wir in dem ersten Stücke
dieser Beiträge durch Weiß auf Schwarz hervorgebracht
haben. Die Ränder werden nach eben dem Gesetze ge-
färbt und strahlen in eben der Breite, nur zeigen sich die
Farben schwächer und nicht in der höchsten Reinheit.
97. Ebenso wird Grau auf Weiß die Ränder sehen lassen,
welche hervorgebracht wurden, wenn wir Schwarz auf
Weiß durchs Prisma betrachteten.
98. Verschiedene Schattierungen von Grau, stufenweise
aneinander gesetzt, je nachdem man das Dunklere oben
oder unten hinbringt, [werden] entweder nur Blau und
Violett, oder nur Rot und Gelb an den Rändern zeigen.
99.' Eben diese grauen Schattierungen, wenn man sie
horizontal nebeneinander betrachtet und dieRänder durchs
Prisma besieht, wo sie oben und unten an eine schwarze
oder weiße Fläche stoßen, werden sich nach den uns be-
kannten Gesetzen färben.
100. Die zu diesem Stücke bestimmte Tafel* wird ohne
weitere Anleitung dem Beobachter die Bequemlichkeit
verschaffen, diese Versuche unter allen Umständen an-
zustellen.
* Vgl. hierzu wie zu § 104, ili usw. die Anmerkung auf Seite 328.
BEITRÄGE ZUR OPTIK II 335
X
Farblose Flächen, durchs Prisma betrachtet
loi. Eine farbige große Fläche zeigt keine prismatische
Farben, eben wie schwarze, weiße und graue Flächen, es
müßte denn zufällig oder vorsätzlich auch auf ihr Hell
und Dunkel abwechseln. Es sind also auch nur Beobach-
tungen durchs Prisma an farbigen Flächen anzustellen,
insofern sie durch einen Rand von einer andern verschieden
tingierten Fläche abgesondert werden.
102. Es kommen alle Farben, welcher Art sie auch sein
mögen, darin überein, daß sie dunkler als Weiß und heller
als Schwarz erscheinen. Wenn wir also vorerst kleine
farbige Flächen gegen schwarze und weiße Flächen halten
und betrachten, so werden wir alles, was wir bei grauen
Flächen bemerkt haben, hier abermals bemerken können;
allein wir werden zugleich durch neue und sonderbare
Phänomene in Verwunderung gesetzt, und angereizt fol-
gende genaue Beobachtungen anzustellen.
103. Da die Ränder und Strahlungen, welche uns das
Prisma zeigt, farbig sind, so kann der Fall kommen, daß
die Farbe des Randes und der Strahlung mit der Farbe
einer farbigen Fläche homogen ist; es kann aber auch im
entgegengesetzten Falle die Fläche mit dem Rande und
der Strahlung heterogen sein. In dem ersten identifiiert
sich der Rand mit der Fläche und scheint dieselbe zu
vergrößern, in dem andern verunreiniget er sie, macht sie
undeutlich und scheint sie zu verkleinern. Wir wollen die
Fälle durchgehen, wo dieser Effekt am sonderbarsten
auffällt.
104. Man nehme die beiliegende Tafel horizontal vor
sich und betrachte das rote und blaue Viereck auf schwar-
zem Grunde nebeneinander, auf die gewöhnhche Weise
durchs Prisma: so werden, da beide Farben heller sind als
der Grund, an beiden, sowohl oben als unten, gleiche
farbige Ränder und Strahlungen entstehen; nur werden
sie dem Auge des Beobachters nicht gleich deutlich er-
scheinen.
105. Das Rote ist verhältnismäßig gegen das Schwarze
33^ CHROMATE
viel heller als das Blaue, die Farben der Ränder werden
also an dem Roten stärker als an dem Blauen erscheinen,
welches wenig von dem Schwarzen unterschieden ist.
io6. Der obere rote Rand wird sich mit der Farbe des
Vierecks identifiieren, und so wird das rote Viereck ein
wenig hinaufwärts vergrößert scheinen; die gelbe herab-
wärts wirkende Strahlung aber wird von der roten Fläche
beinahe verschlungen und nur bei der genauesten Auf-
merksamkeit sichtbar. Dagegen ist der rote Rand und die
gelbe Strahlung mit dem blauen Viereck heterogen. Es
wird also an dem Rande eine schmutzig rote und herein -
wärts in das Viereck eine schmutzig grüne Farbe ent-
stehen, und so wird beim ersten Anbhcke das blaue Vier-
eck von dieser Seite zu verlieren scheinen.
107. An dem untern Rande der beiden Vierecke wird ein
blauer Rand und eine violette Strahlung entstehen und
die entgegengesetzte Wirkung hervorbringen: denn der
blaue Rand, der mit der roten Fläche heterogen ist, wird
das Gelbrote, denn ein solches muß zu diesem Versuche
gewählt werden, beschmutzen und eine Art von Grün
hervorbringen, so daß das Rote von dieser Seite ver-
kürzter scheint, und die violette Strahlung des Randes
nach dem Schwarzen zu wird kaum bemerkt werden.
108. Dagegen wird der blaue Rand sich mit der blauen
Fläche identifiieren, ihr nicht allein nichts nehmen, son-
dern vielmehr noch geben, und solche durch die violette
Strahlung dem Anscheine nach noch mehr verlängern.
109. Die Wirkung der homogenen und heterogenen Rän-
der, wie ich sie gegenwärtig genau beschrieben habe, ist
so mächtig und so sonderbar, daß einem jeden Beobach-
ter beim ersten Anblicke die beiden Vierecke aus der
horizontalen Linie heraus und im entgegengesetzten Sinne
auseinandergerückt scheinen, das Rote hinaufwärts, das
Blaue herabwärts. Doch wird bei näherer Betrachtung diese
Täuschung sich bald verlieren, und man wird die Wir-
kung der Ränder, wie ich sie angezeigt, bald genau be-
merken lernen.
110. Es sind überhaupt nur wenige Fälle, wo diese Täu-
schung statthaben kann, sie ist sehr natürlich, wenn man
BEITRÄGE ZUR OFFIK II 337
zu dem roten Viereck ein mit Zinnober, zu dem blauen
ein mit Indig gefärbtes Papier anwendet. Dieses ist der
Fall, wo der blaue und rote Rand, da wo er homogen ist,
sich unmerklich mit der Fläche verbindet, da wo er hetero-
gen ist, die Farbe des Vierecks nur beschmutzt, ohne
eine sehr deutliche Mittelfarbe hervorzubringen. Das rote
Viereck muß nicht so sehr ins Gelbe fallen, sonst wird
oben der dunkelrote Rand sichtbar; es muß aber von der
andern Seite genug vom Gelben haben, sonst wird die
gelbe Strahlung zu sichtbar. Das blaue darf nicht um das
mindeste heller sein, sonst wird der rote und gelbe Rand
sichtbar, und man kann die untere violette Strahlung
nicht mehr als die verrückte Gestalt des hellblauen Vier-
ecks ansehen. Und so mit den übrigen Umständen, die
dabei vorkommen.
111. Ich habe gesucht auf der beiliegenden Tafel die
Töne der Farben dergestalt zu wählen, daß die Täuschung
in einem hohen Grade hervorgebracht werde; weil es aber
schwer ist, ein Papier so dunkelblau, als die Farbe hier
erforderlich ist, egal anzustreichen: so werden einzelne
Liebhaber, entweder durch sorgfältige Färbung des Papiers,
oder auch durch Muster von Scharlach und blauem Tuche
diesen Versuch noch reiner anstellen können.
Ich wünsche, daß alle diejenigen, denen es um diese Sache
Ernst wird, sich die hierbei anzuwendende geringe Mühe
nicht möchten reuen lassen, um sich fest zu überzeugen,
daß die farbigen Ränder, selbst in diesem Falle, einer
geschärften Aufmerksamkeit nie entgehen können. Auch
findet man schon auf unserer Tafel Gelegenheit, sich alle
Zweifel zu benehmen.
112. Man betrachte das weiße neben dem blauen ste-
hende Viereck auf schwarzem Grunde, so werden an dem
weißen, welches hier an der Stelle des roten steht, die
entgegengesetzten Ränder in ihrer höchsten Energie in
die Augen fallen. Es erstreckt sich an demselben der
rote Rand fast noch mehr als am Roten selbst über das
Blaue hinauf; der untere blaue Rand aber ist in seiner
ganzen Schöne sichtbar, dagegen verliert es sich in dem
blauen Viereck durch Identifikation. Die violette Strah-
GOETHE XVII 22.
338 CHROM ATIK
lung hinabwärts ist viel deutlicher an dem Weißen als
an dem Blauen.
113. Man sehe nun herauf und herab, vergleiche das rote
mit dem weißen, die beiden blauen Vierecke miteinander,
das blaue mit dem roten, das blaue mit dem weißen, und
man wird die Verhältnisse dieser Flächen zu ihren Rän-
dern deuthch einsehen.
114. Noch auffallender erscheinen die Ränder und ihre
Verhältnisse zu den farbigen Flächen, wenn man die far-
bigen Vierecke und das Schwarze auf weißem Grunde
betrachtet: denn hier fällt jene Täuschung völhg weg, und
die Wirkungen der Ränder sind so sichtbar, als wir sie
nur in irgendeinem andern Falle gesehen haben. Man
sehe zuerst das blaue und rote Viereck durchs Prisma an.
An beiden entsteht der blaue Rand nunmehr oben, dieser,
homogen mit dem Blauen, verbindet sich mit demselben
und scheint es in die Höhe zu heben, nur daß der hell-
blaue Rand oberwärts schon zu sichtbar ist. Das Violette
ist auch herabwärts ins Blaue deutlich genug. Eben dieser
obere blaue Rand ist nun mit dem roten Viereck heterogen,
er ist kaum sichtbar, und die violette Strahlung bringt,
verbunden mit dem Gelbrot, eine Pfirschblütfarbe zu-
wege.
115. Wenn nun auch gleich in diesem Falle die obern
Ränder dieser Vierecke nicht horizontal erscheinen, so
erscheinen es die untern desto mehr: denn indem beide
Farben gegen das Weiße gerechnet dunkler sind, als sie
gegen das Schwarze hell waren: so entsteht unter beiden
der rote Rand mit seiner gelben Strahlung, er erscheint
unter dem gelbroten Viereck in seiner ganzen Schönheit
und unter dem blauen beinahe wie er unter dem Schwar-
zen erscheint, wie man bemerken kann, wenn man die
darunter gesetzten Vierecke und ihre Ränder mit den
obern vergleicht.
116. Um nun diesen Versuchen die größte Mannigfaltig-
keit und Deutlichkeit zu geben, sind Vierecke von ver-
schiedenen Farben in der Mitte der Tafel, halb auf die
schwarze, halb auf die weiße Seite geklebt. Man wird sie,
nach jenen uns nun bei farbigen Flächen genugsam be-
BEITRÄGE ZUR OPTIK II 339
kannt gewordenen Gesetzen, an ihren Rändern verschie-
dentlich gefärbt finden, und die Vierecke werden in sich
selbst entzwei gerissen und hinauf- und hinunterwärts ge-
rückt scheinen. Da nun das Phänomen, das wir vorhin an
einem roten und blauen Viereck, auf schwarzem Grunde,
bis zur Täuschung gesehen haben, uns an zwei Hälften
eines Vierecks von gleicher Farbe sichtbar wird, wie es
denn an dem mennigroten kleinen Vierecke am allerauf-
tallendsten ist, so werden wir dadurch abermals auf die
farbigen Ränder, ihre Strahlungen und auf die Wirkungen
ihrer homogenen oder heterogenen Natur zu den Flächen,
an denen sie erscheinen, aufmerksam gemacht.
117. Ich überlasse den Beobachtern, die mannigfaltigen
Schattierungen der halb auf Schwarz, halb auf Weiß be-
festigten Vierecke selbst zu vergleichen, und bemerke nur
noch die scheinbare konträre Verzerrung, da Rot und Gelb
auf Schwarz hinaufwärts, auf Weiß herunterwärts, Blau
auf Schwarz herunterwärts und auf Weiß hinaufwärts ge-
zogen scheinen.
118. Es bleibt mir, ehe ich schließe, noch übrig, die
schon bekannten Versuche noch auf eine Art zu ver-
mannigfaltigen. Es stelle der Tieobachter die Tafel der-
gestalt vor sich, daß sich der schwarze Teil oben und der
weiße unten befindet; er betrachte durchs Prisma eben
jene Vierecke, welche halb auf schwarzem, halb auf weißem
Grunde stehen, nun horizontal nebeneinander; er wird
bemerken, daß das rote Viereck durch einen Ansatz zweier
roten Ränder gewinnt, er wird bei genauer Aufmerksam-
keit die gelbe Strahlung von oben herein auf der roten
Fläche bemerken, die untere gelbe Strahlung nach dem
Weißen zu wird aber viel deutlicher sein.
119. Oben an dem gelben Viereck ist der rote Rand sehr
merklich, die gelbe Strahlung identifiiert sich mit der
gelben Fläche, nur wird solche etwas schöner dadurch.
Der untere Rand hat nur wenig Rot, und die gelbe Strah-
lung ist sehr deuthch. Das hellblaue Viereck zeigt oben
den dunkelroten Rand sehr deutlich, die gelbe Strahlung
vermischt sich mit der blauen Farbe der Fläche und bringt
ein Grün hervor, der untere Rand geht in eine Art von
340 CHROM ATIK
Violett über, die gelbe Strahlung ist blaß. An dem blauen
Viereck ist der obere rote Rand kaum sichtbar, die gelbe
Strahlung bringt herunterwärts ein schmutziges Grün her-
vor; der untere rote Rand und die gelbe Strahlung zeigen
sehr lebhafte Farben.
I20. Wenn man nun in diesen Fällen bemerkt, daß die
rote Fläche durch einen Ansatz auf beiden Seiten zu ge-
winnen, die dunkelblaue wenigstens von einer Seite zu
verlieren scheint: so wird man, wenn man die Pappe um-
kehrt, daß der weiße Teil oben und der schwarze unten
sich befindet, das umgekehrte Phänomen erblicken.
12 1. Denn da nunmehr die homogenen Ränder und Strah-
lungen an den blauen Vierecken entstehen und sich mit
ihnen verbinden: so scheinen sie beide vergrößert, ja ein
Teil der Flächen selbst schöner gefärbt, und nur eine ge-
naue Beobachtung wird die Ränder und Strahlungen von
der Farbe der Fläche selbst unterscheiden lehren. Das
Gelbe und Rote dagegen werden nunmehr von den hetero-
genen Rändern eingeschränkt. Der obere blaue Rand ist
an beiden fast gar nicht sichtbar, die violette Strahlung
zeigt sich als ein schönes Pfirschblüt auf dem Roten, als
ein sehr blasses auf dem Gelben, die beiden untern Rän-
der sind grün, an dem Roten schmutzig, lebhaft an dem
Gelben, die violette Strahlung bemerkt man unter dem
Roten sehr wenig, mehr unter dem Gelben.
12 2. Es lassen sich diese Versuche noch sehr verviel-
fältigen, wie ich denn hier die farbigen Ränder der dunkel-
roten, hochgelben, grünen und hellblauen Vierecke, die
sich auf der einen Seite der Tafel gleichfalls zwischen
dem Schwarzen und Weißen befinden, nicht umständlich
beschreibe und hererzähle, da sie sich jeder Beobachter
leicht selbst deutlich machen und sich aufs neue über-
zeugen kann, daß die farbigen Vierecke nebeneinander
deswegen durchs Prisma verschoben erscheinen, weil der
Ansatz der homogenen und heterogenen Ränder eine
Täuschung hervorbringt, die wir nur durch eine sorgfäl-
tige Reihe von Erfahrungen rektifizieren können.
BEITRÄGE ZUR OPTIK II 341
XI
Nacherinnerung
Ich beschließe hiermit vorerst den Vortrag jener pris-
matischen Erfahrungen, welche ich die subjektiven nennen
darf, indem die Erscheinungen in dem Auge des Beobach-
ters vorgehen, wenn ohne Prisma an den Objekten, wel-
che gesehen werden, eine Spur des Phänomens nicht
leicht zu entdecken ist.
Es leiten sich alle diese Versuche von einer einzigen Er-
fahrung ab, nämlich: daß wir notwendig zwei entgegen-
gesetzte Ränder vor uns stellen müssen, wenn wir sämt-
liche prismatische Farben auf einmal sehn wollen, und
daß wir diese Ränder verhältnismäßig aneinander rücken
müssen, wenn die voneinander getrennten einander ent-
gegengesetzten Erscheinungen sich verbinden und eine
Farbenfolge durch einen gemischten Übergang darstellen
sollen.
Ich habe meine Bemühungen nur daraui gerichtet, die
einfachen Erfahrungen in so viele Fälle zu vermannig-
faltigen, als es mir jetzt möglich war und nützlich schien,
und ich hofie, daß man meine Arbeit nicht deswegen ge-
ringer schätzen wird, weil sich alle von mir vorgetragenen
Versuche auf einen einzigen wieder zurückbringen lassen.
Die unzähligen Operationen der Rechenkunst lassen sich
auf wenige Formeln reduzieren, und die Magnetnadel zeigt
uns eben darum den Weg von einem Ende des Meers zum
andern, sie hilft uns aus den verworrensten unterirdischen
Labyrinthen, läßt uns über Täler und Flüsse das Maß
finden und gibt uns zu vielen ergötzlichen Kunststücken
Anlaß, eben weil sie sich unveränderlich nach einem ein-
fachen Gesetze richtet, das auf unserm ganzen Planeten
gilt und also überall ein gewisses Hier und Dort angibt,
das der menschliche Geist in allen Fällen zu bemerken
und auf unzählige Art anzuwenden und zu benutzen ver-
steht.
Ein solches Gesetz kann gefunden, deutlich gemacht und
tausendfältig angewendet werden, ohne daß man eine
theoretische Erklärungsart gewählt oder gewagt hat.
342 CHROMATIK
Darf ich mir schmeicheln, in einer so durchgearbeiteten
Materie, als die Lehre von den Farben ist, etwas Nütz-
liches und Zweckdienhches zu leisten: so kann ich es nur
alsdann, wenn ich die vielen Versuche, welche bezüglich
auf Entstehung der Farben von so vielen Beobachtern an-
gestellt worden und die überall zerstreut liegen, zusammen-
bringe und sie nach ihrer natürlichen Verwandtschaft ohne
weitere Rücksicht in Ordnung stelle.
Man wird mir verzeihen, wenn ich nicht gleich anzeige,
woher ich sie nehme, wo und wie sie bisher vorgetragen
worden, wie man sie zu erklären gesucht, und ob sie
dieser oder jener Theorie günstig scheinen. Was für Kenner
überflüssig ist, dürfte den Liebhaber verwirren, und leicht
werden Streitigkeiten erregt, die man so viel als möglich
zu vermeiden hat. Sind die Materialien einmal beisammen,
so ergibt sich die Anwendung von selbst.
Ebenso wird man mir vergeben, wenn ich langsamer vor-
wärts gehe, als ich mir es anfangs vorgesetzt, und, um
keinen Fehltritt zu tun, meine Schritte zusammenziehe.
Erklärung der Kupfertafel'
Das zusammengesetzte hohle Prisma ist hier schwebend
vorgestellt. Man kann seine zwei undurchsichtigen bleier-
nen Seiten von den durchsichtigen gläsernen leicht unter-
scheiden, und man weiß, daß die Oberfläche nicht zuge-
schlossen ist. Man sieht das schmale Fensterblei, durch
welches das ganze Instrument verbunden wird, indem
solches an allen Rändern hingeführt und wohlverkittet
ist. Es schwebt das Prisma über seinem Gestelle, dieses
hat zwei Seitenbretter, welche mit Leisten eingefaßt sind,
um das Prisma zu empfangen. Die eine Leiste ist kurz
und einfach, die andere länger und eingeschnitten. Dieser
Einschnitt dient, wenn das Prisma unmittelbar an den
Brettern niedergelassen ist und auf den Leisten ruht, eine
ausgeschnittene Pappe vor die eine Fläche des Prisma zu
schieben und dadurch Versuche hervorzubringen, welche
wir in den folgenden Stücken vorlegen werden.
>• Vgl. Seite 330.
BEITRÄGE ZUR OPTIK II 343
Die erstbeschriebenen Seitenbretter sind durch beweg-
liche Zapfen mit zwei Pfosten verbunden und können
durch eine Schraube an die Pfosten angezogen oder von
denselben entfernt und also dem Prisma genau angepaßt
v/erden.
Die beiden Pfosten stehen auf einem Boden von starkem
Holz, das einwärts vertieft ist, damit das aus dem pris-
matischen Gefäß allenfalls auströpfelnde Wasser aufge-
fangen werde. Die Leisten der obenbeschriebenen Seiten-
bretter gehen unterwärts nicht zusammen, damit das
Wasser ungehindert abträufeln könne.
Ich empfehle nochmals den Liebhabern dieses leicht zu
verfertigende Instrument und ersuche sie, solches an
einem offenen Fenster den Sonnenstrahlen auszusetzen.
Man wird zum voraus manche merkwürdige Erscheinung
gewahr werden, die ich erst später in ihrer Reihe auf-
führen kann.
EINIGE ALLGEMEINE CHROMATISCHE
SÄTZE
[PlandschriftHch. 1793]
DIE Farbe ist eine Eigenschaft, die allen Körpern,
die wir kennen, unter gewissen Bedingungen zu-
kommen kann.
Die Körper sind entweder farblos, oder können doch in
den farblosen Zustand versetzt werden.
In und an den Körpern kann durch bestimmte Behand-
lung Farbe erregt, sie kann ihnen mitgeteilt, die erregte
oder mitgeteilte kann verändert werden.
Das Licht kommt auf eine doppelte Weise in Betrachtung,
erstens als Mittel, durch welches wir die Farben erken-
nen, und hier ist es in seinem höchsten, absolutesten Zu-
stande farblos, zweitens als der reinste, feinste Körper, der
teils mit allen übrigen Körpern Affinität hat, teils an wel-
chem, wie an den übrigen Körpern, Farben erregt werden,
welchem Farben mitgeteilt werden können.
Wie das Licht sich an Reinheit und Energie gegen die
übrigen Körper verhält, so verhalten sich auch seine Far-
ben zu den Farben der übrigen Körper. Diese nennen wir
mit einigen Alten einsweilen eigeneFarhen (colores pro-
prios), jene nennen wir apparente^ die Alten nannten sie
fürtrefilich colores emphaticos.
Die Farben des Lichts, sowie der übrigen Körper, gehen
manchmal nur vorüber, sie wechseln, kehren sich um.
Diese Sätze machen, wie man sieht, keinen Anspruch,
irgendeine Ursache der Farbenentstehung anzuzeigen,
ebensowenig wagen sie es, auch nur die näheren Gesetze
bezeichnen zu wollen, deren Bedingungen wir erst noch
aufzusuchen haben, sie sprechen gewissermaßen nur die
Erfahrungen aus, die wir beinahe so oft machen, als wir
die Augen eröffnen.
Es fragt sich, ob ich mich hierin nicht irre? ob sie zulässig
und insofern zweckmäßig sind: daß wir den Punkt, von
dem wir ausgehen und zu dem wir oft zurückkehren wer-
den, dadurch deutlich bezeichnen.
EINIGE ALLGEMEINE SÄTZE 345
Vorschläge
wie man sich in die vorzunehmenden Arbeiten teilen könne.
Der größte Vorteil, der aus einer gemeinsamen Bearbei-
tung einer so weit verbreiteten Wissenschaft entspringen
könne, ist außer der Vollständigkeit auch der, daß keine
einseitige Behandlungsart das Übergewicht gewinnen und
die übrigen, die ebensoviel recht haben, wo nicht aus-
schließen, doch wenigstens genieren dürfe.
Wir wollen hier nur die allgemeinste Übersicht geben.
Der Chemiker
behandelt gleichsam privative
die unorganischen Körper^
insofern sie farblos sind, insofern Farben an ihnen erregt^
sie ihnen mitgeteilt^ an ihnen verändert und abgewechselt
werden können, und wie sie aus dem farbigen Zustande
in den farblosen wieder zu versetzen sind.
Er beobachtet gleichfalls die sogenannten Elemente, d. i.
die unzerlegbaren, oder wenigstens bis jetzt unzerlegten
Körper. Hier trifi"t er mit dem Physiker zusammen, dem
er die Bearbeitung der Bedingungen überläßt, unter wel-
chen das Licht farblos oder gefärbt erscheint. Dagegen
untersucht er die Affinität des Lichtes zu andern Körpern
(er untersucht, inwiefern das Licht zur Färbung der Pflan-
zen beitrage? usw.), besonders zu solchen, die fast ganz aus
Farbeteilen bestehen und unter dem Namen Pigmente zu
bezeichnen sind. Ferner die Affinität dieser farbigen Stofl:e
zu andern Körpern, den Metallkalken, Erden, zu den ob-
stringenten Stoffen und durch diese zu den organischen
Körpern; so würde teils die reine chemische Farbenlehre,
teils die angewendete, die Färbekunst bearbeitet. In beiden
ist schon so viel getan, daß man sich beinahe nur über die
Ordnung verstehen dürfte, in welcher man die Phänomene
und Erfahrungen aufzustellen der Natur gemäß fände. Vor-
schläge dazu werde ich zur Prüfung darlegen.
Der Physiker
beschäftigt sich mit den Bedingungen, unter welchen das
Licht /(7/7;/(3X, vorzüglich aber ^(?/är^/ erscheint.
346 CHROMATIK
Es ist und bleibt unter mancherlei Umständen fard/os, und
immer wird es sich rein, einfach, gewaltig, schnell und
empfindlich zeigen.
Gefärbt erscheint es sehr oft unter verschiedenen Bedin-
gungen, welche so genau als möglich voneinander zu son-
dern sind, ob man gleich am Ende findet, daß eine in die
andere eingreift. Es ist mir davon folgendes bekannt:
In und an dem Lichte werden Farben erregt
1. durch Mäßigung des Lichtes,
2. durch Wechselwirkung des Lichtes auf die Schatten.
Diese beiden Bedingungen bringen jederzeit Farben her-
vor, und kann die Art, wie sie wirken, leicht erkannt wer-
den. Bei den folgenden ist es nicht so, wir sagen daher:
Ferner werden in und an dem Lichte Farben erregt^
bei Gelegenheit, 3. der Beugung, Inflexion,
4. des Widerscheins, Reflexion,
5. der Brechung, Refraktion.
Diese drei bringen nicht immer Farben hervor, sondern
sie müssen noch besonders bedingt werden.
Dem Lichte werden Farben 7nitgeteilt
6. durch farbige durchsichtige Körper.
Dieses sind die mir bekannten sechs Bedingungen, unter
die sich der größte Teil der Erfahrungen, die apparenten
Farben betreffend, ordnen läßt. Ob sie hinreichend sind,
wird die Folge der Arbeit zeigen.
Von der dabei anzudeutenden Methode rede ich in einem
besondern Abschnitt.
Es gibt mehrere Erfahrungen, die man nicht gewiß zu ord-
nen weiß, diese werden einsweilen besonders gestellt.
Der Mathematiker
wird dem Physiker beistehen, er wird die Methode prüfen,
nach welcher die Versuche geordnet sind, er wird die-
ses nach den allgemeinen Grundsätzen des Denkens tun
und scharf bemerken, ob von dem Einfachen zu dem Zu-
sammengesetzteren fortgeschritten worden, ob in dem
Vortrag keine Lücken zu bemerken, und ob das, was als
Resultat angegeben wird, auch wirklich aus dem Erfah-
renen folgt.
EINIGE ALLGEMEINE SÄTZE 347
Er wird sodann in die Sache hineingehen und alles, was
Zahl und Maß unterworfen ist, so rein und einfach als
inöglich durcharbeiten.
Der Mechaniker
wird die kürzesten Wege und Mittel überlegen, wie zu den
angegebenen Versuchen der Apparat beizuschaffen und
herzustellen sei. Er wird Gelegenheithaben, seinen Scharf-
sinn zu üben und Maschinen zu ersinnen, an denen und
durch welche mehrere Versuche gemacht werden können,
teils um Kosten, teils um Platz zu sparen. Denn oflfenbar
wird nach diesen Arbeiten der Vorrat eines physikalischen
Kabinetts sehr vermehrt werden. Die beste Einrichtung
einer dunklen Kammer, die Bequemlichkeit des Apparats
verdienen alles Nachdenken, um jeden Physiker in den
Stand zu setzen, nicht allein alle nach einer reinen Me-
thode aufzustellenden Versuche mit Leichtigkeit zu wie-
derholen, sondern auch, wenn es erfordert wird, selbst die
komplizierten falschen Experimente, von welchen ihm der
Kritiker ein Verzeichnis liefert, darzustellen.
Die gefälligsten und wunderbarsten wird man in die natür-
liche Magie aufnehmen, um sie bekannt zu machen auch
unter Personen, die kein wissenschaftliches Interesse an
diesen Erscheinungen nehmen.
Der Naturhistoriker
wird die organischen Naturen durchgehen, inwiefern sie
' farblos oder farbig sind. Er wird die verschiedenen Reiche
und Klassen bearbeiten, und sehen, ob sich nicht Gesetze
entdecken lassen, nach denen die organischen Körper farb-
los oder gefärbt sind. Was Element, Klima, Gestalt dazu
beiträgt. Er wird die Vorarbeiten des Chemikers und Phy-
sikers zu Rate ziehen.
Um nur etwas zu sagen, wie er seine Untersuchungen an-
schließen könne, so bemerke man, daß reine ganze Farben
nur an unvollkommenen organischen Naturen stattfinden:
an Blumen, Raupen, Schmetterlingen, Schalen der Wür-
mer, Fischen, Vögeln. An Säugetieren finden sich meist
34 S CHROM ATI K
nur gemischte Farben. Reine Farben an der Gestalt d
Menschen würden unerträglich sein.
Der Maler
braucht die Farbe teils mechanisch , worinne ihm der Clie-
miker vorgeht, mit welchem er sich, was diesen Teil be-
trifft, verbinden wird. Teils zu ästhetischen Zwecken., und
hier steht er höher als alle, die sich mit Farben beschäf-
tigen. Er muß ihre Natur, ihre Wirkung tief und genau
kennen, weil er die zartesten und doch verschiedensten
Effekte hervorbringen will. Wir können hoffen, daß er uns
die wichtigsten Aufschlüsse geben wird, wenn er von seiner
Erfahrung ausgeht und durch Beispiel zeigt, wo, wie und
warum er die verschiedenen Farben benutzt.
Hoffentlich wird er sich von dieser Seite mit dem Phy-
siker vereinigen können, von dem er bisher sich gänzlich
verlassen sah.
Vorläufig merke ich an, daß er folgendes unterscheidet:
I. Licht und Schatten., Hell und Dunkel.
2. Lokalfarbe, Farbe des Gegenstandes ohne Zusammen-
hang.
3. Apparcnte Farbe. Die Lehre von der Mäßigung des
Lichts und den farbigen Schatten studiert er aufs ge-
nauste.
4. L^arben gebung. Harmonische Verbindung der Farben
durch Zusammenstellung und Vereinigung der Lokal- und
apparenten Farben.
5. Ton. Allgemeine Farbe, die über ein ganzes Bild herrscht.
Der Historiker
wird die Geschichte der Farbenlehre aus der Geschichte
der Optik und der übrigen Naturlehre aussondern. Er wird
die Meinungen der Alten, die Hypothesen und Theorien
der mittlem und neuern Zeit, die Streitigkeiten so un-
parteiisch als möglich erzählen, er wird die obwaltenden
moralisch-politischen Ursachen des Übergewichts dieser
oder jener Lehre aufzufinden suchen und die Modifika-
tion der herrschenden Theorien bis auf die neuesten Zeiten
verfolgen.
EINIGE AI.LGlCxMEINE SÄTZE 349
Der Kritiker
findet durch den Historiker seinen Weg gebahnt und durch
die x'\rbeiten besonders des Physikers und Chemikers die
r)ase seines Urteils befestigt. Er untersucht alle Versuche,
von welchen jene zu reden sich enthalten, alle falsch ver-
wickelte, falsch verknüpfte, falsch erklärte Versuche, und
zeigt, wie sie einfacher anzustellen und wohin sie zu ord-
nen sind. Er entdeckt alle Übereilungen des Urteils, die
Unrichtigkeiten der Methode, die Lücken der Hypothesen,
setzt die Punkte des Streites fest, und kommt dergestalt
denen, die ihm vorgearbeitet haben, von seiner Seite zu
Hülfe.
Er erfreut sich an den Bemühungen derer, die ihren Geist
an diesen Gegenständen geübt und scharfsinnige hypothe-
tische Verbindungen ohne Anmaßung gemacht; er zieht
aus der Geschichte einzelne aufgestellte Versuche und
Meinungen hervor, die nicht die Aufmerksamkeit erregt,
nicht das Glück gehabt, das sie verdient, und bringt ver-
kanntes Verdienst zu Ehren.
Er nimmt die polemischen Bemühungen über sich, damit
die reine aufzustellende Lehre nicht getrübt werde.
Ferner wird er die von uns eingegangene Methode recht-
fertigen und, was sich in der Folge an ihr zu tadeln finden
sollte, gleichfalls anzeigen.
Haben wir nun von gedachten Männern die vorzüglichste
Beihülfe zu erwarten, so werden wir doch in dem Falle
sein, uns den Anteil mehrerer zu wünschen und zu er-
bitten.
So wird der Physiker dem Anatomen verschiedene Fragen
über den Bau des Auges vorzulegen haben.
So wird CiQi spekulative Philosoph eingeladen, den Erschei-
nungen, mit denen wir uns beschäftigen, einen Blick zu
gönnen; als Logiker unsere Methode zu beurteilen und zu
reinigen; als Ästhetiker zu prüfen, ob er bei Betrachtung
der Werke der Kunst und ihrer Schätzung einen sicherern
Maßstab erhält, als der war, dessen er sich bisher bedient,
usw.
350 CHROMATIK
Jeder aufmerksame Mensch wird uns an Phänomene er-
innern, über die wir hinwegsahen. Sehr viel bin ich schon
teilnehmenden Freunden schuldig geworden.
Wie viel eine Wissenschaft durch allgemeineren Anteil ge-
winnt, braucht nicht ausgeführt zu werden, und wie wohl-
tätig sie besonders in unsern Zeiten werden kann, wenn
sie das Gemüt von andern zudrängenden Gedanken ab-
leitet, erfahre ich an mir selber.
Lager bei Marienborn
d. 2 1 Jul. 1793.
ÜBER DIE EINTEILUNG DER FARBEN
UND IHR VERHÄLTNIS GEGEN-
EINANDER
[Handschriftlich. Wohl 1793]
WENN der billige Wunsch, die Farbenlehre durch
mehrere Naturfreunde gemeinschaftlich behan-
delt zu sehen, in Erfüllung gehen sollte, so ist
vorauszusetzen, daß man suche, von eitiem Standorte aus-
zugehen, sich über einige Punkte zur Leitung der Arbeit
zu vereinigen.
Man kann keine völlig ausgearbeitete unwidersprechliche
Sätze zum Grunde legen, denn wir arbeiten ja, erst diese
zu finden. Wir wollen suchen, nicht beweisen, und der
Leitfaden, an dem wir ausgehen, möchte so hypothetisch
sein als er will, wenn er uns nur dient, unsern Weg, wo-
hin wir ihn auch nehmen, zu verfolgen und zurückzu-
finden.
Nachstehende Resultate habe ich aus vielen Arbeiten ge-
zögen und finde im Fortarbeiten bequem, sie vor Augen
zu haben; ich wünsche, daß sie andern auch nützlich sein
mögen.
Wir kennen nur zwei ganz reine Farben, welche, ohne uns
einen Nebeneindruck zu geben, ohne an etwas anders zu
erinnern, von uns wahrgenommen werden. Es sind
Gelb und Blau.
Sie stehen einander entgegen, so wie nur ein irgend uns
bekannter Gegensatz. Die reine Existenz der einen schließt
die reine Existenz der andern völlig aus, sie haben aber
eine Neigung gegeneinander, als zwar entgegengesetzte
aber nicht widersprechende Wesen; jede einzeln betrachtet
macht einen bestimmten und höchst verschiedenen Eflfekt,
nebeneinander gestellt machen sie einen angenehmen
Eindruck aufs Auge, miteinander vermischt befriedigen
sie den Blick. Diese gemischte Farbe nennen wir
Grün.
Dieses Grün ist die Wirkung der beiden vermischten, aber
nicht vereinigten Farben, in den meisten Fällen lassen sie
sich sondern und wieder zusammensetzen.
352 CHROM ATI K
Wir kehren zurück und betrachten die beiden Farben
Gelb und Blau abermals in ihrem reinen Zustande und
finden, daß sie auch heller und dunkler ohne Veränderung
ihrer P^igenheit dargestellt werden können.
Wir nehmen z. B. rein aufgelöstes Gummi Gutti und strei-
chen davon auf ein Papier; sobald es getrocknet, über-
streichen wir einen Teil zum zweitenmal und so fort, und
wir finden, daß, je mehr Farbenteilchen das Papier be-
decken, je dunkler die Farbe wird. Eben diesen Versuch
machen wir mit fein geriebenem Berliner Blau.
Wir können zwar auch die hellere Farbe dunkler erschei-
nen machen, wenn wir das Papier vorher mit einer leich-
tern oder stärkern Tusche überziehen und dann die Farbe
darüber ziehen. Allein von der Vermischung mit Schwarz
und Weiß darf bei uns nicht die Rede sein. Bei uns fragt
sichs nur: sind die Farbenteile näher oder entfernter bei-
sammen? jedoch in völliger Reinheit.
Auf obgemeldete Weise verstärken wir die Farbe nicht
lange, so finden wir, daß sie sich noch auf eine andere
W^eise verändert, die wir nicht bloß durch dunkler aus-
drücken können. Das Blaue nämlich sowohl als Gelbe
nehmen einen gewissen Schein an, der, ohne daß die
Farbe heller werde als vorher, sie lebhafter macht, ja
man möchte beinahe sagen, sie ist wirksamer und doch
dunkel. Wir nennen diesen Efiekt
Rot.
So ist ein reines trocknes Stück Gummi Gutta auf dem
Bruche schon orangengelb. Man lege es gegen ein Stück
schön rot Siegellack, und man wird wenig Unterschied
sehen. Ebenso schimmert das gute Berliner Blau, der
echte Indig auf dem Bruche ins Violette. Der Chemiker
wird uns durch Verdickung der Liquore die schönsten
Beispiele liefern.
Rot nehmen wir also vorerst als keine eigene Farbe an,
sondern kennen es als Eigenschaft, welche dem Gelben
und Blauen zukommen kann. Rot steht weder dem Blauen
noch dem Gelben entgegen, es entsteht vielmehr aus
ihnen, es ist ein Zustand, in den sie versetzt werden können,
ÜBER DIE EINTEILUNG DER FARBEN 353
und zwar durch Verdichtung, durch Aneinanderdrängung
ihrer Teile; geteilte rote Blutkügelchen legen ihre rote
Farbe ab und nehmen eine gelbe an. Man nehme nun das
Gelbrote und das Blaurote^ beides auf seiner höchsten
Stufe und Reinheit, man vermische beide, so wird eine
Farbe entstehen, welche alle übrigen an Pracht, besonders
wenn die Farben emphatisch sind, übertrifft, es ist der
Purpur^
der so viel Nuancen haben kann, als es Übergänge vom
Gelbroten zum Blauroten geben kann. Diese Vermischung
geschieht am reinsten und vollkommensten bei den pris-
matischen Versuchen. Die Chemie wird uns die Übergänge
sehr interessant zeigen. Wie es mit Pigmenten geschehen
könne, wird der Maler angeben.
Wir kennen also nur folgende Farben und Verbindungen:
Purpur
Gelbrot Blaurot
Gelb Blau
Grün
\ Es läßt sich auch dieses Schema in einem Farbenkreise
bequem darstellen.*
1 Wir kennen, wie oben schon gesagt, keine Verdunklung
\ derselben durch Schwarz^ welches immer zugleich eine
Beschmutzung mit sich führt und unnötig die Zahl der
Farbenabstufungen vermehrt.
Wir enthalten uns gleichfalls der Vermischung mit Weiß^
obgleich dieses unschuldiger ist und bei trocknen Pig-
menten ohngefähr eben das wäre, was das Zugießen des
Wassers bei farbigen Liquoren ist.
Das Schwarze bleibt uns wie das Weiße farblos, und wird
uns in der Kunst nur Licht und Dunkel und farblosen
Schatten durch Mischung vorstellen. Wir vermischen auch
nicht die im Schema verschränkt stehenden Farben als
Purpur und Grün, Blaurot und Gelb, Gelbrot und Blau,
^ Vgl. Anmerkung auf Seite 378.
GOETHE XVII 23.
354 CHROMATIK
als wodurch nur schmutzige Farben entstehen können.
Über diese und deren Gebrauch wird uns der Maler bei
Nachahmung natürlicher Gegenstände, der Färber bei
Hervorbringung der Modefarben belehren.
Da wir uns hier bemühen, das Reinste, Abstrakteste, was
auf alle Fälle anwendbar sein sollte, darzustellen, so haben
wir uns alles desjenigen zu enthalten, was unser Schema
verunreinigen, es komphzieren und unsicher machen
könnte.
Der Erfolg mag das Vorgetragene rechtfertigen oder ver-
bessern.
DerKritikerwirdkünftigdie Farben-Pyramide, dasFarben-
Lexikon, das Farben-Dreieck und sonstige Bemühungen
beurteilen und jedem seinen Platz in der Wissenschaft
und der Benutzung anweisen.
VON DEN FARBIGEN SCHATTEN
[Handschriftlich. 1792]
ES erscheinen uns die Schatten, welche die Sonne bei
Tag oder eine Flamme bei Nacht hinter undurch-
sichtigenKörpern verursacht, gewöhnhch schwarz oder
grau, allein sie werden unter gewissen Bedingungen farbig,
und zwar nehmen sie verschiedne Farben an. Diese Be-
dingungen zu erforschen habe ich viele Versuche ange-
stellt, wovon ich gegenwärtig die merkwürdigsten vor-
trage, mit der Hoffnung, daß sie einander selbst erklären
und uns den Ursachen und Gesetzen dieser schönen und
sonderbaren Erscheinungen näher führen werden.
Die Erfahrung, daß morgens und abends bei einem ge-
wissen Grade der Dämmerung der Schatten eines Körpers
von einer Kerze auf einem weißen Papier hervorgebracht
und von dem schwachen Tageslicht beschienen blau aus-
sieht, ist wohl vielen bekannt, doch wünsche ich, daß
man solche sogleich wiederholen möge. Wie ich denn
diejenigen, die gedachtes Phänomen nicht gesehen, er-
suche, sich mit demselben bekannt zu machen.
Es kann solches sehr leicht bei der Morgen- und Abend-
dämmerung geschehen, wenn man nur den Schatten irgend-
eines Körpers mittelst eines Kerzenlichtes dergestalt auf
ein weiß Papier wirft, daß das zum Fenster hereinfallende
schwache Tageslicht das Papier einigermaßen beleuchte.
Je mehr das Himmelslicht abnimmt, desto dunkelblauer
wird der Schatten und wird zuletzt, wie jeder andre Kerzen-
schatten bei Nacht, schwarz oder schwarzgrau.
Da man nun den Himmel blau zu sehen gewohnt ist, da
man der Atmosphäre eine gewisse, die blauen Strahlen
absondernde und reflektierende Qualität zuschreibt, so
leitet man die blaue Schattenerscheinung gewöhnhch von
einem Widerschein des blauen Himmels oder von einer
Wirkung der geheimen Eigenschaft der Atmosphäre her.
Um gegen diese Erklärung einigen Zweifel zu erregen,
stelle man folgenden Versuch an: An einem grauen Tage,
wenn der ganze Himmel keine Spur von Blau zeigt, mache
man ein Zimmer durch vorgezogne weiße Vorhänge düster,
man entferne sich so weit von den Fenstern, daß auch kein
356 CHROMATIK
Licht von den grauen Wolken unmittelbar auf das Papiei
fallen könne, man beobachte das Zimmer selbst, worin
man sich befindet, und entferne aus demselben alles, was
nur einigermaßen blau ist, man beobachte alsdann die
gegen das Fenster gekehrte Schatten, welche eine Kerze
auf das weiße Papier wirft, und man wird sie noch ebenso
schön blau als gewöhnlich finden, vorausgesetzt, daß das
gedämpfte Tageshcht mit dem Kerzenlichte in einer ge-
wissen Proportion stehe, welche man durch Vor- und
Zurückrücken der Fläche leicht entdeckt. Unter diesen
Umständen wird uns die Einwirkung einer Atmosphäre,
die sich im Zimmer nicht denken läßt, und ihrer blau-
färbenden Qualität unbegreiflich bleiben. Auch sieht man
nichts vor noch neben sich, woher ein blauer Reflex ent-
stehen könne.
Hat man sich geübt, diese blauen Schatten unter mehreren
Umständen hervorzubringen und zu beobachten, so wird
man eine andere Erscheinung leicht bemerken, die mit
dieser verwandt, ja gewöhnlich verbunden ist. Sobald
nämlich das Tageslicht Stärke genug hat, daß es gleich-
falls den Schatten eines Körpers auf ein weißes Papier
werfen kann, so wird dieser Schatten, wenn er vom Kerzen-
lichte beleuchtet wird, gelb oder auch gelbrot, ja fast gelb-
braun werden, und wird jenem blauen Schatten gegen-
überstehen.
Man nehme z. B. ein starkes Bleistift und stelle es der-
gestalt zwischen Fenster und Kerzenhcht auf ein weißes
Papier, daß die Schatten von beiden Seiten sichtbar wer-
den, so wird man die gelben und blauen entgegengesetzten
Schatten deutlich sehen. Nur ist folgendes dabei zu be-
merken: das zum Fenster hereinfallende Tageslicht hat
eine große Breite und macht also Doppelschatten, dahin-
gegen das Kerzenlicht einen bestimmten und deswegen
sichtbareren Schatten hervorbringt. Auch wird man das
Auge ruhig auf beide Schatten richten und bald die beiden
Farben rein und deutlich erkennen.
Sind wir nun vorher gegen die Einwirkung der Atmo-
sphäre auf die blauen Schatten einigermaßen mißtrauisch
geworden, so werden wir doch hier den gelben Schatten
VON DEN FARBIGEN SCHAITEN 357
leichter aus einem Widerschein des Lichts zu erklären
denken, da wirklich der gelbe Schatten mit der Farbe
der Lichtflamme ziemlich übereinkommt, und wir können
erst nach mannigfaltigen Versuchen eines andern Sinnes
werden.
So viel gleichsam als Einleitung; wobei ich wünschte, daß
meine Leser, ehe sie weitergehen, selbst diese Erfahrungen
anstellen, wozu die Mittel einem jeden gleich zur Hand
sind. Der Augenschein wird ihnen den Gegenstand ge-
wiß interessant machen, mit dem wir uns beschäftigen,
und man wird nachstehenden Versuchen und ihrer Be-
schreibung, die sich auf beiliegende Figuren [Seite 371]
bezieht, desto eher folgen können, wenn man auch gleich
den nötigen Apparat nicht bei der Hand haben sollte, sie
sogleich selbst anzustellen.
Erster Versuch. Erste Figur
Es stehe in einer verfinsterten Kammer eine Kerze in a
und scheine an der Kante des Körpers c vorbei, so wird
auf der weißen Fläche <?/ein schwarzer oder schwarz-
grauer Schatten eg entstehen, der übrige Raum ^/ wird
von dem Lichte beleuchtet hell sein. Man eröfifne einen
Fensterladen, so daß ein gemäßigtes Tageslicht von b
herein und an der Kante des Körpers d vorbeifalle, so
wird ein Schatten hf entstehen, und das Tageslicht wird
den übrigen Raum eh beleuchten. Zugleich wird der
Schatten eg blau, der Schatten hf gelb erscheinen und
der von beiden Lichtern beleuchtete Raum gh hell blei-
ben und die natürliche Farbe des Papiers ohne großen
Unterschied daselbst erscheinen.*
Zweiter Versuch. Zweite Figur
Es stehe in a eine weiße Mauer, welche das Sonnenlicht
nach einer gegenüber errichteten dunklen Kammer hinauf-
wirft, und bringe auf einem hinter der Öffnung gehaltnen
Papier den Schatten eg hervor; der heitere Himmel in b
* Von diesem Unterschiede siehe unten [Seite 369].
358 CHROMATIK
mache auf ebendemselben Papier den Schatten hf, so
wird der durch den Widerschein der Mauer verursachte,
vom Himmelslicht beschienene Schatten blau, der ent-
gegengesetzte gelb sein, wie das innerhalb der dunklen
Kammer hinter dem Papier befindliche Auge an den
Rändern deutlich erkennen wird.
Dritter Versuch. Zweite Figur
Eben dieses Phänomen wird sich zeigen, wenn die unter-
gehende Sonne sich in a befindet. Der Schatten eg ist
lange blau, ehe in >^/ein Schatten erscheinen kann, Ist
die Luft voll Dünste, so wird schon einige Zeit vor Sonnen-
untergang das Sonnenlicht dergestalt geschwächt und das
Licht der Atmosphäre so mächtig, daß letzteres den Schat-
ten hf hervorbringen kann, welcher sogleich gelb er-
scheint. Bei heiterem Himmel konnte ich aber dieses
Phänomen nur dann erst gewahr werden, wenn die halbe
Scheibe der Sonne schon unter dem Horizonte war.
Vierter Versuch
Man lege bei Sonnenschein und heiterm Himmel eine
weiße Fläche horizontal auf den Boden und irgendeinen
Körper darauf, so wird der Schatten durch den Einfluß
des atmosphärischen Lichtes blau erscheinen, der Himmel
mag selbst blau oder mit weißhchen Dünsten überzogen
sein; vielmehr werden in dem letzten Falle, weil die Ener-
gie der Sonne gemäßigter, das Licht des Himmels stär-
ker wirkt, die Schatten hellblauer erscheinen. Daß der
entgegengesetzte gelbe Schatten in diesem Falle nicht
existieren kann, versteht sich von selbst.
Fünfter Versuch
Man lasse an einem heitern Tage, wenn der Himmel rein
blau ist, den Widerschein desselben durch eine sechs Zoll
weite Öffnung in eine dunkle Kammer fallen und bringe
durch Zwischenstellung eines Körpers auf einer weißen
horizontalen Fläche einen Schatten hervor, so wird er
grau sein; man nähere demselben ein Kerzenlicht, und er
wird nach und nach gelb werden, so wie der durch das
VON DEN FARBIGEN SCHATTEN 359
Kerzenlicht nach der Öffnung zu geworfne Schatten blau
erscheinen wird.
Alle diese Versuche lassen uns noch einigermaßen in
Ungewißheit, ob nicht hier sich irgendeine Reflexion eines
blauen oder gelben Gegenstandes mit einmische? Wir
werden daher, um einzusehen, wie es sich damit verhalte,
unsre Versuche vermannigfaltigen.
SecJister Versuch. Erste Figur
Es befinde sich eine Kerze in a und das Mondhcht scheine
von b her, so wird der Schatten hf^ den das Mondlicht
wirft und der vom Kerzenlichte beschienen wird, gelb er-
scheinen, der Schatten eg aber, den die Kerze wirft und
das Mondlicht bescheint, blau sein. Wir werden hier auf
den Gedanken geführt: daß kein Widerschein eines ge-
färbten Körpers, kein gefärbtes Licht auf die Schatten zu
wirken brauche, um ihnen eine Farbe mitzuteilen. Denn
der Mond, dem man einen gelblichen Schein nicht ab-
sprechen kann, bringt hier gleichfalls einen reinen blauen
Schatten hervor. Ich bitte jeden aufmerksamen Freund
der Natur, beim klaren Vollmond diesen leicht anzustel-
lenden Versuch nicht zu verabsäumen.
Siebenter Versuch, Dritte Figur
Es komme von a der Widerschein des Sonnenhchts von
einer Mauer, wie bei dem zweiten Versuche; man bringe
aber den Apparat innerhalb der dunklen Kammer an und
setze in b ein brennendes Licht, so wird der Schatten eg
gelb und der Schatten hf blau erscheinen. Es zeigt uns
also der Widerschein vOn der Mauer, der vorher beim
zweiten Versuch dem Tageslicht entgegengesetzt stärker
war, nunmehr, da er gegen das Kerzenhcht der schwächere
wird, grade die entgegengesetzte Wirkung als vorher,
macht den Schatten, den er beleuchtet, blau, ungeachtet
die Mauer wie vorher einen gelbhchen Schein von sich
wirft.
Wir kommen also durch diesen Versuch um so viel weiter,
indem wir sehen, daß es hier nicht auf die Farbe des
36o CHROM ATIK
Lichts, sondern auf Energie desselben ankomme; wir er-
fahren, daß diese Energie umgewendet, sogleich sub-
ordiniert und eine entgegengesetzte Wirkung hervorzu-
bringen determiniert werden kann. So haben wir bisher
das Kerzenlicht immer triumphierend gesehen, es gibt
aber auch Mittel, es zu subordinieren.
Achter Versuch. Erste Figur
Man setze in a eine Glutpfanne mit heftig brennenden
Kohlen, man rücke eine brennende Kerze b so lange hin
und wieder, bis die beiderseitigen Schatten sichtbar sind,
so wird der Schatten hf gelbrot, der Schatten eg blau
sein, ob er gleich von einer brennenden Kerze beleuchtet
wird.
Wir können nunmehr wagen, folgende Resultate zur Prü-
fung aufzustellen.
1. Der Schatten, den ein einziges, starkes, von keinem
andern Lichte oder Widerschein balanciertes Licht her-
vorbringt, ist schwarz. In einer wohlbehängten dunklen
Kammer läßt sich diese Erfahrung mit dem Sonn- und
Kerzenlicht am sichersten anstellen. Die schwärzesten,
reinsten Schatten, die ich kenne, sind die: wenn man durch
das Vorderglas des Sonnenmikroskops auf einer weißen
Fläche Schattenbilder hervorbringt.
2. Selten wird man einen Schatten so isolieren können,
daß nicht irgendein reflektiertes Licht auf ihn wirke; einen
solchen Schatten, auf den ein mehr oder weniger starkes
benachbartes Licht einigen Einfluß hat, halten wir ge-
wöhnhch für grau. Da wir aber erfahren haben, daß unter
solchen Umständen die Schatten farbig werden, so fragt
sich, in welchem Grade die beiden Lichtenergien von-
einander unterschieden sein müssen, um diese Wirkung
hervorzubringen. Der Analogie der Naturgesetze nach
scheint, wie bei allen entgegengesetzten Wirkungen, kein
Grad in Betrachtung zu kommen. Denn jedes aufgehobne
Gleichgewicht und ein hier- oder dorthin sich neigendes
Übergewicht ist in dem ersten Augenblicke entschieden,
ob es gleich nur durch mehrere Grade merklicher wird.
Ich wage aber hierüber nichts festzusetzen, vielleicht finden
VON DEN FARBIGEN SCHATTEN 361
sich in der Folge Versuche, die uns hierüber weitern Auf-
schluß geben. So viel aber wird ein aufmerksamer Be-
obachter bemerken, daß die Schatten, die wir gewöhnlich
für grau halten, meist gefärbt sind. Selten werden sie auf
eine ganz reine weiße Fläche geworfen, selten genau be-
trachtet.
Könnte man durch zwei völlig gleiche Lichter zwei ent-
gegengesetzte Schatten hervorbringen, so würden beide
grau sein.
3. Von zwei entgegengesetzten Lichtem kann das eine so
stark sein, daß es den Schatten, den das andre werfen
könnte, völlig ausschließt, der Schatten aber, den er selbst
wirft, kann doch durch das schwächere Licht farbig dar-
gestellt werden.
S. dritter und vierter Versuch.
4. Zwei entgegengesetzte Lichter von differenter Energie
bringen wechselsweise farbige Schatten hervor, und zwar
dergestalt, daß der Schatten, den das stärkere Licht wirft
und der vom schwächern beschienen wird, blau ist, der
Schatten, den das schwächere wirft und den das stärkere
bescheint, gelb, gelbrot, gelbbraun wird.
Diese Farbe der Schatten ist ursprünglich^ nicht abgeleitet,
sie wird unmittelbar nach einem unwandelbaren Natur-
gesetze hervorgebracht. Hier bedarf es keiner Reflexion,
noch irgendeiner andern Einwirkung eines etwa schon zu
dieser oder jener Farbe determinierten Körpers.
Was aber gefärbte Körper, indem sie das Licht entweder
durchlassen oder zurückwerfen, auf die Schatten für Ein-
fluß haben, wollen wir nunmehr untersuchen, und zwar
nehmen wir zuerst gefärbte Glasscheiben vor.
Neunter Versuch. Erste Figur
Es mögen in a und b bei Nachtzeit zwei so viel möglich
gleichbrennende Kerzen stehen, und die Schatten eg und
hf werden grau erscheinen. Man halte vor das Licht b
ein hellblaues Glas, sogleich wird der Schatten eg blau
erscheinen, der Schatten h/ ahev gelb sein. Man hat zu
diesem Versuche ein hellblaues Glas zu nehmen, weil die
dunkelblauen besonders in einiger Entfernung von der
302 CHROM ATIK
Kerze kaum so viel Licht durchlassen als nötig ist, einen
Schatten zu bilden.
Dieser Versuch, wenn er allein stünde, würde uns wie
jene ersten auch im Zweifel lassen, ob die blaue Farbe
des einen Schattens sich nicht von dem blauen Glase, die
gelbe Farbe des andern sich nicht von dem gelben Scheine
des Lichts herschreibe; allein man wende den Versuch
um, und man wird dasjenige, was man oben schon er-
fahren, hier abermals bemerken.
Zehnter Versuch. Erste Figur
Man stelle in a und b abermals zwei gleichbrennende
Kerzen, und die Schatten eg und hf werden grau sein.
Man halte vor das Licht a ein hellgelbes Glas, sogleich
wird der Schatten hf gelb, der Schatten e g blau er-
scheinen, wenn dieser gleich wie bei dem vorigen Ver-
suche, wo er gelb erschien, durch das unveränderte
Kerzenlicht erhellt wird.
Eilfter Versuch. Erste Figur
Man wiederhole den ersten Versuch, wo eine Kerze in a
dem gemäßigten Tageslichte b entgegengesetzt wird, und
beobachte die gelb und blau farbigen Schatten. Es ist
natürhch, daß der Schatten -^/gelb bleibe und nur noch
gelber werde, wenn wir vor das Licht a ein gelbes Glas
stellen. Halten wir aber
Zwölfter Versuch. Erste Figur
vor das Licht a ein hellblaues Glas, so bleibt der Schat-
ten /;/noch immer gelb. Ein Phänomen, das uns unbegreif-
lich wäre, wenn wir uns nicht schon überzeugt hätten:
daß es nicht sowohl auf die Farbe des durch die Scheibe
fallenden Lichtes als auf die Energie desselben ankomme.
Und wir können aus diesem Versuche schließen, daß
Kerzenlicht durch hellblaues G!as noch immer, unter den
gegebnen Umständen, energischer sei als gemäßigtes
Tagshcht.
Wie sehr man diese Versuche noch vermannigfaltigen
könne, läßt sich leicht denken, wir bleiben diesmal nur
VON DEN FARBIGEN SCHATTEN 363
bei diesen wenigen, weil sie uns hier schon genug ge-
leistet haben. Wir gehen zu den Wirkungen des Lichts
über, das von gefärbten Papieren zurückstrahlt, und finden
unsre obigen Erfahrungen abermals bestätigt.
DreizeJmter Versuch. Vierte Figur
Durch die sechs Zoll weite Öfinung^ einer dunklen Kam-
mer lasse man einen Sonnenstrahl xa auf eine horizon-
tale Fläche fallen und richte die schattenwerfenden Ränder
und die mit denselben verbundene weiße Fläche inner-
halb der dunklen Kammer dergestalt, daß das von dem
Punkte a zurückprallende Licht in eg einen Schatten
mache, den übrigen Raum ^y aber erleuchte. Es wird so-
dann das einfallende Tageslicht b in /;_/ gleichfalls einen
Schatten machen und den Raum eh erleuchten. Liegt in
a ein weißes Papier, so wird der Versuch dem zweiten
Versuche ähnlich werden, der Schatten ^^ wird blau, der
Schatten ^/wird gelb sein.
Es ist bei diesem und den folgenden Versuchen zu merken:
daß man durch Übung die rechte Entfernung des schatten-
werfenden Körpers von dem Punkte a zu erlernen habe.
Sie ist nicht bei allen Versuchen gleich, sondern die größte,
wenn in a ein weiß Papier liegt, und kann immer geringer
werden, je unenergischer die Farbe des Papiers ist, welches
wir an diese Stelle legen.
Vierzehnter Versuch. Vierte Figur
Man lege in a ein gelbes Papier, sogleich wird die gelbe
Farbe des Schattens hf sich verstärken und der Schatten
eg gleichfalls blauer werden. Man verstärke die gelbe
Farbe der Fläche in 0, so wird hf immer gelber, ja
eigentlich rotgelb werden, der Schatten eg wird blau er-
scheinen.
Fünfzehnter Versuch. Vierte Figur
Man lege in a ein hellblau Papier, so wird der davon
reflektierte Sonnenstrahl, solang er energischer ist als das
einfallende Tageslicht, die Schatten ///noch gelb deter-
minieren, und der Schatten eg wird blau bleiben. Man
364 CHROMATIK
sieht, daß dieser Versuch mit dem zwölften übereinstimme.
Er gerät aber nicht immer, aus Ursachen, die hier aus-
zuführen zu weitläufig wäre.
Sechzehnter Versuch. Vierte Figur
Man verstärke die blaue Farbe in a, so wird der Schatten
hf blau, der Schatten eg gelb werden, obgleich letzterer
von dem blauen heitern Himmel beschienen wird. Wir
sehen also hier abermals, daß zweierlei Blau, davon eins
stärker als das andre ist, die entgegengesetzten farbigen
Schatten hervorbringen könne.
Es lassen sich diese Versuche nach Belieben vermannig-
faltigen und an die Stelle in a Papiere von allerlei Farben
und Schattierungen legen, und man wird immer zweierlei
Arten von farbigen Schatten entgegengesetzt sehen.
Unter allen gemischten Farben werden aber Grün und
Rosenfarb die merkwürdigsten Phänomene darstellen, in-
dem sie, wie wir oben von Gelb und Blau gesehen haben,
einander wechselsweise in dem Schatten hervorbringen.
Siebenzehnter Versuch. Vierte Figur
Man lege an die Stelle a ein schön grünes Papier, das
zwischen dem Blau und Gelbgrünen die rechte Mitte hält,
so wird der Schatten fh grün, der Schatten ge dagegen
rosenfarb, pfirschblüt oder mehr ins Purpur fallend er-
scheinen.
Achtzehnter V erstich. Vierte Figur
Man lege in a ein Stück rosenfarbnen Taft oder Atlas (in
Papier läßt sich die Farbe selten rein finden), so wird um-
gekehrt der Schatten fh rosenfarb, der Schatten ge grün
erscheinen.
Hierbei kann uns die Übereinstimmung mit jenen pris-
matischen Versuchen nicht entgehen, welche ich ander-
wärts vorgetragen. Dort fanden wir Blau und Gelb als
einfache Farben einander entgegengesetzt, ebenso Grün
und Pfirschblüt (besser Purpur) als zusammengesetzte Far-
ben, hier finden wir diese Gegensätze produktiv realisiert,
indem sich gedachte Farben wechselsweise erzeugen; und
VON DEN FARBIGEN SCHATTEN 365
wir dürfen hoffen, daß, wenn wir einmal die große Masse
der Versuche, die uns Farben bei Gelegenheit der Beu-
gung, Zurückstrahlung und Brechung zeigen, geordnet vor
uns sehen, die Lehre von den farbigen Schatten sich an
jene unmittelbar anschließen und zu ihrer Erläuterung und
Aufklärung vieles beitragen werde.
Denn unter den apparenten Farben sind die farbigen
Schatten deshalb äußerst merkwürdig, weil wir sie un-
mittelbar vor uns sehen, weil hier die Wirkung geschieht,
ohne daß die dazwischengestellten Körper von dem min-
desten Einfluß seien. Deswegen ist das Gesetz, das wir
gefunden haben, auch nur allgemein ausgesprochne Er-
fahrung. So ziehen wir denn auch noch aus den letzten
Versuchen folgendes Resultat.
5. Auch beim Wider- und Durchscheinen wirken die
Farben nicht als Farben, sondern als Energien, ebenso
wie wir oben gesehen haben, daß das unmittelbare Licht
seine Kraft äußert unabhängig von der Farbe, die man
ihm allenfalls zuschreiben könnte.
Wir sehen in diesen Wirkungen eine auffallend schöne
Konsequenz. Denn wenn oben die farbigen Schatten durch
eine vermehrte oder verminderte Energie des Lichts her-
vorgebracht wurden, so haben wir gegenwärtig farbige,
jenen Schatten korrespondierende Gläser und Flächen,
durch welche das Licht zwar gefärbt durchgeht, von wel-
chen es gefärbt widerstrahlt und, auch so determiniert
nicht als Farbe sondern als Kraft, verhältnismäßig gegen
ein andres ihm entgegengesetztes Licht wirkt.
Erregt, wie ich hoffe, dieser Aufsatz bei Liebhabern der
Xaturlehre einiges Interesse, wird das Vorgetragne be-
stätigt oder bestritten, so wird künftig diese Materie be-
stimmter, umständlicher, methodischer und sichrer ab-
gehandelt werden können. Ohne Vorzeigung der Experi-
mente, ohne mündlichen Vortrag ist es schwer, eine so
zarte und komplizierte Lehre deuthch zu machen.
Zu leichterer Übersicht füge ich das Schema der ange-
stellten Versuche noch bei; man sieht, wie sehr sie zu
vermannigfaltigen sind.
366
CHROMATIK
Schema der vorgetragnen Versuche*
Herrschendes Licht Subordiniertes Licht
A B
wechselsweise auf die entgegengesetzten Schatten
wirkend, machen sie farbig.
Schatten von B geworfen, Schatten von A geworfen,
von A erleuchtet sind gelb,
gelbrot, braunrot.
1. Kerzenlicht.
2. Mauerwiderschein.
3 . Auf- oder untergehende
Sonne.
4. Hohe Sonne.
5. Kerzenlicht.
6. Kerzenhcht.
7. Kerzenlicht.
8. Glühende Kohlen.
9. Kerzenlicht durch gelb
Glas.
10. Kerzenlicht.
11. Kerzenlicht durch gelb
Glas.
12. Kerzenlicht durch hell-
blau Glas.
13. Widerschein von weiß
Papier.
14. Widerschein von gelb
Papier.
15. Widerschein von hell-
blau Papier.
16. Himmelslicht.
von B erleuchtet sind blau,
unter Umständen grünlich.
Gemäßigtes Tagslicht.
Gemäßigtes Tagslicht.
Heitrer Himmel.
Duftiger Himmel,
erscheint der blaue Schat-
ten allein.
Heitrer Himmel.
Vollmondschein.
Mauerwiderschein.
Kerzenlicht.
Kerzenlicht.
Kerzenlicht durch hellblau
Glas.
Gemäßigtes Tageslicht.
Gemäßigtes Tageslicht.
Himmelslicht.
Himmelslicht.
Himmelslicht.
Widerschein von
blau Papier.
dunkel -
1 Der 17. und 18. Versuch sind von Goethe nicht mit aufgenommen.
VON DEN FARBIGEN SCHATTEN 367
Von den Meinungen der Naturforscher über die Ent-
stehung der farbigen Schatten sind mir folgende bekannt,
die ich nur kürzHch anführe, und wünsche, daß ein Lieb-
haber der Naturlehre sie umständlicher auseinandersetzte
und meinen Vortrag in Vergleichung damit brächte. Es
würde sich alsdann zeigen, ob sich nunmehr die öfters
beobachteten Phänomene besser ordnen, die von jenen
Beobachtern angegebnen Umstände beurteilen oder sup-
pheren, die notwendigen Bedingungen von zufälligen Ne-
benereignissen absondern lassen.
Von der Reflexion der Farbe des reinen Himmels schreibt
die blauen Schatten Leonard da Vinci her.* Nach ihm
mehrere. J/^ra;/** nimmt als ungezweifelt an, daß die ge-
färbten Schatten durch den Widerschein der Wolken oder
Dünste bewirkt werden.
Aus €\x\tx gewissen Beschaffenheit der Luft und der atmo-
sphärischen Dünste erklären die blauen Schatten Melville
und Bouguer.***
Dem Winkel ^ts einfallenden Lichts, der Länge des Schat-
tens, der i^zV/^/«»^ der beschatteten Fläche gegen die Sonne
scheint Beguelin einigen Einfluß zuzuschreiben.****
Eine Vermutung, daß die Eigenschaften der umgebenden
Körper Ursache an der verschiednen Schattenfarbe sein
können, hegte Wilkens.\
Von einer Verminderung des Lichts und der mehr oder
wenigem Lebhaftigkeit, womit die Lichtstrahlen aufs Auge
wirken, glaubt Mazhis die gelb- und blauen Schatten her-
leiten zu können. ff
Für eine Mischung von Licht und Schatten hält Otto von
Guericke den blauen Schatten, wie auch die blaue Farbe
des Himmels. f ff
Bei dieser letzten Meinung merke ich nur an, wie sehr
die würdigen älteren Beobachter sich der richtigen Er-
klärung dieser Phänomene genähert. Sie hielten die Far-
* In seinem Traktat über die Malerkunst. — ** In seinen Ent-
deckungen über das Licht. Weigels Übersetzung p. 134. —
*** Pricstlcy, Geschichte der Optik. Klügels Übersetzung p. 329.
- **** Ebendaselbst p. 330. — + Journal der Physik 7, Bandes
I. Heft p. 21. — ff Mim. de fAcad. de Berlin des Jahrs 1752
;.;weiter Band p. 260. — fff Pritstley, p. 328.
368 CHROMATIK
ben*, besonders die blaue, für eine Mischung von Licht
und Finsternis; auch nach unsern Versuchen entsteht die
Farbe aus einer Wirkung des Lichts auf den Schatten,
aus einer Wechselwirkung, die Leben und Reiz auch dahin
verbreitet, wo wir sonst nur Negation, Abwesenheit des
erfreulichen Lichts zu sehen glaubten.
Kircher ssigi im allgemeinen color, lumen opacatum. Könnte
man einen angemeßnern Ausdruck für die farbigen Schat-
ten finden? Ja, wollte man die Benennung lumen opcuatum
dem gelben Schatten zueignen, so würden wir den ent-
gegengesetzten blauen Schatten gar wohl mit umbra illu-
minata bezeichnen können, weil in jenem das Wirkende,
in diesem das Leidende prävaliert und der wechselwir-
kende Gegensatz sich durch eine solche Terminologie ge-
wissermaßen ausdrücken heße.**
Doch was sind Worte gegen die großen und herrlichen
Wirkungen der Natur? Diese wollen wir so viel uns mög-
lich ist getreu beobachten, genau beschreiben und natür-
lich ordnen, so werden wir Nahrung genug für unsern
Geist finden. Worte entzweien, der Sinn vereinigt die
Gemüter.
Zum Schlüsse noch einige Anmerkungen und Anwen-
dungen der vorgelegten Resultate auf besondere Fälle.
Wir bedienen uns zu unsern Versuchen am bequemsten
einer starken Pappe von der Größe einer gewöhnlichen
Spielkarte, wir schneiden in selbige ein zirkelrundes oder
vierecktes Loch und bringen ein weißes Papier unter das-
selbige, wir richten die Ränder des Ausschnitts gegen die
verschiednen Lichter, wie die beigefügten Figuren an-
zeigen, und rücken so lange, bis wir die farbigen Schatten
auf dem weißen Papier entstehen sehen. Sie zeichnen sich
besonders schön aus, wenn das Auge sich hinter dem
Papiere befindet.
Wir können uns auch eines länglichen Körpers, z. B. eines
starken Bleistifts bedienen und solchen zwischen die bei-
den Lichter aufstellen, da sich denn zu beiden Seiten die
* Joh. Casp. Funccii Über de coloribus codi. Ulmae 17 16. — ** Der
sehr verschrieene Gauthier war auf diesem Wege. Wir wollen auf
jede Vorstellungs-Art aufmerksam sein.
VON DEN FARBIGEN SCHATTEN 369
farbigen Schatten sehr gut zeigen. Bei allen gedachten
Versuchen, besonders aber bei den zarteren, nehme man
das reinste weiße Papier, das womöghch weder ins Gelbe
noch ins Blaue fällt. Denn es ist schon oben bemerkt, daß
wir weit mehr farbige Schatten sehen würden, wenn sie
jederzeit auf eine weiße Fläche fielen. Denn nicht ge-
rechnet, daß jeder auf eine weiße Fläche fallender Schat-
ten schon an und für sich heller ist und also der entgegen-
gesetzten Lichtenergie ihre Wirkung früher zu äußern
erlaubt, so zeichnet er sich auch auf derselben am rein^
sten und ist von aller Beimischung irgendeiner Lokalfarbe
völhg befreit. Eine weiße Fläche als völlig rein und farb-
los kann für den Probierstein aller Farben gelten.
Deswegen werden wir in der Natur mehrgedachte Phä-
nomene an weißen Gebäuden und auf dem Schnee gewahr.
Auf dem Schnee sind die Schatten, welche die Sonne
verursacht jederzeit blau, nur in dem Falle, wenn die
Sonne purpurfarb untergeht, sind sie grün. Es entstehen
auch in diesem letzten Falle purpurfarbene Schatten an
der Sonnenseite, wenn die entgegengesetzte Himmels-
seite so rein und wirksam ist wie bei dem dritten Ver-
suche, daß sie die Schatten der Körper dem geschwächten
Sonnenlichte entgegenwerfen kann. Sie sind aber selten
und werden noch seltner bemerkt, weilmansie dem Wider-
schein der Sonnenfarbe zuschreibt.
Ich führe noch eine Erfahrung eines aufmerksamen Natur-
forschers an und suche sie aus dem Vorhergehenden zu
erklären.
Es ist erst gesagt worden, daß sich die blauen Schatten
nirgends lebhafter zeigen als auf dem Schnee, und doch
beobachtete de Saussure, als er von dem Mont-Blanc
herabstieg, die ?)ch2i\.iex\ färb los. Es war mir diese Beobach-
tung, als ich sie zum erstenmal las, um desto auffallender,
als ich die farbigen Schatten auf dem Schnee der hohen
Berge selbst beobachtet hatte. An der Richtigkeit der Be-
obachtung konnte bei so einem Manne nicht gezweifelt
werden, dessen Scharfbhck sich soeben an den Schat-
tierungen des blauen Himmels geübt hatte. Wäre der
Schatten nur im mindesten farbig gewesen, so würde er
I lOETHE XVII 24.
37° CHROMATIK
es entdeckt und verglichen haben. Diesen anscheinenden
Widerspruch glaub ich durch die Betrachtung der ob-
waltenden Umstände erklären zu können.
Es ist bekannt, daß der Himmel immer dunkler blau er-
scheint, je höher wir uns über den niedern Dunstkreis er-
heben. De Saussure hatte die Farbe des Himmels auf dem
Mont-Blanc genau zu bestimmen einige Schattierungen
blau Papier mitgenommen. Er fand den Himmel hoch
königsblau. Daraus folgt, daß er kein Licht auf den Berg
herabschickte, welches dem Sonnenhchte das Gegenge-
wicht gehalten und die blaue Farbe im Schatten erzeugt
hätte. Da wir nun oben gesehen haben, daß der Himmel
in den Schatten die blaue Farbe nicht erzeugt, insofern er
blau ist, sondern insofern er Licht ausstrahlt, das einem
andern Lichte das Gegengewicht hält, so werden wir auch
dieses Phänomen uns zu erklären und an seinen rechten
Ort zu stellen wissen.
Wie sehr übrigens diese theoretische Bemühungen dem
Landschaftsmaler zu Hülfe kommen, welcher nur dann
einen hohen Grad seiner Kunst erreicht, wenn er durch
Verbindung dieser himmhschen Phänomene mit den Ge-
stalten und Farben der irdischen Gegenstände eine Zau-
berwelt erschafft, welcher niemand die Wahrheit ableug-
nen kann, wird sich in der Folge näher ergeben, wenn wir
einen größern Umfang bearbeitet haben und alsdann das-
jenige sich aussondern läßt, was für den Künstler beson-
ders brauchbar ist.
VON DEN FARBIGEN SCHATTEN 37 1
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VERSUCH, DIE ELEMENTE
DER FARBENLEHRE ZU ENTDECKEN
[Handschriftlich. Wahrscheinlich Ende 1793]
Arduum sane est hoc negotium, in quo plura
esse existimo,quae sub occultioribus caussis
latent, quam quae sciuntur; pluraque quae
dubitationem quam quae cognitionem pa-
riant. Agiiilonius.
Von weißen, schwarzen, grauen Körpern
und Flächen
1. T"^ S scheint nichts leichter zu sein, als sich deutlich
|-H zu machen, was man eigentlich untei JVeiß verstehe,
X /und sich darüber mit andern zu vereinigen, und
doch ist es außerordenthch schwer, aus Ursachen, welche
nur nach und nach entwickelt und erst am Ende dieser
kleinen Abhandlung völlig ins klare gesetzt werden kön-
nen. Ich erbitte mir eine parteilose Aufmerksamkeit für
die Methode und den Gang meines Vortrags.
2. Wir nehmen zuerst einen durchsichtigen^ farblosen Kör-
per, z. B. das Wasser, vor uns, und wir bemerken (die Re-
fraktion abgerechnet), daß wir durch eine gewisse Masse
desselben die Gegenstände ihrer Gestalt und Farbe nach
deutlich erkennen, so daß ein Körper auf seinem höchsten
Grade der Durchsichtigkeit für das Auge gleichsam kein
Körper mehr ist und nur durch das Gefühl entdeckt wer-
den kann.
3. Es gehe nun das reinste Wasser in seinen kleinsten Tei-
len in Festigkeit und zugleich Undurchsichtigkeit über, und
wir werden sodann den Schnee haben, dessen Anhäufung
uns die reinste Fläche darstellt, welche uns nunmehr einen
vollkommenen und unzerstörlichenBegriflfdes Weißen gibt.
Ebenso verwandeln sich durchsichtige Kristalle, z. B. des
Glauberischen Wundersalzes, wenn ihnen ihr Kristalli-
sationswasser entgeht, in ein blendend weißes Pulver.
4. Diese Körper gehen nun unter veränderten Umständen
aus dem weißen undurchsichtigen Zustande in den Zustand
der farblosen Durchsichtigkeit wieder zurück. So leiten wir
die weißen Körper von den durchsichtigen farblosen ab, wir
führen sie zur Durchsichtigkeit wieder zurück, und diese un-
mittelbare Verwandtschaft, diese Rückkehr in den durch-
sichtigen Zustand ist aller unserer Aufmerksamkeit wert.
DIE ELEMENTE DER FARBENLEHRE 373
5. Außer denen weißen Körpern, welche wir aus durch-
sichtigen entstehen und wieder in solche übergehen sehen,
gibt es ihrer viele, welche in den weißen Zustand versetzt
werden können, teils durch Wasser, Licht und Luft, welche
Operation \v'\x Bleie he?i nennen, wodurch alle Teile, die wir
nur einigermaßen farbig nennen können, aus ihnen aus-
gezogen und abgesondert werden, teils durch heftig wir-
kende Mittel, wodurch eine ähnliche Operation vor sich
geht.
6. Alle diese Wirkungen, wovon der Chemiker nähere
Rechenschaft zu geben hat, bringen einen Effekt hervor,
der uns zugleich mit dem Begriff vom Weißen den Begriff
von unbedingter Reinheit und Einfachheit eindrückt, so daß
wir auch im Sittlichen den Begriff von Weiß mit dem Be-
griff von Einfalt, Unschuld, Reinheit verbunden haben.
7. Das Weiße hat die größte Empfindlichkeit gegen das Licht ^
eine Eigenschaft, welche von den Naturforschern genugsam
bemerkt und auf verschiedene Art bestimmt und ausge-
druckt worden ist. Uns sei genug, hier anzuführen, daß
eine weiße Fläche (worunter wir künftig diejenige ver-
stehen, welche dem frischgefallenen Schnee am nächsten
kommt) unter allen andern Flächen, sie mögen grau, schwarz
oder farbig sein, wenn solche neben ihr einem gleichen Lichte
ausgesetzt sind, die hellste ist, dergestalt daß ihr Eindruck
auf das Auge in der finstersten Nacht noch sichtbar bleibt
oder doch am letzten verschwindet.
8. Eine gleiche Empfindlichkeit hat das Weiße gegen alle
Berührung anderer abfärbefiderKöx^&x, sie mögen schwarz,
grau oder sonst farbig sein. Der mindeste Strich, der min-
deste Flecken wird auf dem Weißen bemerkt. Alles, was
nicht weiß ist, zeigt sich im Augenblicke auf dem Weißen,
und es bleibt also der Probierstein für alle übrigen Farben
und Schattierungen.
9. Wenn wir nun dagegen das Schwarze aufsuchen, so
können wir solches nicht wie das Weiße herleiten. Wir
suchen und finden es als einen festen Körper, und zwar
am häufigsten als einen solchen, mit dem eine Halbver-
brennung vorgegangen. Die Kohle ist dieser merkwürdige
Körper, der uns diesen I^egrift' am strengsten gewährt.
374 CHROMATIK
10. Versetzen wir nun durch irgendeine chemische Ope-
ration einen erst durchsichtigen Liquor in den Zustand,
daß wir ihn schwarz nennen, so finden wir, statt daß das
Weiße in Durchsichtigkeit überging, gerade die entgegen-
gesetzte Eigenschaft. Man kann einen schwarzen Liquor
verfertigen, der nicht trüb, sondern in kleinen Massen
durchsichtig genug ist, aber er wird einen weißen Gegen-
stand, den wir durch ihn anblicken, verdunkeln. Sobald
die Masse einigermaßen verstärkt wird, läßt er kein Bild,
kein Licht mehr hindurch.
1 1 . So ist auch die Eigenschaft einer schwarzen Fläche eine
gänzliche Unempfindlichkeit gegen das Licht.
Ein schwarzer Körper macht zwar, um mit den Alten zu
reden, so gut die Grenze des Lichts als ein anderer {ter-
7ninat lucem). Die Lichtstrahlen kehren auch von dem-
selbigen in unser Auge zurück: denn wir sehen einen schwar-
zenKörper so gut als einen andern. Wenn sieaber von einem
weißen Körper in der größten Energie zurückkehren, so
kehren sie von einem schwarzen mit der geringsten Energie
zurück. So ist denn auch ein schwarzer Körper unter allen
denjenigen, die neben ihm einem gleichen Lichte ausgesetzt
werden, diGX dunkelste, und der Eindruckdesselben aufs Auge
verschwindet bei sukzessiver Verminderung des Lichtes am
geschwindesten.
1 2 . Nehmen wir nun irgend zwei Körper, die wir für schwarz
und weiß erkennen, und mischen sie aufs feinste gerieben
untereinander, so nennen wir das daraus entstehende Pul-
ver grau. Haben wir nun vorher gesehen, daß Schwarz und
Weiß die strengsten Gegensätze sind, die wir vielleicht
kennen, daß Schwarz und Weiß in ihrem höchsten und
reinsten Zustande gedacht und dargestellt werden können,
so ist offenbar, da wir nun den Zustand eines Körpers,
der aus beiden gemischt ist, Grau nennen, daß das Schwarze
und das Weiße aus dem Grauen gesondert werden, niemals
aber aus dem Grauen entstehen könne. Denn wenn z. B.
die Kreide von dem Magnet angezogen würde, so könnte
man sie mit leichter Mühe von der Kohle separieren, und
beidePulver würden nunmehr nebeneinanderinihrer höch-
sten Reinheit sich befinden. Wenn ich eine graue Leinwand
DIE ELEMENTE DER FARBENLEHRE 375
auf die Bleiche bringe, so entsteht nicht das Weiße aus dem
Grauen, sondern die Leinwand wird weiß, w^enn alle die
fremden, feinen, dem Pfianzenstoff anhängenden f?j:bigen
oder graulichen Teile durch Wasser, Licht und Luft hin-
weggenommen und die leinenen Fäden in der höchsten
Reinheit dargestellt werden.
13. Das Graue muß also die notwendige Eigenschaft haben,
daß ^% heller als Schwarz und dunkler als ^ifz/^ sei. Weiß und
Schwarz sind nicht die äußersten Enden eines Zustandes,
den wir grau nennen, sondern Grau entsteht aus Ver-
mischung oder Verbindung jener beiden Gegensätze.
14. Man vergleicht also billig das Weiße mit dem Lichte,
weil es das Hellste ist, was wir kennen, und das Schwarze
mit der Finsternis, weil uns nichts Dunkleres bekannt ist,
das Graue mit dem Schatten, der, solange keine völlige Be-
raubung des Lichts vorgeht, gewöhnlich grau erscheint.
15. Es ist hier der Ort, zu bemerken: daß eine Vermin-
derung des Lichtes, welchem eine Fläche ausgesetzt ist,
oder eine Beschattung derselben, anzusehen ist als würde
die Fläche mehr oder weniger mit einer schwarzen durch-
sichtigen Tusche überstrichen, daraus denn ein Grau ent-
steht, wie wir es auch bei Zeichnungen nachahmen. Ein
weißes Papier, das im Schatten liegt, könnte gegen alles,
was neben ihm liegt, noch für weiß gelten; es ist aber in
diesem Zustande eigentlich grau und zeigt sich besonders
als ein solches gegen ein weißes Papier, das dem vollen
Lichte ausgesetzt ist. Ein schwarzer Körper, den man dem
vollen Lichte aussetzt, wird eigentlich grau, weil es einerlei
ist, ob man ihm mehr Licht gibt oder ihn mit einem weißen
Körper vermischt. DasWeiße kann ni e Schwarz, dasSchwar-
ze nie Weiß werden; sind sie im Grauen vermischt, so muß
dem Weißen erst der schwarze Teil, dem Schwarzen der
weiße Teil genommen werden, alsdann sind beide wieder
in ihrem reinen Zustande, und das Graue hört auf zu sein,
so wie der Knoten aufhört zu sein, wenn man die beiden
Enden des Bandes, aus denen er geknüpft war, wieder von-
einander löst.
16. Schließlich bemerke ich, daß wir alle Körper undPig-
mente, welche entweder weiß, schwarz oder grau sind,
376 CHROMATIK
farblos nennen, weil sie uns nur das Helle und Dunkle,
gleichsam in abstracto durch Anstrengen und Abspannen
des Auges ohne Nebenbegrifif, ohne ein Verhältnis gegen-
einander als das Verhältnis des strengsten Gegensatzes und
dtx gleic/igültigsten Vermtsc/iung darstellen. Weder Schwarz
noch Weiß für sich, noch nebeneinander, noch in Ver-
mischung lassen dem Auge die mindeste Spur jenes Reizes
empfinden, welchen uns farbige Flächen gewähren, so daß
vielmehr eine Fläche, auf welcher wir Schwarz, Weiß und
Grau verbunden sehen, das Traurigste ist, was wir nur er-
bhcken können. Wir gehen nun zu den Körpern und Flächen
über, welche wir eigentlich farbig nennen.
Von farbigen Flächen
17. Wir kennen nur zwei ganz reine Farben, welche, ohne
einen Nebeneindruck zu geben, ohne an etwas anders zu
erinnern, von uns wahrgenommen werden. Es sind
Gelb und Blau.
Sie stehen einander entgegen wie alle uns bekannte ent-
gegengesetzte Dinge oder Eigenschaften. Die reine Existenz
der einen schließt die reine Existenz der andern völlig aus.
Dennoch haben sie eine Neigung gegeneinander, als zwei
entgegengesetzte, aber nicht widersprechende Wesen. Jede
einzeln betrachtet macht einen bestimmten und höchst ver-
schiedenen Effekt, nebeneinander gestellt machen sie einen
angenehmen Eindruck aufs Auge, miteinander vermischt
befriedigen sie denBlick. Diese gemischte Farbe nennen wir
Grün.
Dieses Grün ist die Wirkung der beiden vermischten, aber
nicht vereinigten Farben, in vielen Fällen lassen sie sich
sondern und wieder zusammensetzen.
18. Wir kehren zurück und betrachten die beiden Farben
Gelb und Blau abermals in ihrem reinen Zustande und
finden, daß sie uns heller und dunkler ohne Veränderung
ihrer Eigenheit dargestellt werden können. Wir nehmen
z. B. rein aufgelöstes Gummi Gutta und streichen davon
auf ein Papier. Sobald es getrocknet, überstreichen wir
DIE ELEMENTE DER FARBENLEHRE 3 7 7
einen Teil zum zweitenmal usf., und wir finden, daß je
mehr Farbeteile das Papier bedecken, je dunkler die Farbe
wird. Eben diesen Versuch machen wir mit feingeriebe-
nem und deluiertem Berlinerblau.
19. Wir können zwar auch die helle Farbe dunkler er-
scheinen machen, wenn wir das Papier vorher mit einer
leichtern oder stärkern Tusche überziehen und dann die
Farbe darüber tragen; allein von der Vermischung der
Farben mit Schwarz und Weiß darf bei uns nicht die Rede
sein. Hier fragt sichs nur: sind die Farbenteile näher oder
entfernter beisammen, jedoch in völliger Reinheit? Die
schönsten Beispiele wird uns der Chemiker durch mehr
oder weniger gesättigte Tinkturen liefern.
20. Auf obgemeldete Weise verstärken wir aber die Farbe
nicht lange, so finden wir, daß sie sich noch auf eine andre
Art verändert, die wir nicht bloß durch dunkler ausdrücken
können. Das Blaue nämlich sowohl als das Gelbe nehmen
einen gewissen Schein an, der, ohne daß die Farbe heller
werde als vorher, sie lebhafter macht, ja man möchte bei-
nah sagen: sie ist wirksamer und doch dunkler. Wir nennen
diesen Effekt
Rot.
So ist ein reines trocknes Stück Gummi Gutta auf dem
frischen Bruch orangenfarb. Man lege es gegen ein Stück
Siegellack, das wir für schön Rot erkennen, und man wird
wenig Unterschied sehen. Blut mit Wasser vermischt er-
scheint uns gelb. Die Piatinaauflösung in Königswasser,
welche sehr verdünnt gelb erscheint, wird bei mehrerer
Sättigung mennigfarb. So schimmert das Berlinerblau, der
echte Indig auf dem Bruch ins Violette. Ich besitze einen
sehr konzentrierten Indig, dessen Bereitung mir unbekannt
ist, der in seinem trocknen Zustande beinah ins Kupfer-
rote fällt und das Wasser mit dem schönsten reinsten Blau
färbt.
2 1 . Rot nehmen wir also vorerst als keine eigene Farbe
an, sondern kennen es als eine Eigenschaft, welche dem
Gelben und Blauen zukommen kann. Rot steht weder dem
Blauen noch dem Gelben entgegen; es entsteht vielmehr
aus ihnen; es ist ein Zustand, in den sie versetzt werden
378 CHROMATIK
können, und zwar, wie wir hier vorläufig sehen, durch Ver-
dichtung und durch Aneinanderdrängung ihrer Teile.
2 2. Man nehme nun das Gelbrote und das Blaurote, bei-
des auf seiner höchsten Stufe und Reinheit, man vermische
beide, so wird eine Farbe entstehen, welche alle andern
an Pracht und zugleich an Lieblichkeit übertrifft; es ist der
Purpur,
der so viele Nuancen haben kann, als es Übergänge vom
Gelbroten zum Blauroten gibt. Die Vermischung geschieht
am reinsten und vollkommensten bei prismatischen Ver-
suchen, die Chemie wird uns die Übergänge sehr interessant
zeigen.
23. Wir kennen also nur folgende Farben und Verbin-
dungen:
Purpur
Gelbrot Blaurot
Gelb Blau
Grün
und stellen dieses Schema in einem Farbenkreise hier
neben vor.^
24. Wir kennen, wie oben schon gesagt, keine Verdunke-
lung dieser Farben durch Schwarz, welche immer zugleich
eine Beschmutzung mit sich führt und unnötig die Zahl
der Abstufungen vermehrt.
25. Wir enthalten uns gleichfalls der Vermischung mit
Weiß, obgleich diese unschuldiger ist und bei trockenen
Pigmenten ohngefähr das wäre, was das Zugießen des
Wassers bei farbigen Tinkturen ist.
26. Jene oben angezeigte, in unserm Schema aufgestellte
Farben erkennen wir für die einzigen reinen, welche exi-
stieren können. Sobald man verschränkte Vermischungen,
z. B. Purpur und Grün, Blaurot und Gelb, Gelbrot und Blau
vermischt, entstehen alsobald schmutzige Farben. DerMaler
bedient sich ihrer bei Nachahmung natürlicherGegenstände,
der Färber bei Hervorbringung der Modefarben.
27. Wir haben aber noch auf einen merkwürdigen Um-
^ Die Zeichnung fehlt.
DIE ELEMENTE DER FARBENLEHRE 379
stand achtzugeben. Sobald wir alle Farben des Schemas in
einer gewissen Proportion zusammenmischen, so entsteht
eine Unfarbe daraus. Man könnte dieses sich a priori S2igQn:
denn da die Farben eben dadurch Farben sind, daß sie be-
sondere Kriteria haben, die unser Auge unterscheidet, so
folgt, daß sie in einer solchen Vermischung, wo keines
dieser Kriterien hervorsticht, eine Unfarbe hervorbringen,
welche auf ein weißes Papier gestrichen uns völhg den
Begrifif von Grau gibt, wie uns ein darneben gestrichener
Fleck von Tusche überzeugen kann.
28. Alle Körper und Flächen nun, welche dergestalt mit
einfachen oder gemischten Farben erscheinen, haben die
Eigenschaft gemein, welche alle unsre Aufmerksamkeit
verdient: daß sie dunkler als Weiß und heller als Schwarz
sind und sich also von dieser Seite mit dem Grauen ver-
gleichen lassen.
29. Dieses zeigt sich aufs deutlichste, wenn wir abermals
zu den durchsichtigen Körpern zurückkehren. Man nehme
jedes reine Wasser in einer gläsernen Flasche oder in einem
Gefäße mit gläsernem Boden; man vermische mit dem
Wasser irgendeinen leicht aufzulösenden farbigen Körper,
so wird das daruntergelegte weiße Papier uns zwar einen
höchst anmutigen Eindruck machen, dabei aber schon bei
der geringsten Farberscheinung iiogleich dunkler als vor-
her aussehen. Wir können dieses Dunkle so weit treiben,
daß nach und nach durch mehrere Beimischung eines sol-
chen auf löslichen Farbenstofifes die Tinktur endlich völlig
undurchsichtig wird und kaum einen Schein der unter-
liegenden weißen Fläche oder eines andern Lichts durch-
läßt.
30. Diese Annäherung an das Schwarze, an das Undurch-
sichtige folgt natürhch aus der Eigenschaft der Farbe, daß
sie dunkler als Weiß ist, und daß sie durch Anhäufung
ihrer Masse zur Undurchsichtigkeit und zur Annäherung
an das Schwarze kann gebracht werden, obgleich eine
Farbe als solche, wie sich aus Begrififen derselben schon
herleiten und durch Versuche dartun läßt, so wenig Schwarz
als Weiß werden kann.
31. Da es von der höchsten Wichtigkeit ist, daß wir die
38o CHROMATIK
Erfahrung, alle farbige Flächen seien dunkleralsdie weißen,
die mit ihnen einem gleichen Licht ausgesetzt sind, recht
fassen, so bemerken wir nur, was an einem andern Orte
umständlicher auszuführen ist: daß die reizende Energie^
womit farbige Körper auf unsre Augen wirken, mit der
Helligkeit^ womit das Weiße auf das Auge wirkt, nicht zu
verwechseln sei. Eine orangefarbige Fläche neben einer
weißen wirkt gewaltsamer auf das Auge als jene, nicht weil
sie heller ist, sondern weil sie einen eignen Reiz besitzt,
da das Weiße uns heller, aber nur gleichgültig erscheint.
Von verschiedenen Wirkungen der Farben auf die Augen
und das Gemüt wird besonders zu handeln sein.
32. Man nehme zwei Flaschen von dem reinsten Glase,
man gieße in beide reines destilliertes Wasser, man bereite
sich nach dem oben angegebenen Schema farbige Tink-
turen, die sich chemisch nicht dekomponieren, sondern
sich friedlich vermischen, man tröpfle in eine von den
Flaschen gleich viel von jeder hinein, und man beobachte
das Phänomen, das entstehen wird. Das durchsichtige Wasser
wird gefärbt werden, wie die Liquoren hineinkommen, nach
den verschiedenen Mischungen wird die gemischte Farbe
erscheinen, ja man wird zuletzt ein unfärbiges Wasser un-
ter verschiedenenProportionenderLiquorenhervorbringen
können. Allein niemand wl^rd behaupten, daß dieses Wasser
nun so hell sei als das in der Flasche, in welche keine far-
bige Liquoren eingetröpfelt worden. Was hat man also
getan? Solange man harmonische Tinkturen hineingoß,
hat man das Wasser gefärbt^ und da man widersprechende
Farben hineinbrachte, hat man das Wasser beschmutzt; man
hat ihm eine Unfarbe mitgeteilt, man hat ihm aber von
seiner Hellung und, wenn ich so sagen darf, von seiner
spezifischen Durchsichtigkeit genommen. Dieses wird um
so deutlicher, wenn die Dose der Farben, welche man in
das Wasser eintröpfelt, verstärkt wird, wo man bald eine
dunkelgraue oder bräunliche, in geringer Masse schon un-
durchsichtige Tinktur erhalten wird. Man denke sich nun
dieses dergestalt gefärbte Wasser in Schnee verwandelt; so
wird man schwerlich behaupten, daß er so weiß als der
natürliche werden könne.
DIE ELEMENTE DER FARBENLEHRE 381
33. Wir haben oben schon dieWirkung derFarbenmischung
gesehen und können auch nun hier daraus folgern und
weitergehen. Alle Farben zusammengemischt bringen eine
Unfarbe hervor, die so temperiert werden kann, daß sie uns
den Eindruck von Grau, den Eindruck eines farblosen
Schattens macht, welchernur immer dunkler wird, \& reiner
man farbige Pigmente und in je verstärkterm Grade man
sie genommen.
34. Diese Unfarbe aber muß jederzeit dunkler als Weiß
und heller als Schwarz sein: denn da jede einzelne Farbe
eben diese Eigenschaft mit dem Grauen gemein hat, so
können sie solche, untereinander gemischt, nicht verlieren,
sondern sämtliche Farben, welche die Eigenschaft eines
Schattens haben, müssen, wenn durch Vermischung die
Kriterien aufgehoben werden, die Eigenschaft eines farb-
losen Schattens annehmen. Dieses zeigt sich uns unter jeder
Bedingung, unter allen Umständen wahr.
35. Man mag die Farben unsres Schemas als Pulver oder
naß durcheinander mischen, so werden sie, auf ein weißes
Papier gebracht, unter jedem Lichte dunkler erscheinen als
das Papier; man mag unser Si^hema auf ein Schwungrad
anbringen und die Scheibe nunmehr mit Gewalt umdrehen,
so wird der vorher durch verschiedene Farben sich aus-
zeichnende Ring grau, dunkler als das Weiße und heller
als das Schwarze erscheinen. (Welches man am deuthch-
sten sehen kann, wenn man die Mitte weiß läßt und einen
schwarzen Kranz außen um das Schema zieht.) So viele
tausend Maler haben ihre Paletten so oft geputzt, und kei-
nem ist es je gelungen, noch wird ihm gelingen, durch
die Vermischung aller Farben ein reines Weiß hervorzu-
bringen; viele tausend Färber haben oft alle Arten von
Farbenbrühen zusammengegossen, und niemals ist das hin-
eingetauchte Tuch weiß hervorgezogen worden. Ja ich darf
dreist sagen, man erdenke sich Versuche von welcher Art
man wolle, so wird man niemals imstande sein, aus farbigen
Pigmenten ein weißes Pigment zusammenzusetzen, das
neben oder auf vollkommen reinem Schnee oder Puder
nicht grau oder bräunlich erschiene.
382 CHROMATIK
Übergang zur Streitfrage
36. Hier könnten wir die gegenwärtige Abhandlung schlie-
ßen, weil uns nichts übrig zu sein scheint, was in der
Reihe dieser Darstellungen noch weiter abginge, wenn
uns nicht die Frage aufgeworfen werden könnte: woher
denn nur die Idee, ein weißes Pigment aus farbigen Pig-
menten zusammenzusetzen, ihren Ursprung genommen
habe? Wir geben davon folgende Rechenschaft.
37. Newton glaubte aus den farbigen Phänomenen, welche
wir bei der Refraktion unter gewissen Bedingungen gewahr
werden, folgern zu müssen, daß das farblose Licht aus
mehreren farbigen Lichtern zusammengesetzt sei; er glaubte
es beweisen zu können. Seinem Scharfsinn blieb nicht ver-
borgen, daß, wenn dieses wahr sei, auch wahr sein müsse,
daß Weiß aus farbigen Pigmenten zusammengesetzt wer-
den könnte. Er sagt daher*: '■'^ Die weiße und alle graue
Farben zwischen Weiß und Schwarz können aus Farben zu-
sammengesetzt werdend
38. Wer meiner obigen Ausführung mit Aufmerksamkeit
gefolgt ist, wird sogleich einsehen, daß diese Proposition
nicht rein und richtig ausgesprochen ist. Denn es ist zwar
der Erfahrung gemäß, es kann durch viele Versuche dar-
gestellt werden, daß aus Vermischung aller Farben ein
Grau hervorgebracht werden könne. Es ist auch nichts
natürlicher, als daß es von uns abhänge, dieses Grau so
hell zu machen, als es uns behebt. Allein es folgt aus dem
Begriff des Grauen selbst, daß Grau niemals Weiß werden,
daß Grau nicht mit dem Weißen auf diese Art verglichen
werden könne. Analysiert man jene Proposition, so heißt
sie: Das Weiße in seinem ganz reinen Zustande, sowie im
Zustande, wenn es mit Schwarz gemischt ist, kann aus
allen Farben zusammengesetzt werden. Das letzte leugnet
niemand, das erste ist unmöglich. Wir wollen nun sehen,
was sein Experiment beweist.
39. Ehe Newton dasselbe vorträgt, präludiert er schon:
daß alle farbige Pulver einen großen Teil des Lichtes,
von dem sie erleuchtet werden, in sich schlucken und aus-
* Opt. prop. V. Theorem. IV. Libr. I. Part. II,
DTE ELEMENTE DER FARBENLEHRE 383
löschen, er gibt davon eine Ursache an, die er aus pris-
matischen Versuchen herleitet. Was er daraus folgert, setze
ich mit seinen eigenen Worten hierher. "Deswegen ist nicht
zu erwarten, daß aus der Vermischung solcher Pulver eine
helle und leuchtende Weiße entstehen könne, wie die Weiße
des Papiers ist, sondern eine dunkle und trübe Weiße ^ wie aus
der Vermischung des Lichts und der Finsternis oder aus
Schwarz und Weiß entstehen mag: nämlich eine graue oder
dunkle Mittelfarbe wie die Farbe der Nägel, dex Asche, der
Steine, des Mörtels, des Kotes und dergleichen, und eine
solche weißlich- dunkle Farbe habe ich aus farbigen unter-
einandergemischten Pulvern öfters hervorgebracht."*
40. Man sieht aus diesen Worten ganz deuthch, daß er
nichts anders beweist, als was wir schon zugegeben haben,
daß nämlich Grau aus Mischung aller Farben entstehen
könne. Denn wer sieht nicht, daß das Wort Weiß hier
ganz willkürlich gebraucht wird und eigentlich ganz un-
nütz und überflüssig dasteht. Ja, ich darf kühnlich fragen,
welchem Beobachter und Theoristen unsrer Zeit man er-
lauben würde zu sagen: weiß wie Asche, Mörtelund Kot'i
41. Ich übergehe daher die Erzählung, wie Newton aus
Mennige, Grünspan, Bergblau und Karmin ein Kotweiß
zusammengemischt hat. Ich bemerke nur: daß die meisten
dieser Pigmente, besonders trocken gerieben, eine grau-
liche mehlige Eigenschaft an sich haben. Jeder, der Lust
hat, dergleichen Pigmente durcheinander zu reiben, wird
es gar leicht dahinbringen, sich ein Pulver zu verschaffen,
das er mit der Asche vergleichen kann.
42. Da er nun also bis dahin nur den einen Teil seiner
Proposition bewiesen, daß nämlich Grau aus allen Farben
zusammengesetzt werden könne, welches aber in der Reihe
seiner Demonstration von keiner Bedeutung, von keinem
Gewicht gewesen wäre, so muß er, da er Weiß nicht aus
den Farben zusammensetzen kann, wenigstens das zu-
* Hoc certum est, quicquid in contrariam sententiam afterat New-
tonus, colorum rubri, flavi et coerulei mixtione nee lucem nee co-
lorem generari album, sed omnis generis fuscos, badios, rufos, glau-
coä, cinereos; prout plus ex uno quam ex altero simplicium parti-
cipant. Mayer, de affinitate colorum § 8.
384 CHROMATIK
sammengesetzte Grau weiß zu machen suchen. Dieses zu
erreichen nimmt er folgende Wendung. "Es können auch",
fährt er fort, "diese dunklen oder graulichen Mittelfarben
(hier ist das Wort weiß weggelassen, da es doch in der
Proposition steht, auch bisher immer gebraucht worden;
allein der Widerspruch wäre zu ofienbar) aus Weiß und
Schwarz in verschiedenen Mischungen hervorgebracht wer-
den, und folglich sind sie von den wirklichen weißen nicht
der Art der Farbe nach, sondern nur im Grade der Hellung
verschieden, und damit sie gänzlich weiß werden, wird
nichts weiter erfordert, als daß ihr Licht vermehrt werde.
Wenn nun also diese Farben nur durch Vermehrung des
Lichts zu einer vollkommenen Weiße gebracht werden
können, so folgt daraus, daß sie von derselben Art seien
wie die besten Weißen^ und von ihnen in nichts unter-
schieden sind als bloß in der Menge des Lichts."
43. Ich rufe eine unparteiische Kritik zur Beurteilung
dieser Wendung auf, hier ist Newton selbst genötiget,
Schwarz und Weiß als zwei entgegengesetzte Körper an-
zunehmen. Aus diesen mischt er ein Grau zusammen, und
dieses Grau will er wieder nur durch ein verstärktes Licht
zu Weiß machen. Wird er denn jemals auch durch das
verstärkteste Licht das Weiße, z. B. die Kreide, wieder
so weiß machen als sie war, ehe sie mit dem Schwarzen,
z. B. mit der Kohle, gemischt war, und fällt das Falsche
dieser Behauptung nicht gleich in die Augen, sobald das
Grau aus mehr Schwarz als Weiß gemischt ist? Wir wollen
nun sehen, wie er auch diese Assertion zu beweisen ge-
denkt.
44. Er nimmt ein hellgraues Pulver und legt es in die
Sonne, legt nicht weit davon ein weißes Papier in den
Schatten, vergleicht beide miteinander, und da, besonders
wenn man sie von ferne betrachtet, beide einen gleichen
Eindruck auf das Auge machen, so folgert er daraus, das
graue Pulver sei nun durch das vermehrte Licht weiß ge-
worden. Auch hier wird man ohne scharfsinnige Unter-
suchung leicht bemerken, daß das hellgraue Pulver nicht
dadurch weiß geworden, daß man es dem Sonnenlichte
ausgesetzt, sondern daß das weiße Papier grau geworden.
DIE ELEMENTE DER FARBENLEHRE 385
weil man es in den Schatten gelegt, und daß man also hier
eigentlich nur Grau und Grau vergleiche. Ich habe oben
jederzeit bemerkt und drauf bestanden, daß farbige und
farblose Körper, wenn man sie in Absicht auf Hell und
Dunkel vergleichen will, beide einem gleichen Grade von
He /iung ausgesetzt werden müssen. Und folgt nicht dieses
aus der Natur der Vergleichung selbst? ja wo würde jemals
etwas vergleichbar oder meßbar sein, wenn man so ver-
fahren wollte: Wenn ein Mann sich gegen ein Kind bückt
oder das Kind auf den Tisch hebt, wird nun gesagt werden
können: eins sei so groß als das andrer Heißt das messen,
wenn man die Kriterien des Unterschieds gegeneinander
aufhebt?
45. Ich artikuHere also hier wiederholt, daß die Newto-
nische Proposition falsch und kaptiös gestellt, auch von
ihm keinesweges durch Experimente erwiesen worden,
ja daß vielmehr seine Experimente sowohl als seine dür-
ren Worte beweisen: daß aus farbigen Pigmenten ebenso
wie aus Weiß und Schwarz nur ein Grau zusammengesetzt
werden könne, das mit dem reinen Weißen, wie es uns
sehr viele Körper darstellen, unter einerlei Hellung ver-
glichen, jeder Zeit dunkler als dasselbe erscheint, wie es
unter eben dieser Bedingung gegen Schwarz jederzeit hel-
ler erscheinen muß. Es gründet sich diese Behauptung
auf die Begriffe der Dinge selbst, mit denen wir umgehen,
auf mehrere übereinstimmende Erfahrungen. Sie fließt
aus einem, wie mir dünkt, ganz natürlichen Räsonnement
her, und mir bleibt weiter nichts übrig, als sie einer schar-
fen Prüfung zu überlassen.
Rekapitulation
Von weißen^ schwarzen^ grauen Körpern und Flächen
1. Schwierigkeit, sich zu erklären und zu vereinigen, was
man unter Weiß verstehe.
2. Der Vortrag fängt mit Betrachtung einiger Eigenschaf-
ten der durchsichtigen farblosen Körper an.
3. Ein solcher Körper, der in seinen kleinsten Teilen in
Undurchsichtigkeit übergeht, wird weiß.
COETHE XVII 25.
386 CHROMATIK
4. Ein solcher Körper kann wieder in den Zustand der
farblosen Durchsichtigkeit zurückgeführt werden.
5. Viele Körper werden weiß, indem man sie bleicht.
6. Alle weiße Körper geben uns einen Begriff von Rein-
heit und Einfachheit.
7. Das Weiße hat die größte Empfindlichkeit gegen das
Licht. Eine weiße Fläche ist die hellste unter allen, die
mit ihr einem gleichen Lichte ausgesetzt sind.
8. Das Weiße ist gegen alle Berührung anderer abfärben-
der Körper sehr empfindlich.
9. Das Schwarze kann nicht wie das Weiße hergeleitet
werden. Es wird uns als ein fester undurchsichtiger Kör-
per bekannt.
I o. Ein schwarzer klarer Liquor ist in geringer Masse un-
durchsichtig.
1 1 . Eine schwarze Fläche ist die unempfindlichste gegen
das Licht und die dunkelste aller, die neben ihr einer
gleichen Hellung ausgesetzt werden.
1 2 . Aus dem Schwarzen und Weißen entsteht das Graue.
13. Das Graue hat die Eigenschaft, heller als Schwarz und
dunkler als Weiß zu sein.
14. Man vergleicht das Weiße mitdemZ/V>^/(?, das Schwarze
mit der Finsternis und das Graue mit dem Schatten.
15. Wenn man eine weiße Fläche in den Schatten legt
oder sie mehr oder weniger mit Tusche überstreicht, bringt
man einerlei Effekt hervor; sie scheint oder wird dadurch
grau.
i6. Alle Körper und Pigmente, welche schwarz, weiß oder
grau sind, werden färb los genannt.
Von farbigen Flächen
17. Wir kennen nur zwei Grundfarben, Gelb und Blau,
aus ihrer Mischung entsteht Grün.
18. Jene beiden Farben können durch Aneinanderdrängen
ihrer Teile dunkler gemacht werden.
19. Von Vermischung mit Schwarz oder Weiß darf hier
die Rede nicht sein.
20. Blau und Gelb verstärkt, werden beide Rot.
DIE ELEMENTE DER FARBENLEHRE 387
2 1 . Rot wird vorerst als keine eigne Farbe angenommen.
22. Das Gelbrote und Blaurote vermischt, bringt Purpur
hervor.
23. Schema A^xY2iX\)t.xi, ihrer Abstufungen, Übergänge und
Verbindungen.
24. Verdunkelung der Farben durch Schwarz wird aber-
mals widerraten.
2 5 . Gleichfalls Vermischung derselben mit Weiß.
26. Verschränkte Vermischungen bringen schnulzige Far-
ben hervor.
27. Alle Farben in einer gewissen Proportion vermischt,
bringen eine Unfarbe hervor.
28. Alle Farben haben die Eigenschaft, daß sie dunkler
als Weiß und heller als Schwarz sind.
29. Durchsichtige farbige Liquoren machen ein farbloses
Wasser immer dunkler.
30. Nähern sich bei mehrerer Sättigung der Undurch-
sichtigkeit, daher dem Schtvarzen.
31. Die reizende Energie, womit die Farben auf unsere
Augen wirken, ist wohl von der gleichgültigen Helligkeit
des Weißen zu unterscheiden.
32. Die Eigenschaft der Farben, dunkler als Weiß und
heller als Schwarz zu sein, kommt natürlich auch der Un-
farbe zu, welche aus Mischung aller Farben entsteht.
33. Sie macht daher den Eindruck von Grau.
34. Dieses zeigt sich uns unter jeder Bedingung wahr.
35. Verschiedene Beispiele.
Übergang zur Streitfrage
36. Frage, woher die Idee, ein weißes Pigment aus far-
bigen Pigmenten zusammenzusetzen, ihren Ursprung ge-
nommen habe?
37. Newton bemerkt, daß, wenn ein weißes Licht aus far-
bigen Lichtern zusammengesetzt sein sollte, auch ein
weißes Pigment aus farbigen Pigmenten entstehen müsse.
Kr bejaht diese Proposition in dem Gang seiner Demon-
strationen.
38. Das Unreine und Unrichtige dieser Proposition folgt
388 CHROMATIK
aus der umständlichen Ausführung, die wir bisher gelie-
fert.
39. Wie Newton bei seinem Versuche präludiert. Er ge-
steht selbst, nur ein Kotweiß hervorgebracht zu haben.
40. Das Wort Weiß ist also ganz willkürlich gebraucht
und steht unmlz sowohl in der Proposition als in der Aus-
führung.
41. Bemerkung der Pigmente, aus welchen Newton ein
aschgraues Pulver hervorbringt.
42. Er nimmt nun die Wendung, durch vermehrtes Licht
ein hellgraues Pulver heller erscheinen zu machen, und
behauptet: das beste Weiß sei vom Grauen nicht der Art
nach unterschieden.
43. Eine unparteiische Kritik wird zu Beurteilung dieser
Wendung aufgefordert und der Hauptpunkt, worauf die
Entscheidung beruht, nochmals eingeschärft.
44. Er sucht seine Assertion dadurch zu beweisen, indem
er ein hellgraues Pulver in die Sonne legt und solches mit
einem weißen, aber im Schatten gelegenen Papier vergleicht.
Heißt das messen, wenn man die Kriterien des Unterschieds
gegeneinander aufhebt":
45. Artikulierte Wiederholung der diesseitigen Behaup-
tungen.
iÜBER NEWTONS HYPOTHESE DER
DIVERSEN REFRANGIBILITÄT]
[Handschriftlich. Wohl 1793]
WIE sehr zu jener Zeit, als Scholastiker noch
die Lehrstühle besetzten, der Philosoph sich
nur eine Welt in sich selbst zu erbauen trach-
tete, seine Schüler nur in dem Kunststück unterrichtete,
mit willkürlichen Ideen auf eine feine und seltsame Art
zu spielen, ist jedem bekannt, der in die Geschichte der
Philosophie nur einige Blicke getan. Sie erzählt uns, wie
lange die Menschen sich mit diesen unfruchtbaren Be-
mühungen gequält und dennoch immer dabei auch für
Naturforscher gelten wollen, wie endlich treflfliche Köpfe
eingesehen, daß ein Weltweiser, eh er über die Natur der
Dinge zu reden sich vermißt, erst die Gegenstände selbst
zu kennen habe, mit denen sie uns so mannigfaltig und
übereinstimmend umgibt. Wir erfahren, daß treffliche
Männer einiger Jahrhunderte aus den düstern Gewölben
hervorzusteigen bemüht gewesen, aber doch nur zu einem
Schimmer des Lichtes gelangen können, indem ihr eigner
Geist und der Geist ihrer Zeit sie noch zu heftig zurück-
hielt.
Nun sehen wir endlich Baco von Verulam auftreten. Er
zeigt zuerst, daß selbst der gute Wille, die Natur und ihre
Kräfte kennen zu lernen, nicht hinreiche, sondern daß der
Forscher sich zu diesem wichtigen Geschäfte besonders
auszubilden habe. Er zeigt uns die Macht gewisser Vor-
stellungsarten, gewisser Vorurteile, die uns hindern, die
Gegenstände, welche die Natur uns darbietet, genau zu
kennen und den Zusammenhang, in dem sie untereinander
stehen, zu begreifen. Wir erschrecken über die Forderun-
gen, die er an den Beobachter macht, und erstaunen über
die Hülfsmittel, die er ihm reicht, über die neuen Organe,
mit denen er ihn ausrüstet.
Von diesem Augenblick an scheint Beobachtung über Gril-
lenfängerei zu siegen, an die Stelle des Wortes die Sache
zu treten, indem das Wort eine wohlbeobachtete Sache
bezeichnet. Hier scheint eine neue Epoche anzugehen,
eine neue Bahn sich zu öffnen. Jeder Beobachter scheint
390 CHROMATIK
gezwungen, auf die Willkür seines eigenen Geistes Ver-
zicht zu tun und sich den bestimmten Sachen zu unter-
werfen. Aber leider, es scheint nur! Wenige Männer haben
Gewalt genug über sich selbst, einen Teil dieses Weges
zurückzulegen, und der fürtreffliche Descartes überlebt den
Baco um fünfundzwanzig Jahre und hinterläßt bei einer
großen Wahrheitsliebe, bei aller eignen Überzeugung, daß
ein Beobachter der reinen und bedächtigen Methode der
Mathematiker zu folgen habe, seinen Schülern nur ein Luft-
gebäude von Träumen und Meinungen, das vor einer fort-
gesetzten Erfahrung, vor einem freieren Bhck der Nach-
folger bald verschwinden mußte.
Daß Bacons Bemühungen und die früheren Beispiele der
Mathematiker weniger gefruchtet, als man hätte hofifen
sollen, gestehtdie Geschichte der Philosophie ungern. Doch
erfahren wir bei genauer Untersuchung auch hier, was wir
so oft im Leben bemerkten, daß Erkennen und Tun, Über-
zeugung und Handlung durch eine ungeheure Kluft ge-
trennt sein können.
Es mag sein, daß die dunkle Schreibart Bacons, in wel-
cher dieser außerordentliche Mann die geheimnisvollen
Wirkungen unsrer Seele oft in geheimnisvollen und selt-
samen Worten darlegt, Ursache gewesen sei, daß seine
Schriften nicht so viel, wie man hoffen und wünschen
mußte, gewirkt haben; aber mehr noch möchte in der Na-
tur der menschhchen Köpfe, und zwar eben in der Natur
der Vortrefflichsten die Ursache zu suchen sein, warum
so schwer auf dem Wege der reinen Erfahrung Fortschritte
gemacht werden.
Das Genie, das vorzüghch berufen ist, auf jede Weise große
Wirkung hervorzubringen, hat seiner Natur nach den Trieb,
über die Gegenstände zu gebieten, sie sich zuzueignen, sie
seiner Art zu denken und zu sein zu unterwerfen. Viel
schwerer und leider oft nur zu spät entschließt es sich,
auch den Gegenständen ihre Würde einzuräumen; und wenn
es durch seine produktive Kraft eine kleine Welt aus sich
hervorzubringen vermag, so tut es der großen Welt meist
unrecht, indem es lieber wenige Erfahrungen in einen Zu-
sammenhang dichtet, der ihm angemessen ist, als daß es
ÜBER NEWTONS HYPOTHESE 3 9 1
bescheiden viele Erfahrungen nebeneinander stellen sollte,
um womöglich ihren natürlichen Zusammenhang endlich
zu entdecken. So ungeduldig es sich nun bei der Beobach-
tung zeigt, so fest finden wir es, auf einer einmal gefaßten
Idee zu beharren und so tätig sie auszubilden. Sehr leicht
findet es Gründe, die Blößen seines Systems zu decken, und
zeigt einen neuen Zweig seiner Fähigkeiten, indem es das-
jenige hartnäckig verteidigt, was es niemals bei sich hätte
begründen sollen. Prägt sich nun gar eine solche Vorstel-
lungsart, eine solche Ideenreihe in die Köpfe leicht ein-
genommener gleichzeitiger Jünglinge, so geht ein halbes,
ja ein ganzes Jahrhundert darüber hin, bis ein Irrtum ent-
deckt, und wenn er entdeckt ist, bis er endHch wirklich
anerkannt und ausgestoßen wird.
Jede Schule scheint von den Grundsätzen der römischen
Kirche etwas geerbt zu haben. Wer von dem einmal fest-
gestellten Glaubensbekenntnisse abweicht, wird als Ketzer
ohne weiteres verdammt, und wenn ja zuletzt die Wahr-
heit siegt, so darf man nur in der Geschichte zurücksehen,
und man findet gewöhnhch, daß sie schon früher bekannt,
öffentlich dargestellt, aber leider mit Gewalt oder Kunst
wieder auf eine Zeit unterdrückt worden.
Freilich ist die Menge immer auf der Seite der herrschen-
den Schule; es ist so bequem, für das, was man nicht be-
greift, wenigstens Formeln zu haben und, durch sie ge-
schützt, alle mühsame Erfahrung, alle beschwerliche Über-
sicht, alle sorgfältige Zusammenstellung für überflüssig zu
erklären, und so bleibt dem Beobachter, der, auf dem freien
Wegeder Natur, die unendlichen Phänomene verfolgt, wel-
che die Schule schon in ihren engen Kreis gebannt zu haben
glaubt, nichts übrig, als entweder einsam und in sich ver-
schlossen seinen Weg fortzugehen, oder bei einem öffent-
lichen Bekenntnis sich auf die heftigen Anfälle einer ganzen
Partei vorzubereiten.
Und so ist mir recht wohl bekannt, was mich erwartet, in-
dem ich gegenwärtig auftrete, um zu zeigen, daß ein gro-
ßer und berühmter Beobachter als Mensch seinen Tribut
abtragen müsse, daß selbst das große Genie Newtons sich
bei Erfahrungen übereilte und mit Folgerungen zu früh-
392 CHROMATIK
zeitig vorschritt, daß er unsägliche Mühe auf die Behaup-
tung seines einmal festgestellten Irrtums verwendete, daß
sein durch diese Bemühungen errichtetes Gebäude die
Menschen dergestalt verblendete, daß sie nach dessen
Grund zu forschen zum Teil versäumten, zum Teil, durch
Gewohnheit und Vorurteil beherrscht, es nicht nur für
einzig ewig erklärten, sondern auch jeden, der den Grund
zu untersuchen, die Maße und Verhältnisse zu beurteilen
wagte, als einen verwegnen Toren abzuweisen und zu ver-
schreien wußten.
Wohlbekannt mit diesen Gefahren wage ich dennoch mit
dem Geständnisse meiner Überzeugung öfifentlich hervor-
zutreten und zu behaupten: Newton habe keineswegs er-
wiesen, daß das farblose Licht aus mehreren andern Lich-
tern, die zugleich an Farbe und an Brechbarkeit verschie-
den sind, zusammengesetzt sei; ich erkläre vielmehr die
diverse Refrangibilität nur für eine künstliche Hypothese,
die vor genauer Beobachtung und scharfer Beurteilung
verschwinden muß. Nach dieser kühnen Erklärung habe
ich alle Ursache, in meinem Vortrage bedächtig zu Werke
zu gehen, um eine so schwere und verwickelte Sache zu
einer abermaligen Revision vorzubereiten. Ich bin daher
genötigt, ehe ich zur Abhandlung selbst schreite, einiges
vorauszuschicken, um die Standpunkte anzugeben, woraus
die Lehre sowohl als mein Widerspruch zu betrachten ist.
Vor allen Dingen muß ich auf das dringendste einschärfen,
daß diverse Refrangibilität keine Tatsache, kein Faktum
sei. Newton erzählt uns selbst den Gang seiner Beobach-
tungen und seiner Schlüsse, der aufmerksame Kritiker ist
also imstande, ihm auf dem Fuße zu folgen. Hier ziehe
ich nur die ersten Linien der ausführlichen Darstellung,
die das Werk selbst enthalten wird. Newton findet, indem
er einen Sonnenstrahl durch ein Prisma unter bestimmten
Umständen durchgehen läßt, das aufgefangene Bild des-
selben nach der Brechung viel länger als breit und, was
noch mehr ist, mit verschiedenen Farben gefärbt.
Hierauf gibt er sich Mühe, sowohl durch Veränderung der
Versuche als durch mathematische Prüfung die Ursache
dieser Verlängerung des Bildes zu erforschen, und da er
ÜBER NEWTONS HYPOTHESE 393
sie immer größer findet, als sie nach allen äußern Um-
ständen und Einwirkungen, die er bemerken kann, sein
sollte, so schließt er: die Ursache derselben müsse inner-
halb des Lichtes liegen; die Ausdehnung des Bildes in die
Länge entstehe durch eine Teilung des Lichtes, diese Tei-
lung werde durch Refraktion möglich, weil die verschied-
nen Strahlen, woraus das zusammengesetzte Licht bestehe,
nicht nach einem allgemeinen Gesetze, sondern nach eig-
nen Gesetzen gebrochen werden, da man sie denn nach-
her an ihren verschiedenen Farben gar bequem erkenne.
Diese Meinung setzt sich sogleich bei ihm fest; er stellt
verschiedene Versuche an, die ihn nur noch mehr darin
bestärken, und ob er gleich anfangs seine Überzeugung
nur als Theorie vorträgt, so befestigt sie sich doch nach
und nach dergestalt in seinem Geiste, daß er die diverse
Refrangibilität wirklich als ein Faktum aufstellt. (Opusc. II,
P-37I-)
Auf eben diese Weise fahren seine Schüler fort, die di-
verse Refrangibilität teils als eine festbegründete und un-
widerlegliche Theorie, teils gelegentlich als ein Faktum
darzulegen.
Diese erste und größte Verirrung muß vor allen Dingen
bemerkt werden. Denn wie sollte man noch in Wissen-
schaften Vorschritte hoffen können, wenn dasjenige, was
nur geschlossen, gemeint oder geglaubt wird, uns als ein
Faktum aufgedrungen werden dürfte.
Es ist ein Faktum, daß unter denen Umständen, welche
Newton genau angibt, das Sonnenbild fünfmal länger als
breit ist und daß dieses verlängerte Bild vollkommen far-
big erscheint. Dieses Phänomen kann jeder Beobachter
ohne große Bemühung wiederholt sehn.
Newton erzählt uns selbst, wie er zu Werke gegangen, um
sich zu überzeugen, daß keine äußere Ursache diese Ver-
längerung und Färbung des Bildes hervorbringen könne.
Diese seine Behandlung ist, wie schon oben gesagt, der
Kritik unterworfen: denn wir können viele Fragen auf-
werfen, wir können mit Genauigkeit untersuchen: ob er
denn auch recht verfahren? und inwiefern sein Beweis in
jedem Sinne vollständig sei.^
394 CHROMATIK
Setzt man seine Gründe auseinander, so werden sie fol-
gende Gestalt haben:
Das Bild ist, wenn der Strahl die Refraktion erlitten, län-
ger, als es nach den Gesetzen der Refraktion sein sollte.
Nun habe ich alles versucht und mich dadurch überzeugt, daß
keine äußere Ursache an dieser Verlängerung schuld sei.
Also ist es eine innere Ursache, und diese finden wir in
der Teilbarkeit des Lichtes. Denn da es einen großem
Raum einnimmt als vorher, muß es geteilt, muß es aus-
einandergeworfen werden, und da wir das auseinander-
geworfene Licht farbig sehen, so müssen die verschiede-
nen Teile desselben farbig sein.
Wieviel ist nicht sogleich gegen dieses Räsonnement auch
einzuwenden!
Beim ersten Satze sei uns erlaubt zu fragen, wie hat man
denn die Gesetze der Refraktion festgestellt? — Aus der Er-
fahrung.—Gut! Und der die Erfahrung machte, um die Ge-
setze festzustellen, hat er die Ausnahme, von der die Rede
ist, beobachtet oder nicht.* — Ob er sie beobachtet hat, wis-
sen wir nicht; aber er hat sie nicht in Betrachtung gezo-
gen.— So dürfen wir also an der Allgemeinheit dieses Na-
turgesetzes zweifeln und fragen: Sollt es nicht möglich
sein, dieses Gesetz allgemeiner auszusprechen, und zwar
so, daß die hier angeführte Ausnahme mit darunter be-
griffen wäre?
Was gegen die Überzeugung aus einer vollständigen Erfah-
rung einzuwenden sei, fällt in die Augen. Hier fragt sich,
ist denn auch alles beobachtet worden, was beobachtet
werden mußte? Wer kann beweisen, daß eine Erfahrung
vollständig sei? Und gilt nicht gegen ihn jede Darlegung
neuer Erfahrungen, die in diesen KLreis gehören?
Gesetzt aber auch, gegen beides wäre nichts einzuwenden,
und man nähme den Schluß: hier wirkt eine innere Ur-
sache, als gültig an, so ist doch die Folgerung übereilt: diese
Ursache liege in irgendeiner Eigenschaft des Lichts; denn
wir haben ja in diesem Falle gebrochnes Licht und bre-
chendes Mittel, und warum sollte das Mittel nicht durch
eine uns unbekannte Ursache Doppelbilder hervorbringen
können, oder durch eine unerklärte, vielleicht mit der Re-
ÜBER NEWTONS HYPOTHESE 395
fraktion und Reflektion nur verwandte Kraft das Bild in
die Länge zu dehnen imstande sein. Ist es denn, ausschließ-
lich, die letzte Notwendigkeit, dem Licht die geheimnis-
volle Eigenschaft zuzuschreiben, sich durch ein Mittel, wo-
durch es hindurchgeht, spalten und in Elemente teilen zu
lassen?
Doch sei dies alles hier nicht etwa, um irgend etwas fest-
zusetzen oder zu einer Disputation einen Grund zu legen,
beigebracht, sondern nur um zu zeigen, wie wenig diverse
Refrangibilität als Faktum gelten könne.
Die künftigen Revisoren werden also ersucht, darauf zu
sehen, daß niemand, er sei wer er wolle, sich unterfange,
eine Erklärung, Theorie oder Hypothese für eine Tatsache
auszugeben. Daß der Stein fällt, ist Faktum, daß es durch
Attraktion geschehe, ist Theorie, von der man sich innigst
überzeugen, die man aber nie erfahren, nie sehen, nie
wissen kann.
Sollte denn aber, wird man mir einwerfen, wenn auch jener
außerordentliche Mann in seinen Erfahrungen nicht ge-
nau genug und in seinen Schlüssen voreilig gewesen wäre,
wenn seine Theorie wirklich nur Hypothese wäre, sollte
ein solcher Irrtum in hundert Jahren durch so viele Ge-
lehrte, Akademien und Sozietäten, welche die Versuche
wiederholt und die Lehre geprüft, nicht schon entdeckt
worden sein?
Ich antworte hierauf: Wäre es wirklich geschehen, daß man
die Newtonischen Versuche oft genug mit scharfem Be-
obachtungsgeist wiederholt, daß man seinen Gang verfolgt
hätte, so würde man früher die Verbesserung der dioptri-
schen Fernröhre erfunden haben; man würde schon früher
den Irrtum entdeckt haben, in den Newton verfiel, als er
behauptete, ja nach seiner Theorie behaupten mußte, daß
die Stärke der Farbenerscheinung nach der Stärke der Re-
fraktion gerechnet werden könne.
Hat man nun, fahre ich fort zu fragen, da die Entdeckung
gemacht war, daß die Farbenerscheinung ganz für sich,
auf eine unerklärbare Weise, vermehrt oder vermindert
werde, ohne daß die Refraktion mit ihr gleichen Schritt
halte, hat man denn untersucht, wie tief dieser Irrtum in
396 CHROMATIK
der Newtoni sehen Lehre verborgen gewesen? hat man denn
gefragt, ob dieser entdeckte Irrtum nicht sogleich gegen
die ganze Theorie mißtrauisch machen müsser Hier und
da finde ich es leise angegeben; aber hervorgehoben, ans
Licht gestellt ward es, soviel ich weiß, niemals.
Wenn sich Newton durch seine Erfahrungen und seine
Hypothese, denn für weiteres kann ich seine Meinung künf-
tig nicht gelten lassen, völlig überzeugt fand, daß sich die
dioptrischen Fernröhre auf keine Weise verbessern ließen,
wenn er dadurch auf die Erfindung seines Spiegelteleskops
geführt wurde, wenn er auf die Verbesserung desselben
lebhaft drang, wenn er als Resultat am Ende des ersten
Teils des ersten Buchs der Optik jene Überzeugung auf-
stellt, daß die dioptrischen Fernröhre nicht verbessert wer-
den können, so muß ja wohl, da nun dieses Resultat falsch
befunden worden, der Irrtum tiefer als nur auf der Ober-
fläche liegen, so müssen ja wohl die Erfahrungen weder
genau noch vollständig, oder die Schlüsse daraus nicht
durch richtige Operationen des Geistes gezogen sein.
Hat man hierauf, wie doch natürlich gewesen wäre, ge-
merkt.^ Hat man bei diesem eintretenden wichtigen Fall
die Sache nochmals in Untersuchung genommen? Keines-
wegs! Manleugnete lieber dieMöglichkeit der Erfahrungen,
die schon gemacht waren, und anstatt zu gestehen, daß
durch diese Entdeckung jene Theorie selbst auf der Stelle
vernichtet werde, so suchte man lieber durch Akkomoda-
tionen ihr wenigstens einen Schein des Lebens zu erhal-
ten, und so spukt das Gespenst der diversen Refrangibiji-
tät noch immer in den Schulen der Physik, und man glaubt
einen treuen aufmerksamen Beobachter noch immer durch
die Autorität eines großen Mannes zu schrecken, dessen
Irrtum in der Sache, wovon die Rede ist, schon seit meh-
reren Jahren nicht geleugnet werden kann.
Es sei denn, höre ich mir hierauf antworten, wir wollen
uns einen Augenblick als möglich denken, daß in jener
Lehre wirklich ein Irrtum verborgen liege, daß er auch
sogar schon halb entdeckt sei; aber wer will es mit dem
größten Geometer aufnehmen, dem die Hülfsmittel der
höheren Rechenkunst alle zu Gebote standen und dessen
ÜBER NEWTONS HYPOTHESE 397
Fehlschlüsse, wenn er ihrer begangen haben sollte, nur
durch seinesgleichen entdeckt werden können.
Diesen Einwurf erwarte ich von niemand, der Kenntnis
in der Sache hat, von der die Rede ist. Newton erscheint
hier nicht als Mathematiker auf dem Platze, wir haben es
nur mit Newton dem Physiker zu tun. Seine Erfahrungen
kannjedermitgesundenSinnenwiederholen, seine Schlüsse
kann jeder ruhige Denker prüfen. Was von Messungen,
mathematischen Beweisen und Formeln vorkommt, ist kei-
neswegs von der höheren Art und läßt sich mit einiger
Kenntnis recht gut übersehen, und unglücklicherweise ist
dieses selbst die schwächste Seite seiner Arbeit; seine For-
meln sind falsch befunden worden, und seine Messungen,
seine darauf gegründete Berechnungen gelten nur von ein-
zelnen Fällen, und vergebens sucht er sie zu allgemeinen
Verhältnissen, zu durchaus gültigen Naturgesetzen zu er-
heben.
Der vortrefflichste Rechenmeister kann eine Rechnung
fertigen, an deren Kalkül nichts auszusetzen ist, und doch
kann sie falsch sein, doch mit der Kasse nicht übereintreffen.
Es durften ihm nur einige Belege fehlen, deren Mangel er
übersah oder nicht bemerken konnte; sobald sich diese fin-
den, fällt das ganze Zahlengebäude zusammen, und die an
sich lobenswerte, bis auf den kleinsten Bruch der Pfennige,
richtige Arbeit ist verloren und muß von neuem unter-
nommen werden. Wie viele Fälle dieser Art zeigt uns die
Geschichte der mathematischen Wissenschaften. Wie man-
cher Geometer war als Beobachter weniger glücklich, wel-
cher hat nicht mehr als einmal in seinem Leben nach fal-
schen Datis richtig, aber vergebens gerechnet.
Daß dieses Newtons Fall in seiner Optik sei, hoffe ich in
meiner Schrift ausführlich zu zeigen. Es war nicht schwer,
seinen Irrtum zu entdecken, denn schon mehrere vor mir
haben ihn eingesehen; aber es ist schwer, ihn zu entwickeln,
denn dieses ist noch keinem seiner Gegner gelungen, viel-
leicht gelingt es auch mir nicht; indessen werde ich mein
möglichstes tun, daß, wenn auch ich noch als Ketzer ver-
dammt werden sollte, wenigstens ein glücklicherer Nach-
folger eine brauchbare Vorarbeit finde.
L
398 CHROMATIK
Ich werde es an nichts fehlen lassen, seine Versuche aufs
genauste durchzugehen, und zeigen, wiefern sie an sich
selbst richtig oder wiefern an ihnen etwas auszusetzen;
ob der Beobachter einen unleugbaren Versuch richtig ge-
sehen, oder ob er sich durch einen Schein habe blenden
lassen; ob er alle Nebenumstände bemerkt; ob die Ver-
suche vollständig, ob sie gut geordnet sind, und ob die
Schlüsse, die er daraus zieht, notwendig erfolgen.
Die größte Aufmerksamkeit haben wir ferner auf seinen
Vortrag zu wenden. Man hat schon lange anerkannt, daß
weder seine optischen Vorlesungen noch die Optik selbst
in mathematischer Ordnung geschrieben sei. Dieses kann
bei einer physikalischen Materie nur so viel heißen: der
Verfasser habe nicht von den einfachsten Versuchen an-
gefangen, um von da zu den zusammengesetzten fortzu-
gehen, als wodurch allein eine reine Ableitung und eine
Darstellung des innern Zusammenhangs möglich wird, wo-
durch eine theoretische Erklärung allein vorbereitet wer-
den kann. Und so ist es auch wirklich, wie jeder, der diese
beiden Schriften zur Hand nimmt, bei dem ersten Blick
erkennen kann. In den optischen Lektionen geht er natür-
licher zu Werke. Er spricht als ein überzeugter Mann und
legt uns offen dar, wie er sich überzeugt hat. In der Optik
ist er künstlicher Sachwalter, der uns zu überzeugen sucht;
man sieht, er hat schon Widerspruch erlitten, und diesem
Widerspruch soll vorgebaut werden, und wenn die Optik
ein unsterbliches Werk genannt zu werden verdient, so
wird sie es deswegen bleiben, weil sie uns ein Zeugnis gibt,
das zwar in der Geschichte der Wissenschaften oft genug
wiederholt ist, welche Mühe sich ein scharfsinniger Geist
geben kann, um sich und andern den Irrtum zu verbergen,
den er einmal festzusetzen beliebt hat. Wie die Menschen
überhaupt meist nur den Gebrauch des Verstandes schätzen
und bewundern, er mag übrigens gebraucht werden zu was
er wolle.
Verblendet von einigen in die Augen fallenden Versuchen,
hingerissen von der künstlichen Darstellung der Argumente,
blieb man auf dem Punkte stehen, auf den sich Newton
gestellt hatte und auf den jeder seiner Schüler sich stellen
ÜBER NEWTONS HYPOTHESE 399
mußte, um in der Theorie ein scheinbares Ganze zu er-
blicken. So sieht der Zuschauer, der vorm Theater auf dem
Punkte steht, von welchem und zu welchem der geschickte
Maler die Linien seiner Dekoration gezogen, ein völlig
verschlossenes Zimmer vor sich, indem die Zwischenräume
der Seitenwände ihm nicht bemerkbar sein können. Alles
paßt so genau, daß diese Linien nicht gerade zu laufen
scheinen, sondern im Auge wirklich gerade laufen. Aber
er trete nur einen Schritt zur Seite, so wird die Illusion
sogleich verschwinden; er wird die Kunst mehr als im
ersten Augenblicke bewundern, da er getäuscht war, aber
die Täuschung wird aufhören.
Es wird jedem auffallen, wenn wir in der Folge zeigen,
daß die ganze Stärke der Newtonischen Theorie darin be-
stand, daß ihr Erfinder sowohl als seine Schüler ausdrück-
lichverlangten, daß man von ihrem Standort, auf ihre Weise
die Gegenstände betrachten und sich von dem scheinbaren
Zusammenhang als von einem wirkhchen überzeugen sollte.
Wer mit reinem unbefangenen Blick die Versuche, wie sie
in Newtons Optik und in mehreren Kompendien durch-
einandergestellt sind, betrachtet, glaubt seinen Augen
kaum; die Verblendung ist so groß, daß sie Sophistereien
zuläßt, die ganz nahe an Unredlichkeit grenzen.
Da man einmal bei der Refraktion eine so wichtige Er-
scheinung gesehen hatte, da eine ganz neue und beim
ersten Anblick Mißtrauen erregende Theorie der ganzen
Licht- und Farbenlehre darauf erbauet war, hätte man nicht
sorgen sollen, alle Fälle zu sammlen und in einer gewissen
Ordnung aufzustellen.' Allein die Schüler hatten nicht Ur-
sache es zu tun, weil bei dem schon vollendeten Bau die
neuen Materialien ihnen nur im Wege gelegen hätten,
und die Gegner konnten es nicht tun, weil ihnen noch
manches zur Vollständigkeit fehlte, das uns glücklicher-
weise die Zeit entdeckt hat, und außerdem hatten die
letzten meistenteils auch nur im Sinne, aus den bekannten
Materialien gleichfalls ein hypothetisches Ganze zusam-
menzusetzen und ihre Schöpfungen der Newtonischen ent-
gegenzustellen.
Da ich nun die ganze Angelegenheit zur Revision vorbe-
400 CHROMATIK
reite und, wenn ich die anders beschäftigte Aufmerksam-
keit meiner Zeitgenossen nicht erregen sollte, meine Ar-
beit dem folgenden Jahrhundert empfehle, so werde ich
vor allen Dingen die bedeutenden Phänomene und Ver-
suche, welche uns bei Gelegenheit der Refraktion Farben
zeigen, in derjenigen Ordnung vortragen, die mir nach
vieler Überlegung die natürlichste scheint, und zwar werde
ich dabei folgendergestalt zu Werke gehn, daß ich zuerst
die Fälle zeige, in welchen die Refraktion vollkommen
wirkt, ohne daß eine Farbenerscheinung entstehe. Ferner
werde ich die Bedingungen ausführen, welche zur Refrak-
tion hinzukommen müssen, damit eine Farbenerscheinung
sichtbar werde, und nach welchen Gesetzen sie alsdann
erscheine. Sodann werde ich zeigen, unter welchen Um-
ständen sich diese Farbenerscheinung vermehre, vermin-
dere und endlich gar wieder verschwinde, wobei die Kraft
der Strahlenbrechung dabei in ihrem vollen Maße wirken
kann. Ob es alsdann zu kühn ist, hieraus zu folgern, daß
diese Farbenerscheinungen von der Brechung unabhängig
seien, daß die Refraktion keineswegs die Ursache sei, durch
welche, sondern nur eine Gelegenheit, bei welcher die
Farbenerscheinung sich sehen läßt, wird sich am Schlüsse
zeigen. Ich wenigstens hoffe, die diverse Refrangibilität
werde vor der bloßen Darstellung der sämtlichen Versuche
verschwinden.
Ich werde sodann in einem zweiten Abschnitt historisch
und kritisch zu Werke gehn und das, was die frühern Philo-
sophen von den vorgelegten Versuchen gekannt und was
sie daraus geschlossen, vortragen; ferner auf die Geschichte
der Newtonischen Erfahrungen und seiner Theorie über-
gehen, den Gang seines Geistes, seiner Beobachtungen
und seiner Schlüsse in diesem Falle verfolgen. Sodann
werde ich die Lehrart seiner älteren Schüler vor Erfindung
der achromatischen Gläser und darauf die Wendung der
neueren nach gedachter Entdeckung darlegen. Darauf die
Bemühungen der älteren und neueren Gegner der Theorie
auf ebendiese Weise ans Licht stellen und die Ursachen
anzeigen, warum ihr Bestreben so wenig gewirkt hat. End-
lich werde ich suchen, den Punkt deutlich zu machen, wo
ÜBER NEWTONS HYPOTHESE 401
wir gegenwärtig stehen, und nach dem Ziele deuten, das
mir selbst noch in der Ferne liegt. Niemand kann lebhafter
wünschen als ich, daß dieses Feld bald auch von andern,
es sei durch Teilnahme oder durch Widerspruch, emsig
bebaut werde.
GOETHE XVII 26.
ÜBER DIE FARBENERSCHEINUNGEN,
DIE WIR BEI GELEGENHEIT
DER REFRAKTION GEWAHR WERDEN
[Handschriftlich. 1793]
Einleitung
i.l \-^^ Wirkung der Refraktion, wodurch die Licht-
I 1 strahlen von ihrem Wege abgelenkt werden, wo-
.1 — y durch uns das Bild eines Gegenstandes an einem
andern Orte erscheint, als es sich wirklich befindet, ist
ein sehr merkwürdiges Phänomen. Die Erfahrungen und
Versuche, unter welchen Umständen sie bemerkt wird, die
Gesetze, nach welchen sie sich äußert, sind von den Natur-
forschern beobachtet, geordnet und berechnet worden.
Ich setze voraus, daß man wenigstens im allgemeinen mit
dieser Lehre bekannt sei, indem ich nur von den appa-
renten Farben zu handeln gedenke, welche uns bei dieser
Gelegenheit erscheinen.
2. Diese Farbenerscheinungen sind unter gewissen Um-
ständen so lebhaft, schön und überraschend, daß sie die
Aufmerksamkeit der Naturforscher von jeher billig auf sich
gezogen haben. Einige dieser Phänomene haben zu der
fast allgemein angenommenen Theorie Anlaß gegeben,
und doch ist mir unbekannt, daß die Erfahrungen und Ver-
suche jemals vollständig gesammlet und in ihrer natürlichen
Ordnung aufgestellt worden. Wir wollen versuchen, ob
wir diese Erscheinungen bis zu ihren ersten Spuren ver-
folgen können; wir wollen sie von da bis auf den höchsten
Grad ihrer Schönheit begleiten und ihnen alsdann bis da-
hin folgen, wo sie wieder verschwinden, und durch diesen
Zirkel die Gesezte dieser Erscheinung an den Tag zu
bringen bemüht sein.
3. Vorher aber ist es nötig, daß wir die verschiedenen
Versuche, welche wir bei dieser Gelegenheit anstellen,
im allgemeinen betrachten und, was wir dabei zu be-
merken finden, festsetzen. Alle Versuche, welche bei dieser
Gelegenheit vorkommen, lassen sich einteilen in
objektive
subjektive
FARBENERSCHEINUNGEN BEI REFRAKTION 403
verbundene und
gemischte Versuche.
4. Objektive nenne ich diejenigen, wo das brechende Mittel
sich nicht zwischen der Erscheinung und dem Beobachter
findet, z. B. wenn wir das SonnenUcht durch das Prisma
fallen lassen und das farbige Bild an der Wand erblicken.
5. Subjektive nenne ich, wenn das brechende Mittel zwi-
schen der Erscheinung und dem Auge des Beobachters
sich befindet, z. B. wenn wir ein Prisma vor die Augen
halten und schwarze und weiße Tafeln dadurch betrach-
ten und die Ordnung der Farbenerscheinung an selbigen
wahrnehmen.
6. Wir werden genau zu bestimmen suchen, worin diese
beiderlei Arten von Versuchen miteinander übereinkom-
men, und worin sie voneinander verschieden sind. Wir
werden sie nebeneinander stellen und sehen, inwiefern
sie miteinander gleichen Schritt halten oder voneinander
abweichen. Auf diese genaue Absonderung kommt sehr
viel an, da man sie gewöhnlich vi\xx promiscue zu gebrau-
chen pflegt.
7. Kennen wir diese Versuche genau, so werden wir sie
desto eher beurteilen können, wenn wir sie in Verbindung
untereinander zu betrachten haben. Es werden uns sehr
merkwürdige und sehr komplizierte Phänomene nicht irre-
machen, welche uns durch diese verbundene Versuche dar-
gestellt werden.
8. Gemischte Versuche nenne ich zum Unterschied unreine,
ohne Methode und Zweck vereinigte Versuche der objek-
tiven und subjektiven Phänomene, welche nur alsdann
vorkommen werden, wenn wir imstande sind, die Bemü-
hungen unserer Vorgänger kritisch zu beurteilen.
404 CHROMATIK
ERSTER ABSCHNITT
Refraktion an und für sich selbst bringt
keine Farbenerscheinung hervor
Subjektive Versuche
Erster Versuch {Fig. ly
9. Man nehme ein Gefäß, das breiter als hoch ist, und stelle
es vor sich in die Hellung des Tageslichts, und die innern
Flächen desselben werden uns ihre eigne Farbe zeigen;
es sei das Gefäß holzfarb, man streiche es weiß, schwarz,
gelb oder blau an, so wird man, wie bei jedem andern
Körper, den Anstrich der Oberfläche rein erkennen. Man
gieße hierauf reines Wasser hinein; der Boden wird uns
nach den Gesetzen der Refraktion erhöht, die Wände so
viel verkürzt erscheinen. Man schaue durch das Wasser
von allen Seiten, und es wird keine apparente Farbe in
dem Gefäße erscheinen. Die Oberfläche des Bodens und
der Wände wird uns ihren Anstrich wie vorher sehen lassen,
obgleich die Refraktion schon vollkommen wirket und uns
alle Stellen des Gefäßes an einem andern Platze zeigt.
Zweiter Versuch {.Fig. 2)
10. Man halte sodann das Gefäß schief, so daß der Boden
mit dem Horizonte einen spitzen Winkel macht. Man stelle
sich auf die Seite des spitzen Winkels, sehe abermals durch
das Wasser in das Gefäß, man wird ebensowenig appa-
rente Farben und nur die Farbe des Gefäßes wie vorher
erblicken.
Dritter Versuch (Fig. 3)
1 1. Man gehe um das Gefäß herum und stelle sich auf die
Seite, wo das brechende Mittel am dicksten ist, auch da
wird man keine Farbenerscheinungen sehen und in diesen
drei Fällen völlig gleiche Erfahrungen machen.
Vierter Versuch (Fig. 4)
12. Man nehme hierauf ein Gefäß mit einem Glasboden,
richte es dergestalt, daß der Boden mit der Wasserwage
1 Die Figuren zu den Versuchen stehen am Schluß des Bandes auf
den Tafeln „Farbenerscheinungen bei der Refraktion".
FARBENERSCHEINUNGEN BEI REFRAKTION 405
parallel sei, und stelle es erhöht über ein weißes Papier;
man sehe nun durch das Mittel auf das weiße Papier, man
lege statt desselben ein schwarzes oder ein farbiges hin,
und man wird niemals apparente Farben sehen, ob man
gleich die Fläche und ihre Teile nach dem Gesetz der
Refraktion an einem ganz andern Orte erblickt, als wo sie
sich wirklich befindet.
Fünfter Versuch {Fig. 5)
13. Man hebe nun die eine Seite des Bodens dergestalt in
die Höhe, daß der Glasboden einen spitzen Winkel mit
der Wasserwage macht, stelle sich an die Seite des Win-
kels und schaue dadurch auf die weiße oder farbige Fläche.
Auch in diesem Falle zeigen sie sich vor wie nach, und
keine apparente Farben erscheinen.
Sechster Versuch [Fig. 6)
14. Man gehe nun abermals um das Gefäß herum, so daß
man auf der dicken Seite des Mittels stehe, und dieser
Versuch wird den vorigen gleich sein.
15. Wir sprechen also das Resultat dieser Erfahrungen
dergestalt aus: Das Auge sieht durch ein brechendes Mittel^
es ?nag dasselbe parallel oder im Winkel sein, es mag die
Brechung einfach oder doppelt geschehen, auf jeder Fläche,
die nur mit eine?7i reinen, gleichen Pigmente angestrichen ist,
oder, welches ebensoviel heißt, auf allen Flächen von einer
gleichen Schattierung oder Farbe, keine apparente Farben,
sondern die Fläche und ihre Teile erscheinen uns, obgleich
durch die Refraktion an einem andern Orte, doch völlig un-
verändert, als 7venn wir sie durch kein Mittel sähen; es
müßte denn sein, daß sie etwas dunkler oder trüber er-
schienen.
Objektive Versuche
16. Daß man den drei ersten subjektiven Versuchen keine
objektiven an die Seite setzen könne, folgt aus ihrer Natur,
indem das brechende Mittel unmittelbar den Boden und
die Wände berührt und also immer zwischen dem Auge
und dem Gegenstande bleibt; den drei letztern Versuchen
aber können wir folgende objektive an die Seite setzen.
4o6 CHROMATIK
Siebenter Versuch {Fig./')
17. Man richte und stelle das Gefäß, wie in dem vierten
Versuche, den gläsernen Boden mit der Wage des Wassers
parallel und lasse die Sonnenstrahlen frei durch dasselbe
auf eine weiße oder gefärbte Fläche fallen; auch da wird
das Auge, das nunmehr unmittelbar auf die Fläche sieht,
dieselbe erhellt sehen, aber darauf keine apparente Far-
ben erblicken.
Achter Versuch {Fig. 8)
18. Ebenso wird es geschehen, wenn wir das Gefäß, wie
bei dem fünften Versuche, zu einem spitzwinkhgen Mittel
umändern und diesen Winkel gegen die Sonne kehren.
Neunter Versuch {Fig.g)
19. Gleichfalls wenn wir die starke Seite des Mittels gegen
die Sonne richten, wird das Auge des Beobachters auf
der Fläche, sie mag eine Farbe haben welche sie will,
das Sonnenlicht zwar von seinem Wege abgelenkt, doch
unverändert und farblos erblicken.
20. Aus diesen objektiven Versuchen ziehen wir folgendes
Resultat: Das Sonnenlicht kann durch ein brechendes Mittel
hindurchscheinen, es kann darin gebrochen, von seinem Wege
abgelenkt werden, und es bleibt demohngeachtet bei der stärk-
sten wie bei der geringsten Ablenkung noch farblos tvie vor
seinem Eintritte.
21. Halten wir nun diese Resultate der objektiven Erfah-
rungen mit jenen zusammen, welche wir aus den subjek-.
tiven (§ 1 5) gezogen, so dürfen wir wohl ohne Anstand als
Axiom festsetzen: Refraktion an und für sich bringt keine
Farbe7ierscheimmg hervor.
FARBENERSCHEINUNGEN BEI REFRAKTION 407
ZWEITER ABSCHNrn^
Zur Refraktion müssen sich noch andere
Bedingungen hinzugesellen, wenn die Farben-
erscheinung stattfinden soll
22. Wer die in dem vorigen Abschnitt vorgelegten Ver-
suche aufmerksam betrachtet und die daraus natürlich ge-
zogenen Folgen anerkannt hat, wird nunmehr billig die
Frage aufwerfen: Auf welchem Wege es uns denn gelingen
könne, die Farberscheinung verbunden mit der Refrak-
tion darzustellen, da wir bisher Refraktion ganz rein von
aller Farberscheinung gefunden haben? Wir antworten
hierauf, daß uns der Zufall dahin führen und daß wir bei
genauer Wiederholung der im vorigen Abschnitt ange-
zeigten Versuche, besonders der objektiven, gelegentlich
bemerken können, unter welchen Umständen apparente
Farben erschienen. So wird man z.B. beim siebenten Ver-
suche § 17, wenn das Glas Knötchen oder Streifen hat,
sogleich auf dem unterliegenden Papiere apparente Farben
erblicken.
23. Wir werden dadurch auf den Weg geleitet, bei sub-
jektiven Versuchen das Bild zu begrenzen, bei objektiven
dem Licht undurchsichtige Hindernisse in den Weg zu
setzen. Daraus entstehen nachfolgende Versuche, welche
abermals in subjektive und objektive zerfallen. Ich werde
jede Art abermals allein behandeln, doch beide in gleicher
Ordnung und Folge, so daß sie zuletzt bequem gegenein-
ander gehalten und miteinander verglichen werden können.
Subjektive Versuche
ERSTES KAPITEL
Unter welchen Bedingungen
die Farbenerscheinung sichtbar wird
Zehnter Versuch {Fig. lö)
24. Wir legen in das oben beschriebene Gefäß mit Wasser
ein schwarz angestrichnes Blech, in dessen Mitte eine
zirkelrunde weiße Fläche im Durchschnitt ungefähr einige
4o8 CHROMATIK
Zoll gemalt ist, wir richten unser Auge so viel als mög-
lich senkrecht auf den Mittelpunkt der Fläche, und wir
werden keine Farbenerscheinung erbhcken,
Eilfter Versuch
25. Wir bewegen uns dergestalt von dem Gefäße hinweg,
daß wir in einer schiefen Richtung nach der Fläche sehen,
so erblicken wir bald eine Farbenerscheinung, und zwar
so, daß der nächste Rand der weißen Fläche uns gelb und
gelbrot erscheint, der entgegengesetzte Rand aber mit
einer blauen Farbe eingefaßt ist.
26. Wir erkennen also hier sogleich zwei notwendige Be-
dingungen, welche zur Refraktion hinzukommen müssen,
um eine Farbenerscheinung hervorzubringen.
1. Begrenzung des Bildes, (a)
2. Bestimmte Richtung des Auges gegen die Grenze
des Bildes, (b)
2 7 . Wir gehen nun weiter und bemerken zuerst, daß, wie
wir uns um das Gefäß herum bewegen, die Farbe uns be-
ständig nachfolgt, daß der uns nächste Rand der gelbe,
der entgegengesetzte der blaue ist.
Zwölfter Versuch {Fig. 12)
28. Verändern wir den Versuch dergestalt, daß wir eine
schwarze Kreisfläche auf weißem Grunde unter Wasser
beschauen, so finden wir, daß sich die Farbenerscheinung
nicht nach der Nähe und Entfernung des Randes richte,
sondern nach dem Verhältnisse der schwarzen oder weißen
Fläche zu unserm Auge.
29. Denn wenn uns das Schwarze zunächst und das Weiße
hinter ihm liegt, sehen wir jederzeit einen gelben Rand;
der Rand hingegen am Schwarzen, wenn das Weiße uns
zunächst liegt, erscheint uns immer blau, und auch diese
Erscheinung folgt uns, wenn wir um das Gefäß herum-
gehen.
Dreizehnter Versuch {Fig. 13)
30. Um diesen Versuch zu vermannigfaltigen, machen wir
uns nunmehr zum Mittelpunkte und bewegen das Gefäß
FARBENERSCHEINUNGEN BEI REFRAKTION 409
um uns herum, anstatt daß wir uns bisher um das Gefäß
bewegt haben. Die Erfahrung bleibt sich gleich, zeigt sich
aber reiner in bezug auf den Beobachter, und wir werden
zu dem einfachsten aller Versuche geführt, uns in die Mitte
einer schwarzen oder weißen runden Fläche zu stellen,
die mit dem Gegensatze begrenzt ist, ein brechendes
Mittel zwischen die Fläche und unser Auge zu bringen
und die oben angezeigten Versuche nunmehr im ganzen
zu sehen. In einem großen reinen Gartenbassin, dessen
Boden man mit Ölfarbe anstreicht, läßt sich dieser Ver-
such am schönsten darstellen, (c)
Vierzehnter Versuch {Fig. 14)
3 1 . Er läßt sich aber auch, jedoch unvollkommen, im klei-
nen denken, wenn wir nämlich einen größeren weißen
Kreis, z. B. von zwei Fußen, auf schwarzem Grunde in ein
Gefäß mit Wasser bringen, unser Auge perpendikular auf
den Mittelpunkt des Kreises richten und dasselbe dem
Wasser so lange nähern, bis wir die Farbenerscheinung
nach obiger Ordnung erblicken, (d)
32. Man sieht leicht, daß alle diese Versuche im Grunde
nur Variationen eines einzigen sind; allein es wird bei
dieser Abhandlung die Vollständigkeitkeinesweges gleich-
gültig: denn nur jetzt, nach der mannigfaltigen Anwendung
dieser Erfahrungen, dürfen wir Folgendes aussprechen: In
unserm Auge liegt das Gesetz, bei Gelegenheit der Re-
fraktion an dem Rande einer schwarzen Fläche auf weißem
Grunde, in deren Mittelpunkte wir stehen, einen gelben
Rand, an dem Rande einer weißen Fläche auf schwarzem
Grunde einen blauen Rand zu sehen, vorausgesetzt, daß
dieser Rand unter einem gewissen Winkel gesehen wird.
33. Diese Erscheinung, welche wir bisher nur bei einer
einfachen Refraktion bemerkt haben, verändert sich auch
nicht bei der doppelten, vorausgesetzt, daß das Mittel
parallel bleibt.
Fünfzehnter Versuch {Fig. /j)
Man bringe die oben gebrauchte Tafel unter ein durch-
sichtiges paralleles Mittel, richte das Auge schief gegen
4IO CHROMATIK
das Gefäß, um jene Erscheinung entstehen zu sehen, sie
wird dieselbe sein, welche wir oben erblickten, man kann
um das Gefäß herumgehen, und sie wird sich gleichmäßig
verhalten.
34. Wir gehen, nachdem wir durch diese einfachen Ver-
suche ein subjektives Gesetz des Auges mit seinen Be-
stimmungen festgesetzt, zu Mitteln über, welche nicht
parallel sind, und bemerken auch durch solche die Er-
scheinung.
Sechzehnter Versuch {Fig. 16)
35. Nehmen wir ein konvexes Glas vors Auge und sehen
damit auf ein weißes Papier, so werden wir keine Farben-
erscheinung erblicken, wenn das Papier ganz glatt und
eben ist; an dem Rande hingegen eines jeden dunkeln
Fleckens wird uns sogleich die Farbenerscheinung be-
gegnen.
Siebzehnter Versuch {Fig. I/)
36. Man nehme eine weiße Karte, worauf ein proportio-
nierter schwarzer Kreis, ein solcher nämlich, der durch das
Vergrößrungsglas auf einmal übersehen werden kann, ge-
malt ist, man betrachte selbigen durch das Glas, und er
wird, sobald er uns deutlich vergrößert erscheint, mit
einem schönen gelb- und gelbroten Rande eingefaßt sein.
Achtzehnter Versuch {Fig. 18)
3 7 . Ingleichen wird ein weißer Kreis auf schwarzem Grunde
unter diesen Umständen blau eingefaßt erscheinen.
38. Man kann also sagen, daß das Auge durch ein Ver-
größrungsglas die Farben erscheinung nach eben dem Ge-
setze wie durch parallele Mittel erblickt. (§31.)
Neunzehnter Versuch {Fig. IQ)
39. Nimmt man dagegen ein konkaves Glas und betrachtet
jene Karten dadurch, so wird die Erscheinung umgekehrt
sein, der weiße Kreis ist gelb, der schwarze blau einge-
faßt.
40. Wir sehen aus diesen Erfahrungen, daß die Erschei-
nung der Farben sich immer in einem Gegensatze zeigt,
FARBENERSCHEINÜNGEN BEI REFRAKTION 411
daß sie sehr beweglich ist, ja daß sie völlig umgewendet
werden kann. Wir fragen jetzt noch nicht nach nähern Ur-
sachen, ob wir gleichwohl künftig, wenn wir alle Erschei-
nungen vor uns haben und die Berechnung uns zur Hülfe
kommt, erwünschte Aufschlüsse hoffen dürfen.
41. Wir schreiten nun zu denen vorzüglich so genannten
prismatischen Erfahrungen und Versuchen, welche mit
denen erst erzählten vöUig übereinstimmend sind.
42. [Fig. 20.) Man kann ein Prisma als ein Stück einer
konkaven oder konvexen Linse ansehen, und wir werden
also durch die Prismen nur diejenigen Erscheinungen se-
hen, die uns schon bekannt sind, nur müssen wir uns, wenn
wir ein Prisma vor die Augen nehmen, in die Mitte einer
großen auf die Erde gemalten schwarzen oder weißen
Fläche denken, und alsdann werden wir uns die Identität
der prismatischen Versuche mit denjenigen, welche wir
schon kennen, leicht anschaulich machen.
43. Es ist nötig, daß man diese ersten Versuche durch
spitzwinklichte Prismen anstelle, welche kein Beobachter
künftig entbehren kann, wenn er meiner vorzutragenden
Lehre mit Überzeugung beitreten oder sie mit Gewicht
bestreiten will.
Zwanzigster Versuch {Fig. 21^
44. Man stelle sich also in die Mitte einer runden schwarzen
Fläche, die auf der Erde gemalt und von Weiß begrenzt
ist (e), und nehme das spitzwinklichte Prisma dergestalt
vor die Augen, daß der spitze Winkel nach außen zuge-
kehrt ist, so wird der schwarze Kreis gelb umgrenzt er-
scheinen, und zwar deswegen, weil er nach dem Gesetz des
konvexen Glases erscheint: denn indem die Schärfe des
Prismas nach außen gewendet ist, so sieht mein Auge die
Farben eben so, als wenn ich in der Mitte einer Ungeheuern
Linse stehen könnte und durch den Rand derselben die
Grenze des Schwarzen und Weißen anschaute. Stelle ich
mich in die Mitte eines weißen Zirkels, so seh ich den
mit Schwarz abwechselnden Rand alsdenn nach den Ge-
setzen blau gefärbt. {Einundzzvamigster Versuch. Fig. 2 2.)
412 CHROM ATIK
Zweiundzwanzigster Versuch {^Fig. 23)
45. Wende ich nun mein spitzwinkUges Prisma nach innen
und stelle mich wieder in den Mittelpunkt des schwarzen
oder weißen Kreises, so werde ich die Erscheinung nach
den Gesetzen des konkaven Glases sehen: denn es ist nun-
mehr eben der Fall, als wenn ich in der Mitte eines Unge-
heuern konkaven Glases stehen könnte und die Grenzen der
Kreisbilder durch den Rand desselben beschaute. {Drei-
undzwanzigster Versuch. Fig. 24.^
46. Hiermit wären nun die subjektiven Versuche, die uns
bei Gelegenheit der Refraktion Farbenerscheinungen zei-
gen, so sehr simplifiziert und untereinander verbunden,
als es mir vorerst möglich scheinen wollte. Wie notwendig
diese Methode sei, wird demjenigen am besten einleuch-
ten, der einsieht, daß man sich nicht eher an die Erklä-
rung eines Phänomens wagen dürfe, bis man solches auf
seine einfachsten Elemente zurückgeführt hat.
Vierundzwanzigster Versuch (^Fig.25)
47. Wir können nunmehr nicht irre werden, wenn wir künf-
tighin schwarz und weiße Tafeln an der Wand aufhängen:
denn wir dürfen den schwarzen Kreis, in dem wir stehen,
nur in Gedanken in eine ausgehöhlte Halbkugel verwan-
deln und supponieren, daß dieselbe weiß eingefaßt sei, so
werden wir zwischen Schwarz und Weiß durchs Prisma
den farbigen Rand nach obigen Gesetzen so gut in der
Höhe als vorher auf dem Boden erblicken.
48. So sind also folgende Ausdrücke synonym:
Schwarz unten nach innen
— ,, oben. nach außen.
Weiß unten nach innen
— ,, oben. nach außen.
Der brechende gegen den
Winkel des Beobachter zu.
Prisma nach
unten.
Derselbe Von dem
nach oben. Beobachter ab.
farbenerschf:inungen bei Refraktion 413
49. Die Zweckmäßigkeit und Konsequenz des bisherigen
Vortrags wird hoffentlich allen Liebhabern einleuchten,
welche die nötigen Werkzeuge zur Hand nehmen und die
Versuche genau wiederholen wollen. Sie werden sich mit
mir über folgende übereinstimmende Erfahrungen ver-
einigen:
1. Die Farbenerscheinung läßt sich nur an Rändern se-
hen; auf den Flächen, sie seien schwarz oder weiß, sehen
wir nicht die mindeste apparente Farbe, sondern sie er-
scheinen uns nach der Refraktion wie vorher.
2. Der eine Rand erscheint jederzeit gelb und gelbrot,
der andere blau.
3. Wir bemerken an dem gelben Rand, daß das Gelbe
nach dem Weißen zu und das Gelbrote nach dem Schwar-
zen zu strahlt. An dem blauen Rande bemerken wir bei
den ersten Versuchen nur ein reines Blau, das nach dem
Weißen strahlt, die letzteren Versuche durch die Prismen
aber, bei welchen die Erscheinung sich stärker zeigt, zei-
gen uns mit den übrigen Farben ein Violett, das nach dem
Schwarzen strahlt.
ZWEITES KAPITEL
Unter welchen Bedingungen der Grad der
Farbenerscheinung vermehrt wird
50. Nachdem wir nun die einfachsten Erscheinungen und
ihre Bedingungen beobachtet haben, so dürfen wir wagen,
zu komplizierteren Phänomenen überzugehen, und zwar
nehmen wir zuerst die Vermehrung des Grades der Er-
scheinung vor.
Fünfundzwanzigster Versuch {Fig. 26)
5 1 . Wi r haben oben bemerkt, daß bei parallelen Mitteln eine
gewisse schiefe Richtung gegen das Mittel und das Bild
erfordert werde, wenn die Farbenerscheinung sich zeigen
soll. Vermehrt man nun die schiefe Richtung des Auges
gegen die Oberfläche des brechenden Mittels, so wird
auch die Farbenerscheinung vermehrt. Es sehe z. B. ein
Auge in A durch das Mittel ab nach den Rändern cd, so
414 CHROMATIK
wird es daran Farben erblicken, wenn die Ränder ^/noch
farblos erscheinen. Dagegen wird ein Auge in B die Rän-
der ^/farbig, die Ränder cd aber breiter gefärbt erblicken.
Die erste Bedingung der verstärkten Farbenerscheinung
ist also: schiefere Richtung des Auges gegen die Oberfläche
paralleler Mittel, in welchen wir bei einfacher oder
durch welche wir bei doppelter Brechung die Objekte
erblicken.
Sechsundzwanzigster Versuch {Fig. 2y)
5 2 . Ferner bemerken wir bei einer doppelten Brechung, so-
bald das Mittel aufhört parallel zu sein, daß die Farben-
erscheinung sich gleichfalls verstärkt, z. B. wenn das Auge
in A durch das Mittel ab den Gegenstand cd betrachtet
und die farbigen Ränder desselben wahrgenommen hat,
so hebe man das Gefäß dergestalt in die Höhe, daß der
Boden mit der Wasserfläche einen spitzen Winkel macht,
und halte übrigens die Entfernung des Bildes so viel als
möglich gleich, so wird man alsbald die Ränder zwar nach
demselben Gesetze wie vorher, jedoch viel stärker gefärbt
sehen. Es wird sich künftig, wenn Maß und Berechnung
uns zu Hülfe kommen, zeigen, was eigentlich hier vorgeht,
ob auch hier eine größere Schiefe bewirkt wird? oder ob
sich etwas anderes darein mischt?
Die zweite Bedingung der Farbenvermehrung ist also die
Winkelgestalt des Mittels.
Siebenundzwanzigster Versuch
53. Die dritte Art den Grad der Erscheinung zu vermehren
ist: wenn das Mittel verdickt wird, es sei nun parallel oder
im Winkel. Man sehe auf die unter dem Wasser liegenden
Ränder unter einer gewissen Richtung. Man behalte seinen
Platz und gieße mehr Wasser ins Gefäß, so wird die Er-
scheinung, wenn sie vorher nicht da war, entstehen oder,
wenn sie schon bemerklich war, sich verstärken. Ingleichen
wird ein Prisma, dessen brechender Winkel mehrere Grade
hat, in eben der Entfernung von dem Gegenstand breitere
Farben zeigen als ein spitzwinkliges. Ob man nun sagen
könne, daß bei dieser dritten Bedingung auch die Brechung
FARBENERSCHEINUNGEN BEI REFRAKTION 415
vermehrt werde, indem das Phänomen an Stärke zunimmt,
oder ob ein ander Verhältnis des Gegenstands oder des
Mittels daran Ursache sind, wird künftiger Untersuchung
überlassen.
54. Der vierte Fall, in welchem die Farbenerscheinung
sich in einem hohen Grade vermehrt, ist, wenn man das
winklige Mittel, durch welches wir schauen, von dem Ge-
genstande, den man beobachtet, nach und nach entfernt,
und hier treten eigentlich erst diejenigen Versuche ein,
welche man sonst per excellentiam prismatische Versuche
zu nennen pflegt.
55. Man nehme ein spitzwinkliges Prisma vor die Augen
und beschaue dadurch einen kleinen weißen Kreis auf
schwarzem Grunde, so wird man die Ränder nach obigen
Gesetzen gefärbt sehen. {Achtundzwanzigster Versuch.
Fig. 28.) Man entferne sich von dem Gegenstande, so
werden die Ränder breiter werden und mehr in das
Schwarze und Weiße hineinstrahlen. [N eunmidzwanzigster
Versuch. Fig. 2g.) Weil man aber, um die Erscheinung zu
vermehren, sich allzuweit von dem Gegenstande entfernen
müßte, wodurch derselbe, so wie die Ränder, besonders
bei nicht ganz reinen Gläsern, einigermaßen trübe wird,
so nehme man gleich ein gewöhnliches gleichseitiges
Prisma, trete ganz nahe zu dem Gegenstand, und man wird
nur die Ränder wie durch das spitzwinklige gefärbt er-
blicken. [Dreißigster Versuch.) Entfernt man sich, so ver-
mehren sich die Strahlen der Ränder, und diese Strahlen
reichen endlich zusammen und fangen an, einander der-
gestalt zu decken, daß auf der weißen Fläche durch die
Mischung von Gelb und Blau Grün entsteht, auf einer
schwarzen durch die Mischung von Gelbrot und Blaurot
ein Purpur erscheint. {EinunddreißigsterVersuch. Fig. 30.)
Bei noch weiterer Entfernung und sehr schmalen Gegen-
ständen decken sich die innern entgegengesetzten Farben
vollkommen, und die Erscheinung[en] dieser drei Fälle
sind folgende, vorausgesetzt, daß der brechende Winkel
des Prismas unter sich gekehrt ist. {Zweiunddreißigster
Versuch. Fig.31.)
41 6 CHROMATIK
Erster Fall
Die Ränder stehen gegeneinander über:
Phänomen a und c Phänomen b und d
Fig. 28 und 29 Fig. 28 und 29
Gelbrot Blau
Gelb Blaurot
Weiß Schwarz
Blau Gelbrot
Blaurot Gelb.
Zweiter Fall
Die Strahlungen der Ränder fangen an sich zu decken:
Phänomen e Phänomen/
Fig. 30 Fig. 30
Gelbrot Blau
Gelb Blaurot
Grün Purpur
Blau Gelbrot
Blaurot Gelb.
Dritter Fall
Die Strahlungen der Ränder haben sich vollkommen ge-
deckt:
Phänomen g Phänomen //
Fig. 31 Fig. 31
Gelbrot Blau
Grün Purpur
Blaurot Gelb.
Was die beiden ersten Fälle betrifft, so habe ich solche
in ihrem ganzen Umfange und mit allen ihren Abwechse-
lungen in meinen optischen Beiträgen ausgeführt und darf
also wohl dorthin verweisen. Der dritte Fall aber ist delikat
zu beobachten. Es sollen die Umstände und Vorrichtungen
bei und zu diesem zarten Versuche und die zu beobachten-
den Kautelen von mir besonders vorgetragen werden.
56. Entfernung vom Gegenstande bei nicht parallelen Mitteln
ist also die vierte Bedingung, unter der sich das Phäno-
men mächtiger sehen läßt. Hier scheint nun die Verstär-
kung nicht aus einer vermehrten Refraktion herzukommen:
FARBENERSCHEINUNGEN BEI REFRAKTION 417
denn man stelle zwei Gegenstände dergestalt hinterein-
ander, daß sie sich beinahe im Auge decken, und betrachte
sie durchs Prisma, so wird die Brechung beide in gleichem
Grade von der Stelle rücken, der entfernte hingegen wird
proportionierlich farbiger erscheinen als der erste.
57. Die nähern Umstände und die nächste Ursache dieser
Erscheinung werden uns bei den objektiven Versuchen
durch den Augenschein deutlicher werden, anstatt daß
wir bei subjektiven nur die Wirkung bemerken. Ich be-
ziehe mich also, was diesen Punkt betrifft, auf eine dort
vorzutragende Ausführung. Haben wir nun bei diesen vier
Bedingungen, welche ich samt und sonders der Aufmerk-
samkeit der Beobachter empfehle, mehr oder weniger zu
zweifeln Ursache gehabt, ob die Refraktion in demselben
Grade vermehrt werde, als die Farbenerscheinung zunimmt,
so finden wir dagegen eine fünfte Bedingung, welche ganz
unabhängig von stärkerer oder schwächerer Refraktion
uns eine vermehrte oder verminderte Farbenerscheinung
zeigt.
58. Es ist diese merkwürdige Bedingung erst in unsern
Zeiten entdeckt und nach mancherlei Widerspruch end-
hch durch Versuche unumstößlich dargetan worden. Ich
sehe mich genötigt, die Geschichte zu Hülfe zu nehmen,
um für weniger unterrichtete Liebhaber der Naturlehre
deutlich werden zu können.
59. Es hatte Newton festgestellt, daß das weiße farblose
Licht zusammengesetzt und teilbar sei, und zwar daß sol-
ches besonders durch Refraktion geteilt, gespalten, zer-
streut werde. Aus dieser Lehre, welche er durch mehrere
Versuche darzutun glaubte, folgte natürlich, daß Stärke
und Schwäche der Farbenerscheinung mit der Stärke und
Schwäche der Refraktionskraft gleichen Schrittes gehe:
denn warum sollte die Wirkung der Ursache nicht pro-
portioniert sein? Auch waren mehrere Versuche dieser
Meinung günstig, wie denn z. B. Wasser eine geringere
Refraktionskraft und geringere Farbenerscheinung als das
Glas bemerken läßt.
60. Newton bestärkte sich in dieser Idee, welche aus sei-
ner Theorie unmittelbar folgte, durch einen Versuch, wel-
GOETHE XVII 27.
41 8 CHROMATIK
eher beweisen sollte: daß die Farbenerscheinung niemals
anders aufgehoben werden könne, als wenn durch eine ent-
gegengesetzte Refraktion zugleich die Wirkung der ersten
Brechung aufgehoben würde.
6i. Es dauerte achtzig Jahre, bis man den Irrtum und die
Unzulänglichkeit desVersuches entdeckte, obgleich so viele
Gelehrte und gelehrte Gesellschaften in diesem Zeiträume
behaupteten: die Newtonischen Versuche wiederholt, rich-
tig befunden und so sich von der Wahrheit seiner Sätze
überzeugt zu haben. Endlich kam man auf einem sehr
sonderbaren Wege zur Entdeckung: daß die Refraktions-
kraft mit der Kraft, die Farbenerscheinung darzustellen,
in keinem Verhältnis stehe, so daß ein paar Mittel ein-
ander an Refraktionskraft gleich, an Kraft die Farben -
erscheinung zu bewirken ungleich sein könnten, daß der
umgekehrte Fall ebensogut stattfinden könne, daß man
die Farbenerscheinung in einem Mittel vermehren und
vermindern könne, ohne daß die Refraktionskraft in glei-
chem Grade verändert werde, daß man also nicht, wie man
bisher geglaubt, sobald man die Refraktionskraft eines
Mittels wisse, auch nun die Stärke der Farbenerscheinung
nach der bekannten Formel ausrechnen könne, sondern
daß man erst, wenn man durch Versuche sich mit der
Refraktionskraft eines Mittels bekannt gemacht, neue Ver-
suche anzustellen habe, um zu erforschen, welche Kraft
die Farbenerscheinung mehr oder weniger darzustellen
das Mittel besitze, genug, daß die farbendarstellende Kraft
als von der Refraktionskraft unabhängig angesehen werden
könne.
62. Hier wird uns nun unsere gewohnte Art, Ränder durch
Prismen zu betrachten, sehr zustatten kommen: denn man
beschaue z. B. durch ein Prisma von Flintglas, als welches
die Farbenerscheinung am heftigsten hervorbringt, einen
weißen Kreis auf schwarzem Grunde, und denselben gleich!
darauf, ohne den Ort zu verändern, durch ein Prisma von
gemeinem Glase von gleichen Graden: so wird er im ersten
Falle schon ganz mit Farben überdeckt sein, da in dem
zweiten die weiße Mitte noch deutlich zu erkennen ist.
Die fünfte Bedingung der Farbenverbreiterung ist also ob-
FARBENERSCHEINUNGEN BEI REFRAKTION 419
erwähnte Eigenschaft der brechenden Mittel^ welche von
der Refraktion wo nicht unabhängig, doch außer allem
Verhältnisse mit ihr wirkt, eine Eigenschaft, die wir üb-
rigens noch nicht näher kennen,
63. Diese fünf Bedingungen, wodurch die Farbenerschei-
nung bei Gelegenheit der Refraktion vermehrt wird, sind
mir bisher bekannt geworden. Wie wichtig es sei, sie ge-
nau zu kennen und zu beobachten, wird uns erst bei der
Anwendung recht deutlich werden.
Ich gehe nunmehr zu den Bedingungen über, unter wel-
chen die Farbenerscheinung vermindert wird.
Unter welchen Bedingungen, bei fortdauernder
Begrenzung des Gegenstandes, der Grad der
Farbenerscheinungen vermindert wird
64. Zuerst ist offenbar, daß man die fünf in dem vorigen
Abschnitte angezeigten Bedingungen der Vermehrung un-
serer Farbenerscheinung nur stufenweise aufheben oder
rückgängig machen dürfe, um auch die Farbenerschei-
nungen auf eben dem Wege wieder zu vermindern, wie
wir sie vermehrt haben. So darf man also nur auf das
brechende parallele Mittel unter einem Winkel von mehre-
ren Graden sehen, man darf den Winkel des Prismas ver-
mindern, man darf von der Dicke des parallelen Mittels
etwas hinwegnehmen, sich mit dem Prisma vorm Auge
dem Gegenstande nähern oder durch chemische Ver-
mischung die Kraft der Farbenerscheinung in dem Mittel
schwächen, so wird jederzeit unter übrigens gleichen Um-
ständen der Grad der Farbenerscheinung verringert zu be-
merken sein. Es sind aber noch einige Mittel übrig, den
Grad der Farbenerscheinung zu verringern, welche ich je-
doch, um des Zusammenhangs willen und um mich nicht
zu wiederholen, erst in dem folgenden Abschnitt, zu wel-
chem ich sogleich übergehe, vorzutragen für rätlich finde.
420 CHROMATIK
Unter welchen Bedingungen, bei fortdauernder
Begrenzung des Gegenstandes, die Farben-
erscheinung gänzlich aufgehoben wird
65. Wir hatten uns in dem ersten Abschnitte überzeugt, daß
Refraktion an und für sich keine Farbenerscheinung her-
vorbringe, wir hatten zu Anfange des zweiten Abschnitts
dem Bilde, das wir durch Refraktion betrachteten, schon
entschiedene Grenzen gesetzt und fanden die Grenzen
des weißen Kreises auf schwarzem Grunde noch immer
farblos, wenn wir das Auge senkrecht auf dessen Mittel-
punkt richteten. Wir werden uns also um so weniger ver-
wundern, wenn uns noch unter verschiedenen Umständen
gelingt, die Farbenerscheinung aufzuheben, ohne daß die
Refraktion zugleich zessiere.
Dreiunddreißigster Versuch (Fig. 32)
66. Man lege zwei spitzwinklige Prismen aufeinander und
verschaffe sich dadurch ein paralleles Mittel, man sehe
durch solches nach dem eingeschränkten Gegenstande,
dergestalt daß das Auge senkrecht auf dem Diameter des
Kreises stehe, und man wird die Ränder des Kreises farb-
los erblicken.
67. {Fig. 33 u. 34.) Man ziehe nun die beiden Keile aus-
einander und schaue durch jeglichen besonders, so wer-
den die Ränder nach den oben angeführten Gesetzen ge-
färbt erscheinen.
Vierunddreißigster Versuch (Fig. 35)
68. Schöbe man beide gleiche Keile abermals voreinander,
so würde die Farbenerscheinung wieder ganz aufgehoben
werden; brächte man aber einen Keil von gleicher Glas-
art, aber von geringerem Winkel hinter den ersten, so
würde die Wirkung des ersten Keiles durch die Wirkung
des zweiten geschwächt, aber nicht aufgehoben. Die Far-
benerscheinung würde also nach dem Gesetze des stär-
keren Prismas sich zeigen, abgezogen die Wirkung, welche
das schwächere Prisma ausüben würde, wenn man allein
durchschaute.
FARBENERSCHEINUNGEN BEI REFRAKTION 421
69. {Fig. 36.) Dieses Phänomen ließe sich auch, wenn die
Refraktionskraft und Farbenerscheinung gleichen Schrittes
ginge, begreifen: denn wenn ichdemPrismaü!/^^ein anderes
Prisma von einem geringeren Winkel ac e entgegensetzte,
so ist es ebenso viel, als wenn ich nachher durch ein spitz-
winkligeres Prisma hindurchsähe, wie die verlängerten Li-
nien acd\xr\A <^<:^ ausweisen, indem eine stärkere Refrak-
tion in dem ersten als in dem andern Falle stattfindet.
70. Allein hier kann nun der Fall der fünften Bedingung
eintreten, daß z. B. die Glasart des kleineren Prisma ä!<r^
eine stärkere Kraft hat, die Farbenerscheinungen zu zeigen,
als die Glasart des großen ab c, beide Mittel aber an Re-
fraktionskraft gleich sind. Hier bleibt also eine doppelte,
nicht parallele Refraktion übrig, welche wir sonst mit einer
sehr lebhaften Farbenerscheinung verbunden fanden; allein
wir sehen diesmal, wenn wir durch diese in gehöriger Pro-
portion zusammengesetzte Mittel hindurch nach unserm ge -
wohnlichen Objekte blicken, nicht die mindeste Farben-
erscheinung an den Rändern, ob wir gleich das Bild sehr
stark von seinem Platze geruckt sehen. So hilft uns also
die fünfte Bedingung, die Farbenerscheinung zu vermehren,
welche wir oben kennen lernten, hier die Farbenerschei-
nung gänzlich aufheben, bei Fällen, wo die Refraktion noch
ihre völlige Wirkung äußert.
7 1 . Es bleibt uns noch ein wichtiger Fall zu bemerken
übrig, wo wir die Entfernung des Prismas vom Gegenstande,
welche uns oben als ein vorzügliches Mittel, die Farben-
erscheinung zu vermehren, bekanntgeworden, gebrauchen
können, um die Farbenerscheinung bei bestehender Re-
fraktion gleichfalls völlig aufzuheben. Ich muß, um auch
hier deutlich zu werden, einiges schon mehrmals Beob-
achtete abermals wiederholen.
72. {Fig. 32.) Es schaue ein Auge durch ein aus zwei Pris-
men zusammengesetztes Parallelepipedum in a nach dena
begrenzten Gegenstande in d, so werden die Ränder farb-
los erscheinen, ein gleiches wird sich zeigen, wenn Auge
und Parallelepipedum sich nach b und c bewegen.
73. {Fig. 33.) Es schaue das Auge durch das spitzwinklige
Prisma in a nach dem Gegenstande in d, so wird derselbe
42 2 CHROMATIK
nach dem bekannten Gesetz gefärbt erscheinen. Die gleiche
Erscheinung, jedoch proportionierhch schwächer, wird
fortdauern, wenn Aug und Prisma sich dem Gegenstande
nähern und nach b und c hinrücken, wie oben umständ-
lich ausgeführt worden ist.
74. [Fig. 34.) Sieht das Auge durch ein spitzwinklichtes
Prisma, das in entgegengesetzter Richtung aufgestellt ist,
nach demselben Gegenstande, so wird die Erscheinung
umgekehrt und gleichfalls in ab und c in einer der Ent-
fernung proportionierten Breite gesehen werden.
Fünfunddreißigster Versuch {Fig. sy)
75. Setzt man nun also zwischen das Prisma in a, wodurch
das Auge hindurchsieht, und den Gegenstand d ein Prisma
von gleichen Graden, aber in umgekehrter Richtung an
den Ort b, so daß das Auge nunmehr durch beide nach
dem Gegenstande d sieht, so wird das Auge die Ränder
des Gegenstandes d nach dem Gesetz des ihm nächsten
Prismas, nur nicht verhältnismäßig stark zu seiner Ent-
fernung erbhcken: denn das widersprechende Prisma in b
vermindert die Wirkung des Prisma in a um die Hälfte,
weil die Entfernung bd die Hälfte der Entfernung ad ist.
Das Auge sieht also durch die Prismen in a und b die
Farbenerscheinung nicht stärker, als wenn das Prisma a
allein in b stünde oder wenn sein Winkel nur die Hälfte
Grade enthielte.
Sechsunddreißigster Versuch {Fig. 38)
76. Von diesem merkwürdigenVerhältnis der Entfernungen
und der Winkel untereinander überzeugen wir uns aufs
vollkommenste, wenn wir in b ein entgegengesetztes Pris-
ma stellen, das den doppelten Winkel des Prisma in a hat,
und alsdann durch beide nach dem Gegenstande schauen,
man wird alsdenn die Ränder desselben völlig farblos er-
blicken.
77. Wird nun bei dem ersten und dritten Fall wo nicht
ganz, doch zum größten Teil in der Maße, wie die Far-
benerscheinung verschwindet, auch die Refraktion auf-
gehoben, so bleibt doch in dem fünften Falle die Refrak-
FARBENERSCHEINUNGEN BEI REFRAKTION 423
tion wenigstens um die ganze Hälfte des Prismas in b
übrig, wenn auch die andere Hälfte durch die entgegen-
gesetzte Wirkung des Prismas in a aufgehoben würde, und
der Gegenstand in d wird von seinem Orte gerückt und
doch farblos erscheinen.
78. Wir haben hier also den merkwürdigen Fall, daß wir
durch zwei Prismen von ei7ierlei Glasart, wenn wir nur
ihreWinkel und ihre EntfernungvomBildeproportionieren,
eine starke Refraktion beibehalten und die Farbenerschei-
nung doch aufheben können.
Siebenunddreißigster Versuch {Fig. 3g)
79. Daß man nun zu diesen einander in verschiedenen Ent-
fernungen entgegengesetztenPrismen von großen oder klei -
nen Winkeln auch verschiedene Glasarten nehmen könne, um
dieselbigen Effekte hervorzubringen, sieht man deuthch
ein. Gesetzt also, man hätte eine Glasart, deren farben-
zeigende Kraft noch einmal so groß wäre als die einer
andern Glasart: so könnte man in b ein Prisma von glei-
chen Graden wie das in a umgekehrt hinstellen, und der
Gegenstand in d würde farblos erscheinen, es möchte von
Refraktion was da wolle übrigbleiben.
80. {Fig. 3g.) Es folgt hieraus, daß man auf diesem Wege
eine sehr bequeme Art finde, zwei Glasarten gegeneinander
zu messen, inwiefern ihre Gewalt, die Farbenerscheinung
zu verstärken, gegeneinander proportioniert sei: denn man
darf nur ein spitzwinkliges Prisma in a stellen und ein an-
deres von gleichem Winkel entgegengesetzt zwischen a und
d hin und her bewegen und auf der Linie cd, die in sehr
genaue Maße eingeteilt sein kann, den Punkt bemerken,
wo die Farbenerscheinung gänzlich zessiert, so wird sich
alsdenn die Berechnung leicht anstellen lassen, welchen
Winkel das Prisma von der stärkern Glasart haben müsse,
um unmittelbar mit dem Prisma von der schwächern Glas-
art verbunden den Gegenstand farblos darzustellen.
81. Hat man sich nun einmal diese Erscheinungen und
ihre Bedingungen in ihrer natürlichen Folge vorzustellen
gewöhnt, so wird man die nutzbare Anwendung derselben
in vielen Fällen nach und nach zu entwickeln wissen, uns
424 CHROMATIK
sei tür diesmal genug, nur einen flüchtigen Rückblick zu
tun. Wir haben zuerst durch Erfahrungen dargetan, daß
Refraktion an und für sich keine Farbenerscheinung, und
zwar in subjektiven sowohl als objektiven Fällen hervor-
bringe. Wir haben sodann gefunden, daß eine Begrenzung
des Bildes nötig sei, um unter gewissen Umständen die
Farbenerscheinung darzustellen. Wir haben ferner die Be-
dingung aufgesucht, unter welcher sich die Farbenerschei-
nung vermehrt, wir haben sie auf ihrem höchsten Grade
gesehen, wir sind ebenso wieder zurückgeschritten und
haben sie zuletzt völlig verschwinden sehen, ohne daß die
Beschränkung des Bildes aufgehoben oder die Refraktions-
kraft vernichtet worden wäre.
82. Nimmt man alles zusammen, so finden sich weit we-
niger Fälle, wo Refraktion und Farbenerscheinung ver-
bunden sind, als Fälle, in welchen die Refraktion wirkt,
ohne Farbenerscheinung zu zeigen.
83. Von diesen subjektiven Versuchen, welche jeder Be-
obachter ohne große Umstände wiederholen kann, gehen
wir zu den objektiven über, welche, ob sie gleich nichts
weiter aussprechen, als was uns schon bekannt ist, dennoch
sorgfältig von uns durchzugehen sind. Wir werden so viel
als möglich die Vorrichtungen dazu gleichfalls simpli-
fizieren, um jeden Liebhaber instand zu setzen, sich durch
den Augenschein von der Wahrheit unseres Vortrags über-
zeugen zu können.
[DIE ENTOPTISCHEN FARBEN]
VORWORT
[Zur Naturwissenschaft überhaupt. Ersten Bandes erstes Heft. 1817]
INDEM ich die auf Bildung und Umbildung organischer
Naturen sich beziehenden älteren Papiere aneinander zu
reihen und einigermaßen brauchbar zu machen gedenke,
kommt gar manches andere zur Hand, welches abzulehnen
nicht rätlich scheint. Denn mich belehrte die Erfahrung,
daß der eifrigste Liebhaber im wissenschaftlichen Felde
gerade so wenig vollbringt, weil er erst ein Fach durch-
zuarbeiten und abzuschließen gedenkt, um das Geleistete
dem Publikum mit Zutrauen vorlegen zu können. Gar man-
ches andere Verwandte jedoch drängt sich unterdessen
heran, auch das ist nicht zu entbehren, es wird aufgefaßt,
behandelt, bearbeitet, aber zuletzt auch wieder beseitigt,
das Interesse wendet sich wo anders hin, und jeder ein-
zelne Teil des Kreises kommt erst nach Jahren ernstlich
wieder an die Reihe.
Jährliche Sommerreisen erneuerten die Neigung zur Geo-
logie, manche Bemerkung, die im Reiche des Wissens hätte
fruchten können, liegt unbenutzt seit langer Zeit bei mir.
Zur Kenntnis der böhmischen Gebirge habe manches zu-
sammengetragen, und besonders die Zinnformation be-
achtet, ich lasse dahermanchen früheren Aufsatz abdrucken,
um spätere daran zu schließen.
Das vielleicht nie zu lösende Rätsel: die Entstehung der
Gänge, liegt mir immer im Sinne, und ich kann mich nicht
enthalten, lieber nur eine Annäherung an das Verständnis
zu versuchen, als mich mit faßhch scheinenden Erklärungen
einzuschläfern. Hievon wünsche gleichfalls Rechenschaft
zu geben.
Die Farbenlehre ward bisher im stillen immer eifrig be-
trieben; die Richtigkeit meiner Ansichten kenne ich zu
gut, als daß mich die Unfreundlichkeit der Schule im min-
desten irremachen sollte, mein Vortrag wirkt in verwandten
Geistern fort, wenige Jahre werden es ausweisen, und ich
denke zunächst auch ein Wort mitzusprechen.
Die Farbenerscheinungen, von meinem vieljährigen Freun-
de und Mitarbeiter Doktor Seebeck entdeckt und von ihm
42 6 CHROMATIK
entoptisch genannt, beschäftigen mich gegenwärtig aufs leb-
hafteste. Die Bedingungen immer genauer zu erforschen,
unter welchen sie erscheinen, sie als Komplement meiner
zweiten, den physischenFarben gewidmeten Abteilungauf-
zuführen, ist meine gewissenhafte Sorgfalt. Denn wie sollte
das aufgeklärte Jahrhundert nicht bald einsehen, daß man
mit Lichtkügelchen, denen Pol und Äquator angedichtet
ward, sich nur selbst und andere zum besten hat.
Da nun aber in der Naturwissenschaft das Historische dem
Didaktischen, so wie dieses dem Dogmatischen vorangehen
soll, so habe ich meinen verdienten Freund ersucht, selbst
Nachricht und Kenntnis zu geben, wie er zu jener Ent-
deckung gelangt, und unter welcher Rücksicht ihm der
Preis von dem Institut zugeteilt worden. Dieser Aufsatz
geht voran, hernach folgen noch zwei, deren erster die
Phänomene des Doppelspats, der andere die bei Gelegen-
heit der Untersuchung jener merkwürdigen Bilderverdop-
pelung erst uns bekannt wordenen entoptischen Farben
nach meiner Überzeugung und nach den Maximen meiner
Farbenlehre auszusprechen bemüht sein wird.
DIE ENTOPT. FARBEN: EIN AUSW. FREUND 427
EINEM AUSWÄRTIGEN FREUND
[Zur Naturwissenschaft überhaupt. Ersten Bandes erstes Heft. 18 17]
IN dem Zeitraum zwischen Ostern und Pfingsten, den ich
hier zubringe, ward ich von allen Seiten wissenschaftlich
angeregt, und habe, mit Heiterkeit, meine alten Papiere
wieder vorgenommen, welche zu benutzen ich einige
Schwierigkeit jetzt wie sonst finde. Man fühlt wohl das
frühere Bestreben, ernst und tüchtig zu sein, man lernt
Vorzüge an sich selbst kennen, die man jetzt vermißt, dann
aber sind doch reifere Resultate in uns aufgegangen, jene
Mittelglieder können uns kein rechtes Interesse mehr ab-
gewinnen. Dazu kommt noch, daß das Jahrhundert, auf
rechten und falschen Wegen, nach allen Seiten in die Breite
geht, so daß eine unschuldige. Schritt vor Schritt sich be-
wegende Naivität, wie die meinige, vor mir selbst eine
wundersame Rolle spielt. Wie ich mich bei diesen Bemü-
hungen verhalte, sehen Sie am besten aus einigen gedruck-
ten Bogen, durch die ich das, was Sie schon kennen, zu-
sammenknüpfe. Möge das Ganze Ihnen und andern so
treuen Freunden angenehm und nützlich sein.
Jena, den 27. Mai 18 17.
42 8 CHROMATIK
Möget ihr das Licht zerstückeln,
Färb um Farbe draus entwickeln,
Oder andre Schwanke führen,
Kügelchen polarisieren.
Daß der Hörer ganz erschrocken,
Fühlet Sinn und Sinne stocken.
Nein! Es soll euch nicht gelingen.
Sollt uns nicht beiseite bringen.
Kräftig wie wirs angefangen.
Wollen wir zum Ziel gelangen.
GESCHICHTE DER ENTOPTISCHEN FARBEN
[Zur Naturwissenschaft überhaupt. Ersten Bandes erstes Heft. 1817]
DIE erste Nachricht von den interessanten Entdeckungen
des Herrn Malus über Spiegelung und doppelte Strah-
lenbrechung erhielten wir durch das Bulletin de la Soc.
Fhilomatique l8og Janvier ^ ein Auszug aus einer Abhand-
lung des Herrn Malus, welche am i2ten Dezember 1808 im
Institut de France war vorgelesen worden. 18 10 erschien
dessen TMorie de la double Rifraction, und 1 8 1 1 im Mo-
niteurNr. 72, 73, 243, 247 Auszüge aus mehreren neuern
Abhandlungen der Herren Malus, Biot und Arago über
denselben Gegenstand. Diese waren mir bekannt, als ich
in der Mitte des Augusts 181 2 die ersten Versuche über
jene merkwürdigen Erscheinungen anzustellen begann. Es
war von den französischen Physikern bereits entdeckt, daß
die verdoppelnden Kristalle die Eigenschaft besitzen, die
in Malus' Apparat bei sich kreuzender Lage der Spiegel
aufgehobene Spiegelung, oder aufgehobene Doppelbilder
der Kalkspate wiederherzustellen, wobei von Herrn Arago
zuerst an Glimmer, Gips und Bergkristall ein Farbenwechsel
in den beiden Bildern eines Doppelspat- oder Bergkristall-
prisma bemerkt worden war. Dieselbe Wirkung hatte Malus
an mehreren organischen Körpern wahrgenommen. Den
einfach brechenden Körpern hingegen, fand er, fehle diese
Eigenschaft der kristallisierten, so wie rekristallisierten.
Doch an einemKörper aus dieser letztern Klasse, am Glase,
und zwar an einem etwas prismatischen Flintglase, hatte
Herr Arago eine ähnliche Wirkung wahrgenommen wie
am Glimmer und Bergkristall. Dieses, sagt er im Moni-
teur 181 1 Nr. 2 43, depolarisierte in allen Stellen dieLicht-
strahlen, und auch hier erschienen die beiden Bilder des
Kalkspates bisweilen in entgegengesetzten Farben, doch
DIE ENTOPT. FARBEN: GESCHICHTE 429
mehrenteils farblos. Dasselbe hatte ich Gelegenheit an
einigen dicken Gläsern zu bemerken; ich fand aber auch,
daß nicht alle Stellen derselben gleich wirkten, daß einige
die Spiegelung und die Doppelbilder herstellten, andere
nicht, und daß, wenn eine Stelle bei veränderter Rich-
tung des Glases das Vermögen der Wiederherstellung ver-
lor, ein anderer Punkt dasselbe erhielt, welcher vorher
unwirksam gewesen war. Ja was noch merkwürdiger: bei
unveränderter Richtung des Glases gegen die übrigen Teile
des Apparates stellten einzelne Punkte das ordinäre Bild
des Doppelspates, andere das extraordinäre und mehrere
das Doppelbild wieder her. Die Neuheit dieser Erfahrung
und die Aussicht, welche sich hier zu näheren Aufschlüssen
über die Bedingungen und Gesetze der doppelten Strah-
lenbrechung überhaupt, oder doch mindestens über die
Wirkung der verdoppelnden Kristalle im Spiegelungs-
apparat zu eröffnen schienen, forderten zur genausten
Untersuchung dieser Erscheinungen auf. An einem Glas-
würfel entdeckte ich zuerst eine gesetzmäßige Folge in
Wiederherstellung und Aufhebung der Bilder des Kalk-
spates, der einzelnen sowohl als der doppelten, und be-
stimmte genau die Punkte, an welchen die eine oder die
andere Wirkung eintritt, und zwar für jede Hauptrichtung
des Würfels. Welchen Einfluß die äußere Gestalt der Kör-
per auf die Erscheinungen habe, war der nächste Gegen-
stand der Untersuchung, und ich fand, daß, wie die äußere
Form der Glaskörper verändert werde, auch die Lage der
herstellenden Punkte sich verändere. An mehreren Wür-
feln, Zylindern, drei- und vierseitigen Prismen, Kegeln
und Halbkugeln wurden nun die verschieden wirkenden
Punkte bezeichnet. Diese und alle übrigen, § 6 bis 16
meiner ersten Abhandlung in Schweiggers Journal für Che-
mie und Physik B. VII, Heft 3 angeführten Beobachtungen
wurden gemacht, ehe ich noch die Figuren^ welche ich
später entoptische genannt habe, gesehen hatte. Mein erster
Spiegelungsapparat hatte nämlich die unbequeme Ein-
richtung, daß das Licht durch eine kleine Öffnung eines
nahe vor den ersten Spiegel befestigten Schirmes fiel, wel-
cher nicht zurückgeschlagen werden konnte; es war daher
L
43° CHROMATIK
immer nur ein kleiner Raum der Glaskörper, kaum zwei
Linien im Durchmesser, erleuchtet, und so entdeckte ich
denn alle einzelne Teile der entoptischen Figuren, ohne
daß mir die ganzen Figuren zu Gesichte kamen. Schon
am 14. September 181 2 hatte ich in mein Tagebuch alle
die Erscheinungen, welche § 8 und 9 der angeführten Ab-
handlung beschrieben worden, nebst der dazu gehörenden
zweiten Figur Taf. I eingetragen. Erst nachdem andere
Untersuchungen mich auf den § 23 jener Abhandlung be-
schriebenen Brechungsapparat geführt hatten, erblickte ich
in diesem am 21. Februar 18 13 zum erstenmal die voll-
ständigen entoptischen Figuren, welche auf der zweiten
Tafel u. a. O. abgebildet worden sind. Und nun zeigte
sich, daß die Herstellung der aufgehobenen Spiegelung
sowohl als der Doppelbilder des Kalkspates nur an den
hellen Stellen der Figuren erfolge, an den dunkeln aber
wieder verschwinde, daß die Farbensäume an den Rän-
dern der dunkeln Teile, oder wo ein Helleres an ein Trü-
beres grenzt, entstehen, usw.
Deutlich wurde nun erkannt, daß es bei diesen Farben-
bildungen nicht auf die Dicke oder Dünnheit der Körper
ankomme, wie man früher aus den Erscheinungen vom
Glimmer und Gips geschlossen hatte, auch nicht auf die
prismatische Form der Gläser, sondern daß sie sich in ganz
parallelen Glaskörpern bei perpendikulär einfallendem
Lichte bilden. Ich zeigte, daß nicht alle Gläser gleiche
Farbenfiguren erzeugen, wenn sie auch in Form und Dicke
einander gleich sind, und daß die mehresten, wie z. B. ge-
wöhnliches Tafelglas und Scheiben von Spiegelglas keine
Figuren hervorbringen, auch nicht wenn mehrere über-
einander geschichtet werden. Es wurde ferner bemerkt,
daß die entoptischen Figuren sich verändern, wenn die
Glaskörper in andere Richtungen gegen die übrigen un-
veränderten Teile des Apparates gebracht werden, ja daß
ganz entgegengesetzte Figuren erscheinen, je nachdem die
beiden Spiegel des Apparates oder die beiden Scheiben-
säulen eine sich kreuzende oder €vnt gleichnamige Richtung
erhalten. Auch machte ich auf den Gegensatz aufmerksam,
welcher sich noch besonders zwischen Spiegelung und Bre-
DIR ENTOPT. FARBEN: GESCHICHTE 431
chung an den entoptischen Figuren zeigt, so daß ein Spiegel
und eine Scheibensäule, in gleichnamiger Richtung ver-
bunden, dieselbe Figur in dem zwischen ihnen befindlichen
Glaskörper hervorruft, wie zwei sich ^r^«2^«d?'^ Spiegel oder
Scheibensäulen; daß hingegen ein Spiegel und eine Schei-
bensäule, in sich kreuzenäerhsige verbunden, die entgegen-
gesetzte Figur, und zwar wie zwei gleichnamig gerichtete
Spiegel oder Scheibensäulen erzeuge. Später fand ich, daß
auch durch einfache Spiegel die entoptischen Figuren der
Glaskörper dargestellt werden können, daß aber immer
eine doppelte Beleuchtung dazu erforderlich sei. Wird z. B.
ein Spiegel gegen den klaren Himmel gekehrt und ein
Glaskörper davor gehalten, so vertritt der Himmel die
Stelle des zweiten Spiegels, und es entstehen in dem Glas-
körper entgegengesetzte Figuren, je nachdem die Sonne
dem Beobachter im Rücken oder zur Seite steht. Bei ganz
gleichförmig bedecktem Himmel erscheint auch in den
besten entoptischen Gläsern keine Figur, wenn nicht irgend
woher sonst ein reflektiertes Licht auf dieselben fällt, oder
vielmehr, wenn sie nicht irgendeinen spiegelnden Hinter-
grund haben, aufweichen ein lebhafteres Licht fallen muß.
Diese Beobachtungen und Versuche habe ich im dritten
Heft des Schweiggerschen Journals für Chemie und Physik
18 13 bekanntgemacht.
Mancherlei Störungen und andere Arbeiten unterbrachen
diese Untersuchungen. Lange bheb es unentschieden, von
welchen Bedingungen es abhänge, daß einige Gläser das
Vermögen der entoptischen Figurenbildung besitzen, an-
dere nicht, bis ich durch das plötzliche Zerspringen eines
schönen entoptischen Glases in mehrere Stücke, als davon
etwas mit der Scheibe heruntergeschnitten werden sollte,
und durch die wiederholten Klagen meiner Glasschleifer
über die Härte einiger Gläser, welche dazu als die vor-
züglichsten in Darstellung der entoptischen Figuren be-
funden wurden, auf die Vermutung kam, daß wohl nur
schnell abgekühlte und deshalb härtere und zerbrechlichere
Gläser ausschließend die Eigenschaft besitzen möchten,
entoptische Figuren zu bilden. Folgende Versuche wurden
nun angestellt.
ft
432 CHROM ATIK
Scheiben von Spiegelglas, welche keine Spur einer entop-
tischen Figur zeigten, wurden im Tiegel bis zum Rotglühen
erhitzt und ein Teil derselben an freier Luft abgekühlt,
ein anderer in bedeckten Tiegeln und in erwärmtem Ofen.
Es bestätigte sich, was ich erwartet hatte: die ersteren
bildeten entoptische Figuren, die letztern keine. Gläser,
welche vortreffliche entoptische Figuren erzeugten, wur-
den geglüht und langsam abgekühlt, sie hatten nun diese
Eigenschaft verloren. Gläser im glühenden Zustand zwi-
schen die Spiegel gebracht, zeigten keine Figuren; erst
im Abkühlen fingen sie an sich zu bilden. So war denn
der obenstehende Satz bestätigt. Von diesen Versuchen,
welche im Oktober i8 14 unternommen wurden, sowie von
mehreren andern, habeich in Schweiggers Journal für Che-
mie und Physik B. XII, S. i bis 17 Nachricht gegeben.
Von den letztern will ich hier nur noch einen ausheben,
welcher besonders beachtet zu werden verdient. Wenn ent-
optische Figurenscheiben von gleicher Art übereinander
geschichtet werden, so erscheinen neue und zusammen-
gesetztere Figuren, als jede Scheibe einzeln gezeigt hatte,
d. h. die entoptischen Farbenfiguren bilden sich durch das
Übereinanderschichten gleichartiger Scheiben immer wei-
ter aus. Späterhin fand ich, daß dies seine Grenze hat, und
daß über eine gewisse Zahl hinaus die Figur wieder schwä-
cher wird und endlich ganz verschwindet. Z. B. dreißig
bis vi erzig der vortrefiflichsten entoptischen Scheiben geben
keine Figur mehr, sie erscheinen im Spiegelungsapparat
so gleichförmig trüb als gutgekühlte Gläser.
Diese Entdeckungen sind es, für welche mir von dem In-
stitut de France die Hälfte des für 1 8 1 6 ausgesetzten Preises
zuerkannt wurde. Ich hatte mich um diesen Preis nicht
beworben; es war mir die Aufgabe sogar unbekannt ge-
blieben. Herr Arago hat das Institut zuerst auf meine Unter-
suchungen aufmerksam gemacht, wie ich vom Herrn Mi-
nister von Altenstein und Hrn. Prof. Schweigger erfahre,
denen er es selbst gesagt hat. Die erste Nachricht erhielt
ich von Herrn Biot, welcher mir im Dezember 18 15 an-
zeigte, daß eine Kommission des Instituts, zu welcher er
gleichfalls gehöre, eben im Begriff sei, über einen Preis
DIE ENTOPT. FARBEN: GESCHICHTE 433
für die besten zur allgemeinen Physik gehörigen Versuche
zu entscheiden, welche vor dem ersten Oktober 181 5 zur
Kenntnis des Instituts gelangt und nicht vor dem i. Ok-
tober 18 13 bekannt waren. Man habe meiner hierbei
gedacht; er forderte mich zugleich auf, ihm ein Exemplar
der Abhandlung zu senden, in welcher ich das Verfahren
beschrieben hätte, wie den Gläsern die Eigenschaft, ent-
optische Figuren zu erzeugen, nach Willkür erteilt und ge-
nommen werden könne. Noch ehe er meine Antwort er-
hielt, zeigte er mir an, daß er diese Abhandlung auf der
Königl. Bibhothek gefunden habe. Bald nachher erfolgte
die Erteilung des Preises, worüber das im Moniteur 1816
Nr. 10 eingerückte Programm des Institut de France fol-
gende nähere Angabe enthält.
La classe, aprls avoir entendu la cominission chargie d!exa-
miner les pieces qui pouvaient concourir, ajugi, d apres son
rapport, quHl convenait de par tager ce prix entre M. Seebeck
et M. Brewster. — M. Seebeck a dicouvert que toutes les
masses de verre, chauffies et ensuite rejroidies rapidement^
produisent des figures regulüres diversement colories, lors-
qu'elles sont interposies entre des piles de glace ou entre des
miroirs rißecteurs, combinis suivant la Methode de Malus.
II a vu en outre que les figures qui se produisent dans un
mime morceau devenaient diffirentes quand on en changeait
la forme. M. Seebeck a publii sa dlcouverte dans le Journal
de Physique de Schweigger, en 1813 et 1814, il a montri
que ces phinomlnes dlpendent de la rapiditi du refroidisse-
niejit, de sorte que Ion peut ainsi, par des rlchauffemens et
des refroidissemens convenables, donner ou oter au verre la
propriiti de produire des couleurs. — M. Brewster est auteur
dun grand nombre de mimoires insiris dans les Transactions
philosophiques, et qui sont compris dans les limites du con-
cours. II en a envoyi plusieurs autres en manuscrit. Parmi
les faits importans contenus dans ces mimoires, il en est beau^
coup qui ont Iti antirieurement ddcouverts et imprimis en
France; mais dans le nombre des risultats qui appartiennent
ä M. Brewster, les ccmmissaires ont splcialement distingui
le tratisport des couleurs de la nacre de perle, la formation
des couleurs compUmentaires par des riflexions successives
GOETHE XVII 38.
434 CHROMATIK
entre des surfacesmitalliques, et de diveloppement des plUno-
menes qiie M. Seebeck avait dicouverts. — Der ganze Preis
betrug 3000 Fr. Jeder von uns erhielt eine goldene Me-
daille mit seinem Namen, von 317 Fr. innerem Wert, und
II 83 Fr. in Silber.
Seebeck.
D.ENTOPT. FARBEN: WIRKG.D. DOPPELSPATS 435
DOPPELBILDER DES RHOMBISCHEN KALKSPATS
[Zur Naturwissenschaft überhaupt. Ersten Bandes erstes Heft. 1 8 1 7]
DA die entoptischen Farben in Gefolg der Untersuchung
der merkwürdigen optischen Phänomene des genann-
ten Minerals entdeckt worden, so möchte man es wohl dem
Vortrag angemessen halten, von diesen Erscheinungen und
von denen dabei bemerkbaren Farbensäumen einiges vor-
auszuschicken.
Die Doppelbilder des bekaimten durchsichtigen rhombi-
schen Kalkspats sind hauptsächlich deswegen merkwürdig,
weil sie Halb- und Schattenbilder genannt werden können,
und mit denjenigen völlig übereinkommen, welche von
zwei Flächen durchsichtiger Körper reflektiert werden.
Halbbilder hießen sie, weil sie das Objekt, in Absicht auf
die Stärke seiner Gegenwart, nur halb ausdrücken, Schat-
tenbilder, weil sie den Grund, den dahinter liegenden Ge-
genstand durchscheinen lassen.
Aus diesen Eigenschaften fließt, daß jedes durch den ge-
dachten Kalkspat verdoppelte Bild von dem Grunde par-
tizipiert, über den es scheinbar hingeführt wird. Ein weißes
Bildchen auf schwarzem Grunde wird als ein doppeltes
graues, ein schwarzes Bildchen auf weißem Grunde eben-
mäßig als ein doppeltes graues erscheinen; nur da wo beide
Bilder sich decken, zeigt sich das volle Bild, zeigt sich das
wahre, dem Auge undurchdringliche Objekt, es sei dieses
von welcher Art es wolle.
Um die Versuche zu vermannigfaltigen, schneide man eine
kleine viereckige Öffnung in ein weißes Papier, eine gleiche
in ein schwarzes, man lege beide nach und nach auf die
verschiedensten Gründe, so wird das Bildchen unter dem
Doppelspat halbiert, schwach, schattenhaft erscheinen, es
sei von welcher Farbe es wolle, nur wo die beiden Bild-
chen zusammentreffen, wird die kräftige volle Farbe des
Grundes sichtbar werden.
Hieraus erhellet also, daß man nicht sagen kann, das Weiße
bestehe aus einem doppelten Grau, sondern das reine ob-
jektive Weiß des Bildchens erscheint da, wo die Bildchen
zusammentreffen. Die beiden grauen Bilder entstehen nicht
436 CHROMATIK
aus dem zerlegten Weiß, sondern sie sind Schattenbilder
des Weißen, durch welche der schwarze Grund hindurch-
blickt und sie grau erscheinen läßt. Es gilt von allen Bil-
dern auf schwarzem, weißem und farbigem Grunde.
In diesem letzten Falle zeigt sich bei den Schattenbildern
die Mischung ganz deutlich. Verrückt man ein gelbes Bild-
chen auf blauem Grund, so zeigen sich die Schattenbilder
grünlich; Violett und Orange bringen ein purpurähnliches
Bildchen hervor; Blau und Purpur ein schönes Violett usw.
Die Gesetze der Mischung gelten auch hier, wie auf dem
Schwungrad und überall, und wer möchte nun sagen, daß
Gelb aus doppeltem Grün, Purpur aus doppeltem Orange
bestünde. Doch hat man dergleichen Redensarten wohl
auch schon früher gehört.
Das Unzulässige einer solchen Erklärungsart aber noch
mehr an den Tag zu bringen, mache man die Grundbilder
von Glanzgold, Glanzsilber, pohertem Stahl, man verrücke
sie durch den Doppelspat; der Fall ist wie bei allen übrigen.
Man würde sagen müssen: das Glanzgold bestehe aus dop-
peltem Mattgold, das Glanzsilber aus doppeltem Matt-
silber und der blanke Stahl aus doppeltem angelaufenen.
So viel von den Zwillingsbildern des Doppelspats, nun zu
der Randfärbung derselben! Hiezu eine Tafel. ^
Man lege den Doppelspat auf das Viereck A, so wird das-
selbe dem Betrachter entgegengehoben werden, und zwar
wie es auf der Tafel unmittelbar darunter gezeichnet ist.
Das helle Bild A ist in zwei Schattenbilder a und b ge-
trennt. Nur die Stelle c, wo sie sich decken, ist weiß wie
das Grundbild A. Das Schattenbild a erscheint ohne far-
bige Ränder, dagegen das Schattenbild b damit begrenzt
ist, wie die Zeichnung darstellt. Dieses ist folgendermaßen
abzuleiten und zu erklären. Man setze einen gläsernen
Kubus auf das Grundbild A und schaue perpendikulär
darauf, so wird es uns nach den Gesetzen der Brechung
und Hebung ohngefähr um ein Dritteil der Kubusstärke
entgegengehoben sein. Hier hat also Brechung und He-
bung schon vollkommen ihre Wirkung getan; allein wir
sehen an dem gehobenen Bild keine Ränder und zwar des-
^ Vgl. die erste Figur auf Seite 440.
D. ENTOPT. FARBEN: WIRKG.D. DOPPELSPATS 437
wegen, weil es weder vergrößert, noch verkleinert, noch
an die Seite gerückt ist. (Entwurf einer Farbenlehre § 196
[Seite 88].) Eben dies ist der Fall mit dem Bilde a des
Doppelspats, Dieses wird uns, wie man sich durch eine
Vorrichtung überzeugen kann, rein entgegengehoben und
erscheint an der Stelle des Grundbildes. Das Schatten-
bild b hingegen ist von demselben weg und zur Seite ge-
rückt, und zwar hier nach unserer Rechten, dies zeigen die
Ränder an, da die Bewegung von Hell über Dunkel blaue,
und von Dunkel über Hell gelbe Ränder hervorbringt.
Daß aber beide Schattenbilder, wenn man sie genugsam
von der Stelle rückt, an ihren Rändern gefärbt werden
können, dies läßt sich durch das höchst interessante See-
beckische Doppelspatprisma aufs deutlichste zeigen, in-
dem man dadurch Bilder von ziemUcher Größe völlig tren-
nen kann. Beide erscheinen gefärbt. Weil aber das eine
sich geschwinder entfernt, als das andere vom Platze rückt,
so hat jenes stärkere Ränder, die auch, bei weiterer Ent-
fernung des Beobachters, sich immer proportionierhch ver-
breitern. Genug, alles geschieht bei der Doppelrefraktion
nach den Gesetzen der einfachen, und wer hier nach be-
sonderen Eigenschaften des Lichts forscht, möchte wohl
schwerlich großen Vorteil gewinnen.
Insofern man Brechung und Spieglung mechanisch be-
trachten kann, so läßt sich auch gar wohl das Phänomen
desDoppelspatesmechanischbehandeln: denn es entspringt
aus einer mit Spieglung verbundenen Brechung. Hievon
gibt ein Stück Doppelspat, welches ich besitze, den schön-
sten Beweis; wie es denn auch alles Vorige bestätigt.
Wenn man den gewöhnlichen Doppelspat unmittelbar vors
Auge hält und sich von dem Bilde entfernt, so sieht man
das Doppelbild ohngefähr wie mans gesehn, als der Kalk-
spat unmittelbar darauf lag, nur lassen sich die farbigen
Ränder schwerer erkennen. Entfernt man sich weiter, so
tritt hinter jenem Doppelbild noch ein Doppelbild hervor.
Dies gilt aber nur, wenn man durch gewisse Stellen des
Doppelspats hindurchsieht.
Ein besonderes Stück aber dieses Minerals besitze ich,
welches ganz vorzügliche Eigenschaften hat. Legt man
438 CHROMATIK
nämlich das Auge unmittelbar auf den Doppelspat und
entfernt sich von dem Grundbilde, so treten gleich, wie
es auf der Tafel vorgestellt ist, zwei Seitenbilder rechts
und links hervor, welche, nach verschiedener Richtung
des Auges und des durchsichtigen Rhomben, bald einfach
wie in d^ bald doppelt wie in e und /erscheinen. Sie sind
noch schattenhafter, grauer als die Bilder ö, b^ sind aber,
weil Grau gegen Schwarz immer für hell gilt, nach dem
bekannten Gesetz der Bewegung eines hellen Bildes über
ein dunkles gefärbt, und zwar das zu unserer rechten Seite
nach der Norm von b (wodurch die Bewegung dieses letz-
tern Bildes nach der Rechten gleichfalls betätigt wird) und
das auf der linken Seite umgekehrt.
Der Beobachter kann, wenn er immer mehr von dem Ge-
genstandsbilde zurücktritt, die beiden Seitenbilder sehr
weit voneinander entfernen. Nehme ich bei Nacht ein bren-
nendesLichtundbetrachte dasselbe durch gedachtes Exem-
plar, so erscheint es gedoppelt, aber nicht merklich farbig.
Die beiden Seitenbilder sind auch sogleich da, und ich
habe sie bis auf fünf Fuß auseinander gebracht, beide stark
gefärbt nach dem Gesetze wie d und e, f.
Daß aber diese Seitenbilder nicht aus einer abgeleiteten
Spieglung des in dem Doppelspat erscheinenden ersten
Doppelbildes, sondern aus einer direkten Spieglung des
Grundbildes in die (wahrscheinlich diagonalen) Lamellen
des Doppelspats entstehen, läßt sich aus Folgendem ab-
nehmen.
Man bringe das Hauptbild und die beiden Seitenbilder
scheinbar weit genug auseinander, dann fahre man mit
einem Stückchen Pappe sachte an der untern Fläche herein,
so wird man erst das eine Seitenbild zudecken, dann wird
das mittlere und erst spät das letzte verschwinden, wor-
aus hervorzugehn scheint, daß die Seitenbilder unmittel-
bar von dem Grundbilde entspringen.
Sind diese Seitenbilder schon beobachtet.' Von meinen
Doppelspat- Exemplaren bringt sie nur eins hervor. Ich
erinnere mich nicht, woher ich es erhalten. Es hat aber
ein viel zarteres und feineres Ansehn als die übrigen; auch
ist ein vierter Durchgang der Blätter sehr deutlich zu sehn,
D.ENTOPT. FARBEN: WIRKG.D. DOPPELSPATS 439
welchen die Mineralogen den verstecktblättrigen nennen
(Lenz, Erkenntnislehre Bd. II, S. 748). Die zarten epopti-
schen Farben spielen wie ein Hauch durch die ganze Masse
und zeugen von der feinsten Trennung der Lamellen. Durch
ein Prisma von einem so gearteten Exemplar würde man die
bewundernswürdigste Fata Morgana vorstellen können.
Objektive Versuche damit anzustellen fehlte mir der Son-
nenschein.
Weimar, den 12, Januar 1813.
s. m.
G.
k.
440
CHROMATIK
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DIE ENTOPT. FARBEN: ELEMENTE 441
ELEMENTE DER ENTOPTISCHEN FARBEN
[Zur Naturwissenschaft überhaupt. Ersten Bandes erstes Heft. 181 7]
Apparat. Zweite Figur^
EINE Fläche a — zwei Spiegel, auf der Rückseite ge-
schwärzt, b^ c, gegen die Fläche in etwa 45 Graden
gerichtet. — Ein Glaswiirfel d, die entoptischen Farben dar-
zustellen geeignet. Und, in Ermanglung desselben, meh-
rere aufeinander geschichtete Glasplatten, durch eine
Hülse verbunden.
Versuche ohne den Würfel
Man stelle den Apparat so, daß das Licht in der Rich-
tung des Pfeils f auf die Tafel falle, so wird man den
Widerschein derselben in beiden Spiegeln gleich hell er-
blicken. Sodann bewege man den Apparat, damit das Licht
in der Richtung des Pfeils e hereinfalle, so wird der Wider-
schein der Tafel im Spiegel c merkhch heller als im Spie-
gel b sein. Fiele das Licht in der Richtung des Pfeils g
her, so würde das Umgekehrte stattfinden.
Versuche mit dem Würfel
Man setze nunmehr den Würfel ein, wie die Figur aus-
weist, so werden im ersten Fall völhg gleiche entoptische
Bilder, und zwar die weißen Kreuze zum Vorschein kom-
men, in den beiden andern aber die entgegengesetzten,
und zwar das weiße Kjreuz jederzeit in dem Spiegel, der
dem einfallenden Licht zugewendet ist und den unmittel-
baren Reflex des Hauptlichtes, des direkten Lichtes auf-
nimmt, in dem andern Spiegel aber das schwarze Kreuz,
weil zu diesem nur ein Seitenschein, eine oblique, ge-
schwächtere Reflexion gelangt.
Aus diesen reinen Elementen kann sich ein jeder alle ein-
zelne Vorkommenheiten der entoptischen Farben ent-
wickeln; doch sei eine erleichternde Auslegunghinzugefügt.
Wir setzen voraus, daß die Beobachtungen an einem ofiiien
Fenster einer sonst nicht weiter beleuchteten Stube ge-
schehen.
* Vgl. die zweite Figur auf Seite 440.
442 CHROMATIK
Überzeuge man sich nun vor allen Dingen, daß hier nur
das von der Tafel reflektierte Licht allein wirke, deshalb
verdecke man die Spiegel, sowie die Oberseite des Kubus
vor jedem andern heranscheinenden Lichte.
Man wechsle die Fläche der Tafel a nach Belieben ab und
nehme vorerst einen mit Quecksilber belegten Spiegel.
Hier wird nun auffallen, was jedermann weiß und zugibt:
daß das Licht nur dann bei der Reflexion verhältnismäßig
am stärksten wirke, wenn es immer in derselben Ebene
fortschreitet und, obgleichmehrmals reflektiert, dochimmer
der ursprünglichen Richtung treu bleibt und so vom Him-
mel zur Fläche, dann zum Spiegel, und zuletzt ins Auge
gelangt. Das Seitenlicht hingegen ist, in dem gegebenen
Falle, wegen der glatten Oberfläche ganz null, wir sehen
nur ein Finsteres.
Man bediene sich eines geglätteten schwarzen Papiers,
das direkte Licht, von der glänzenden Oberfläche dem
Spiegel mitgeteilt, erhellt ihn, die Seitenfläche hingegen
kann nur Finsternis bewirken.
Man nehme nun blendend weißes Papier, grauliches, blau-
liches, und vergleiche die beiden Widerscheine der Spie-
gel: in dem einen wird die Fläche a dunkeler als in dem
andern erscheinen.
Nun setze man den Würfel an seinen Platz, der helle Wider-
schein wird die helle Figur, der dunkele die dunklere her-
vorbringen. Hieraus folgt nun, daß ein gemäßigtes Licht
zu der Erscheinung nötig sei, und zwar ein mehr oder
weniger, in einem gewissen Gegensatze, gemäßigtes, um
die Doppelerscheinung zu bilden. Hier geschieht die Mäßi-
gung durch Reflexion.
Wir schreiten nun zu dem Apparat, der uns in den Stand
setzt, die Umkehrung jederzeit auffallend darzustellen,
wenn uns auch nur das mindeste Tageslicht zu Gebote
steht. Ein unterer Spiegel nehme das Himmelslicht direkt
auf, man vergleiche dieses reflektierte Licht mit dem grauen
Himmel, so wird es dunkeler als derselbe erscheinen; rich-
tet man nun den obern Spiegel parallel mit dem untern,
so erscheint das Himmelslicht in demselben abermals ge-
dämpfter. Wendet man aber den obern Spiegel übers Kreuz,
DIE ENTOPT. FARBEN: ELEMENTE 443
so wirkt diese, obgleich auch nur zweite Reflexion viel
schwächer als in jenem Falle, und es wird eine bedeutende
Verdunkelung zu bemerken sein: denn der Spiegel obli-
quiert das Licht, und es hat nicht mehr Energie als in
jenen Grundversuchen, wo es von der Seite her schien.
Ein zwischen beide Spiegel gestellter Kubus zeigt nun
deshalb das schwarze Kreuz; richtet man den zweiten obern
Spiegel wieder parallel, so ist das weiße Kreuz zu sehen.
Die Umkehrung durch Glimmerblättchen bewirkt, ist ganz
dieselbe. Fig. 3 [auf Seite 440].
Man stelle bei Nachtzeit eine brennende Kerze so, daß
das Bild der Flamme von dem untern Spiegel in den oberen
reflektiert wird, welcher parallel mit dem untern gestellt
ist, so wird man die Flamme aufrecht abgespiegelt sehen,
um nur weniges verdunkelt; wendet man den obern Spie-
gel zur Seite, so legt sich die Flamme horizontal und,
wie aus dem Vorhergehenden folgt, noch mehr verdüstert.
Führt man den obern Spiegel rundum, so steht die Flamme
bei der Richtung von neunzig Graden auf dem Kopfe, bei
der Seitenrichtung liegt sie horizontal, und bei der paral-
lelen ist sie wiederaufgerichtet, wechselsweise erhellt und
verdüstert; verschwinden aber wird sie nie. Hiervon kann
man sich völlig überzeugen, wenn man als untern Spiegel
einen mit Quecksilber belegten anwendet.
Diese Erscheinungen jedoch auf ihre Elemente zurück-
zuführen, war deshalb schwierig, weil in der Empirie man-
che Fälle eintreten, welche diese zart sich hin und her
bewegendenPhänomene schwankend und ungewißmachen.
Sie jedoch aus dem uns ofienbarten Grundgesetz abzu-
leiten und zu erklären, unternehme man, durch einen hellen
klaren Tag begünstigt, folgende Versuche.
An ein von der Sonne nicht beschienenes Fenster lege
man den geschwärzten Spiegel horizontal, und gegen die
Fläche desselben neige man die eine Seite des Kubus, in
einem Winkel von etwa 90 Graden, die Außenseite da-
gegen werde nach einem reinen blauen Himmel gerichtet,
und sogleich wird das schwarze oder weiße Kreuz mit
farbigen Umgebungen sich sehen lassen.
Bei unveränderter Lage dieses einfachen Apparats setze
444 CHROMATIK
man die Beobachtungen mehrere Stunden fort, und man
wird bemerken, daß, indem sich die Sonne am Himmel
hinbewegt, ohne jedoch weder Kubus noch Spiegel zu
bescheinen, das Kreuz zu schwanken anfängt, sich ver-
ändert und zuletzt in das entgegengesetzte mit umgekehrten
Farben sich verwandelt. Dieses Rätsel wird nur bei völlig
heiterm Himmel im Freien gelöst.
Man wende, bei Sonnenaufgang, den Apparat gegen
Westen, das schönste weiße Kreuz wird erscheinen; man
wende den Kubus gegen Süden und Norden, und das
schwarze Kreuz wird sich vollkommen abspiegeln. Und
so richtet sich nun dieser Wechsel den ganzen Tag über
nach jeder Sonnenstellung; die der Sonne entgegengesetzte
Himmelsgegend gibt immer das weiße Kreuz, weil sie das
direkte Licht reflektiert, die an der Seite hegenden Him-
melsgegenden geben das schwarze Kreuz, weil sie das
oblique Licht zurückwerfen. Zwischen den Hauptgegenden
ist die Erscheinung als Übergang schwankend.
Je höher die Sonne steigt, desto zweifelhafter wird das
schwarze Kreuz, weil bei hohem Sonnenstande der Seiten-
himmel beinahe direktes Licht reflektiert. Stünde die Sonne
im Zenit, im reinen blauen Äther, so müßte von allen
Seiten das weiße Kreuz erscheinen, weil das Himmels-
gewölbe von allen Seiten direktes Licht zurückwürfe.
Unser meist getrübter Atmosphärenzustand wird aber den
entscheidenden Hauptversuch seltenbegünstigen, mit desto
größerem Eifer fasse der Naturfreund die glücklichen Mo-
mente und belehre sich an hinderhchen und störenden
Zufälligkeiten,
Wie wir diese Erscheinungen, wenn sie sich bestätigen,
zugunsten unserer Farbenlehre deuten, kann Freunden
derselben nicht verborgen sein; was der Physik im ganzen
hieraus Gutes zuwüchse, werden wir uns mit Freuden an-
eignen.
Mit Dank haben wir jedoch sogleich zu erkennen, wie sehr
wir durch belehrende Unterhaltung, vorgezeigte Versuche,
mitgeteilten Apparat durch Herrn Geheimen Hofrat Voigt,
bei unserm Bemühen, in diesen Tagen gefördert worden.
Jena, den 8. Juni 1817.
DIE ENTOPTISCHEN FARBEN 445
ENTOPTISCHE FARBEN
[Zur Naturwissenschaft überhaupt. Ersten Bandes drittes Heft. 1820]
Ansprache
BEI diesem Geschäft erfuhr ich, wie mehrmals im Leben,
günstiges und ungünstiges Geschick, fördernd und hin-
dernd. Nun aber gelange, nach zwei Jahren, an demselben
Tage zu eben demselben Ort, wo ich, bei gleich heiterer
Atmosphäre, die entscheidenden Versuche nochmals wie-
derholen kann. Möge mir eine hinreichende Darstellung
gelingen, wozu ich mich wenigstens wohl zubereitet fühle.
Ich war indessen nicht müßig und habe immerfort versucht,
erprobt und eine Bedingung nach der andern ausgeforscht,
unter welchen die Erscheinung sich ofifenbaren möchte.
Hiebei muß ich aber jener Beihülfe dankbar anerkennend
gedenken, die mir von vorzüglichen wissenschaftlichen
Freunden bisher gegönnt worden. Ich erfreute mich des
besondern Anteils der Herren Döbereiner, Hegel, Körner,
Lenz, Roux, Schultz, Seebeck, Schweigger, Voigt. Durch
gründlich motivierten Beifall, warnende Bemerkungen,
Beitrag eingreifender Erfahrung, Mitteilung natürlicher,
Bereitung künstlicher Körper, durch Verbesserung und Be-
reicherung des Apparats und genauste Nachbildung der
Phänomene, wie sie sich steigern und Schritt vor Schritt
vermannigfaltigen, ward ich von ihrer Seite höchlich ge-
fördert. Von der meinen verfehlte ich nicht die Versuche
fleißig zu wiederholen, zu vereinfachen, zu vermannig-
falten, zu vergleichen, zu ordnen und zu verknüpfen. Und
nun wende ich mich zur Darstellung selbst, die auf viel-
fache Weise möglich wäre, sie aber gegenwärtig unter-
nehme, wie sie mir gerade zum Sinne paßt, früher oder
später wäre sie anders ausgefallen.
Freilich müßte sie mündlich geschehen bei Vorzeigung
aller Versuche, wovon die Rede ist, denn Wort und Zei-
chen sind nichts gegen sicheres, lebendiges Anschauen.
Möchte sich der Apparat, diese wichtigen Phänomene zu
vergegenwärtigen, einfach und zusammengesetzt durch
Tätigkeit geschickter Mechaniker von Tag zu Tag ver-
mehren.
446 CHROMATIK
Übrigens hoff ich, daß man meine Ansicht der Farben über-
haupt, besonders aber der physischen kenne: denn ich
schreibe Gegenwärtiges als einen meiner Farbenlehre sich
unmittelbar anschließenden Aufsatz, und zwar am Ende
der zweiten Abteilung, hinter dem 485. Paragraphen
[Seite 156 f.].
Tena, den 20. Tuli 1820.
G.
I
Woher benannt?
Die entoptischen Farben haben bei ihrer Entdeckung diesen
Namen erhalten nach Analogie der übrigen, mehr oder we-
niger bekannten und anerkannten physischen Farben, wie
wir solche in dem Entwurf zu einer allgemeinen Chroma-
tologie sorgfältig aufgeführt. Wir zeigten nämhch daselbst
zuerst dioptnscheY?it\iQW ohne Refraktion, die aus der reinen
Trübe entspringen; dioptrische mit Refraktion, die pris-
matischen nämlich, bei welchen zur Brechung sich noch
die Begrenzung eines Bildes nötig macht; kaioptrische, die
auf der Oberfläche der Körper durch Spiegelung sich zei-
gen; paroptische, welche sich zu dem Schatten der Körper
gesellen; epoptische, d